Eigentlich waren und sind es zwei Prinzipien, welche die Theologie (der Befreiung) als „gefährlich“ erscheinen ließen: sie überwindet den frommen „Himmel“ individueller Innerlichkeit, und sie erachtet die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Gestaltung der Welt als eine genuin religiöse Aufgabe. Das erste Prinzip hat Konflikte mit einer traditionellen Theologie und Kirchenauffassung, das zweite mit dem Kapitalismus und dessen Steigbügelhaltern nach sich gezogen.
Fälschlicherweise meint man oft, es sei die Befreiungstheologie selber, die befreit. Es ist aber die göttliche Botschaft vom „Leben in Fülle“, die durch die Menschen befreiend in den jeweiligen Kontexten (wie in einem Gefängnis) Raum bekommt. Bis hin zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) galten die Kirchen und theologischen Fakultäten des „Südens“ (der so genannten Dritten Welt) als Befehlsempfänger und brave Musterschüler der im „entwickelten Norden“ (oder „Ersten Welt“) ausgedachten Neuerungen und Standards. Seien es scholastische, liberale oder historisch-kritische Ansätze, sie alle wurden von den meistens in Rom oder München promovierten Theologen Indiens, Nigerias oder Chiles diskussionslos geschluckt, wenn auch nicht immer gleichermassen verdaut.
Die Entdeckung der „Ortskirchen“ bedeutete zugleich das Aufwachen der so genannten „Jungen Kirchen“ des „Südens“ aus ihrem „dogmatischen Schlaf“; mit der zweiten Gesamtkonferenz des lateinamerikanischen Episkopats in Medellín im Jahre 1968 erfolgte die Entdeckung der so genannten „Dritten Welt“ als theologisches Subjekt. Statt weiterhin eifersüchtig nach Europa und Nordamerika zu schielen, entwickeln Theologinnen und Theologen eigene Methoden, analysieren ihren eigenen Kontext als „theologischen Ort“ und legen einen theologischen Entwurf vor, der im Alten Kontinent Irritation oder gar heiligen Zorn weckt. Die weitere Entwicklung der mit dem Etikett „Befreiungstheologie“ versehenen Reflexion und Praxis lässt sich auf zwei Schienen weiter verfolgen: Zum einen die thematische und kontextuelle Differenzierung des „klassischen“ Ansatzes, und zum anderen die „Globalisierung“ der Befreiungstheologie, weit über den lateinamerikanischen Kontinent hinaus.
Ethik | Theologie
![](https://gefaengnisseelsorge.net/wp-content/uploads/2020/11/Bild-C-scaled-960x720.jpg)
Corona Präventionsparadox macht es schwer abzuwägen
Mitten in der zweiten Corona-Welle und mit den Erfahrungen der vergangenen Monate appelliert Bischof Dr. Franz-Josef Overbeck aus Essen, Vorsitzender der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz, an Gesellschaft, ...
![](https://gefaengnisseelsorge.net/wp-content/uploads/2019/05/Pr0086-960x720.jpg)
Der diakonische Dienst hinter den Mauern
Nach einer über 1000 Jahre langen Unterbrechung führt das Zweite Vatikanische Konzil den Diakonat als eigenständiges Amt wieder ein. Im Zuge dieser Wiedergeburt gründet sich 1965 das Internationale Diakonatszentrum (IDZ). Das IDZ veranstaltet ...
![](https://gefaengnisseelsorge.net/wp-content/uploads/2019/05/F078E887-9101-4883-8D4A-D8B326AF90B7-960x720.jpeg)
Die Welle ist das Meer. Tagung AG Jugendvollzug
Die mystische Erfahrung - die auch in der Geschichte des Christentums eine große, allerdings immer wieder verdrängte Rolle spielt - geht zurück hinter die Kluft zwischen Gott und Welt. Anschaulich beschreibt Willigis ...
![](https://gefaengnisseelsorge.net/wp-content/uploads/2022/01/F549143C-38C1-47E4-BA9C-562A5F5D1963-scaled-960x720.jpeg)
Der erste Tag im Jahr mit viel Bedeutung
Auf dem Tagesblatt des Abreißkalenders lesen wir am Neujahrstag: 1. Januar – Hochfest der Gottesmutter – Weltfriedenstag. Gemeint ist der erste Tag dieses Jahres 2022. Also nicht wie auf einem Siegertreppchen stehen, ...
![](https://gefaengnisseelsorge.net/wp-content/uploads/2018/08/20141114hs0257_L-960x720.jpg)
Vertrauen und Misstrauen im Gefängnis
Vertrauen ist gut. Denn es ist die Grundbedingung menschlichen Zusammenlebens – in persönlichen, sozialen, beruflichen und geschäftlichen Beziehungen. Freundschaft und Familie, Gesellschaft und Staat, Politik, Handel und Wirtschaft sind essentiell auf Vertrauen ...
![](https://gefaengnisseelsorge.net/wp-content/uploads/2024/12/imago788837598-960x720.jpg)
Heiliges Jahr 2025 verbunden mit dem Aspekt der Hoffnung
Dr.in Christine Drexler ist katholische Theologin in Österreich. Im Jahr 2006 hat sie ihre Promotion zum Thema "Im Gefängnis befreiend von Gott sprechen? Merkmale und Mechanismen eines disziplinären Systems als theologische Herausforderung" ...
![](https://gefaengnisseelsorge.net/wp-content/uploads/2023/04/IMG_6340-scaled-960x720.jpeg)
In unsere menschliche Seele schleicht sich vieles ein
Manches berührt uns mehr, manches weniger. Manches fasst uns mehr an, manches weniger. Wir sind nicht immer stabil genug, um uns selbst zu schützen. Mal sind wir mehr anfällig für Verletzungen, mal ...
![](https://gefaengnisseelsorge.net/wp-content/uploads/2020/10/30F7761D-9392-4ED4-A266-83E5D5E65035-scaled-960x720.jpeg)
Resozialisierung und gesellschaftliche Verantwortung
„Eine Gesellschaft ist dann anständig, wenn ihre Institutionen die Menschen nicht demütigen.“ (Margalit, 13) So beginnt der israelische Philosoph Avishai Margalit sein Buch „Decent Society“, zu Deutsch „Politik der Würde“. In einer ...
![](https://gefaengnisseelsorge.net/wp-content/uploads/2019/07/Magdalena-960x720.jpeg)
Magdalenische Sehnsucht und veraltete Kirchenregeln
Der Gedenktag der Schutzpatronin der Gefangenen, der Tag der heiligen Maria Magdalena (22. Juli) wurde durch Papst Franziskus in den Rang eines Festes erhoben. Mit dem neuen Sommer-Tonträger „Heartset Vibes“ („Aufs Herz ...
![](https://gefaengnisseelsorge.net/wp-content/uploads/2022/12/Wolken-regnet-ihn...fotoRupert-Koenig-scaled-960x720.jpg)
Münsteraner Lichtinstallation passt zu altem Adventlied
Betrat man im Advent 2021 in Münster die Kirche Liebfrauen-Überwasser, dann tauchte man ein in einen Regen von Farbsplittern. Über 2000 kleine bunte Acrylglas-Quadrate, an Nylonfäden von der Decke hängend, füllten das ...
![](https://gefaengnisseelsorge.net/wp-content/uploads/2019/07/Pr0089-960x720.jpg)
Sind Religionen ausschließlich Opium fürs Volk?
Anders als im Staatsbürgerkundeunterricht meiner Schulzeit lese ich diese Äußerung von Karl Marx heute etwas gelassener und differenzierter. Nein, nur ein plumper Betrug ist die Religion für ihn nicht. Derart verächtlich gemacht ...
![](https://gefaengnisseelsorge.net/wp-content/uploads/2020/06/5-Der-Spanner-scaled-960x720.jpg)
Pastorale Andersorte? Eine theologische Sprachkritik
Manche Begriffe haben eine merkwürdige Geschichte. Sie treten irgendwann einmal an die Oberfläche eines bestimmten Diskurses (vgl. Sander, 104, für die Begriffsgeschichte der pastoralen Andersorte), entwickeln dort ein Eigenleben, verändern je nach ...
![](https://gefaengnisseelsorge.net/wp-content/uploads/2018/11/Tür-960x720.jpg)
Warum ein Schlüssel im Justizvollzug ein sozialer Akteur ist
GefängnisseelsorgerInnen arbeiten hinter Gittern. Sie kennen sich aus an Orten der Ohnmacht. Und Orte der Ohnmacht sind zugleich Orte der Macht. Die einen dort müssen an den Orten bleiben, die anderen haben ...
![](https://gefaengnisseelsorge.net/wp-content/uploads/2023/09/imago0242115612h-scaled-960x720.jpg)
Drewermann: Durch Frieden bewahren wir uns selber
In seinem Buch "Nur durch Frieden bewahren wir uns selber" beklagt Eugen Drewermann die „Kumpanei“ der Kirchen mit den Kriegstreibern und plädiert für die Bergpredigt als Heilmittel gegen Angst und Gewalt. Sich ...
![](https://gefaengnisseelsorge.net/wp-content/uploads/2022/08/1A5C16C1-9C68-457A-BA57-9C060507A2ED-960x720.jpeg)
Ein Umdenken: Braucht Gott unsere menschliche Hilfe?
Sind wir als Glaubensgemeinschaft bereit für eine Gottsuche in dunkelster Zeit? Der Ukraine Krieg ist noch nicht zu Ende, soziale Ungerechtigkeit, der Klima-Wandel, Spannungen der Öl- und Gasindustrie und finanzielle Unsicherheit bewegen ...
![](https://gefaengnisseelsorge.net/wp-content/uploads/2021/05/Schwer-atmen-scaled-960x720.jpg)
„Uns geht die Puste aus.“ Atmen bedeutet Leben
Schon mehr als ein Jahr dauert die Corona-Krisenzeit. Sie betrifft den ganzen Globus und ist deshalb so bedrohlich, weil das Selbstverständlichste der Welt betroffen ist, nämlich das Atmen. Die Bilder aus Indien, ...
![](https://gefaengnisseelsorge.net/wp-content/uploads/2022/04/AdobeStock_384383571-scaled-960x720.jpeg)
Wie im Fall Petrus: Deine Sprache verrät Dich
"Deine Sprache verrät dich" sagen die Umstehenden zu Petrus, "Du bist entlarvt". Wir erinnern an die Geschichte in der Bibel bei der Verurteilung Jesu. Petrus verleugnet diesen Jesus je gekannt zu haben: ...
![](https://gefaengnisseelsorge.net/wp-content/uploads/2024/07/IMG_9710-scaled-960x720.jpeg)
Bringe das ein, was Du in Deinem Leben erkennst
Das ist wirklich der Prophet, der in die Welt kommen soll… Jesus hätte sich doch freuen können über diese Aussage der Menschen angesichts der Speisung der Vielen: Eine Ehrerbietung, eine Anerkennung, ein ...
Subjekte und Kontexte
War in der „klassischen“ Theologie der Befreiung (ca. 1965-1985) vom „Volk“ als Subjekt und theologischem Ort die Rede und galten die Sozialwissenschaften als die privilegierten Hilfsdisziplinen, so ändert sich dies paradoxerweise zeitgleich mit dem weltweiten Anschwellen der neoliberalen Welle (ab ca. 1985) und mit dem Fall der Berliner Mauer. Das eine politisch und wirtschaftlich gefasste Subjekt („Volk“) erhält weitere Merkmale wie Geschlecht, Hautfarbe, Kultur und Sprache. Die „Armen“ als privilegierte Subjekte des Heilshandelns Gottes werden historisch und kontextuell als Frauen, indigene Völker, Schwarze, Gefangene, kulturelle und sexuelle Minderheiten ausgemacht. Die Befreiungstheologie wird im Plural buchstabiert: es entstehen eine Reihe von unterschiedlichen „Befreiungstheologien“.
Es entstand zum Beispiel eine feministischen Befreiungstheologie, weil die Frauen und Mädchen nicht nur in Lateinamerika, sondern weltweit nach wie vor zu den ausgeschlossenen, diskriminierten und an den Rand gedrängten Menschen gehören. Es entstand aber auch eine indigene Theologie (in Lateinamerika „teología india“ oder „indianische Theologie“ genannt), weil die ursprünglichen Völker von Abya Yala (so die einheimische Bezeichnung für „Lateinamerika“) zu den vergessenen und verachteten Gruppierungen gehören. Es entstanden auch befreiungstheologische Ansätze aus den Perspektiven von Ökologie und Homosexualität, und nicht zuletzt eine afroamerikanische Theologie der schwarzen Minderheiten. In den USA entwickelte sich eine Latino-Theologie, welche die Situation der Hispanics (EinwanderInnen aus Lateinamerika) theologisch zu reflektieren begann.
Josef Esthermann