Nach den Corona-Beschränkungen kehren die Kirchen wieder zu dem zurück, was man in anderen Bereichen den „Normalbetrieb“ nennt. Die Feier von Gottesdiensten sind wieder erlaubt, wenngleich Anblick und Abläufe noch gewöhnungsbedürftig sind. Nach der Auszeit und Unterbrechung wieder einsteigen in den Alltag – geht das unverändert? Wie spürt man, wo Veränderung einsetzen kann? Ein Blick zurück in die verunsicherte Gemeinde im Johannesbrief der Bibel: „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden…“ (1 Joh 3,2)
Desinfektionsmittel statt Weihwasser am Eingang der Kirche. Gläubige mit Mundschutz und auf Abstand im gesamten Kirchenraum verteilt. Gedämpfter Klang der liturgischen Antworten und Wechselgebete, gesungen wird nicht. Handdesinfektion des Zelebranten vor der Kommunionausteilung und rührend anzusehender Kampf mit dem eigenen Mundschutz. Wird es neue Räume der Sammlung geben zwischen Abstand halten, Mundschutz tragen und Kommunionempfang? Oder wenigstens neue Routinen? Oder entsteht etwas ganz anderes?
Bei den gegenwärtigen Bildern und Erfahrungen kam mir unwillkürlich ein Satz aus dem ersten Johannesbrief in den Sinn, und er hat sich bei den Überlegungen zu diesem Artikel hartnäckig und stets wieder von neuem nach vorne gedrängt, im Ton der alten Lutherübersetzung meiner Jugendzeit: “Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden” [1], in der Übersetzung von Fridolin Stier: „Noch aber ist nicht zum Vorschein gekommen, was wir sein werden“ [2], oder auch in der Bibel in gerechter Sprache: »Aber was wir einst sein werden, ist noch nicht sichtbar“ [3] (1 Joh 3,2). Also: Was wird sichtbar werden hinter den Masken, Desinfektionsmittelspendern und Abstandsmarkern, dann, wenn diese Schutzmaßnahmen nicht mehr nötig sein werden? Das, was vor der Krise war? Oder etwas Neues, gewachsen in dieser Zwischenzeit?
Ein Satz für eine unübersichtliche Gegenwart
Ja, ich weiß: Der Satz ist in seinem literarischen Kontext eschatologisch gemeint, wenn auch, typisch für die johanneische Literatur, mit spannungsvollem Bezug zur Gegenwart. Er ist die Fortsetzung einer großen Zusage für die Gegenwart: “Geliebte, jetzt (schon) sind wir Kinder Gottes.” Das ist es, was die Glaubenden in der Gegenwart, »jetzt schon«, auszeichnet und würdigt, was ihre Identität ausmacht und sie trägt: Sie sind „Kinder Gottes“. Das ist für den Verfasser des Briefes „so etwas wie ein christlicher Hoheitstitel, ein Würdename, den alle Glaubenden voll Stolz tragen dürfen.“ [4]
In dieser Weise ausgezeichnet, schauen sie in die Zukunft, die eben noch nicht sichtbar ist, doch für die sie etwas ersehnen, was über den Zuspruch für die Gegenwart hinaus geht: Gott selbst zu schauen und dadurch ihm ähnlich zu werden. Ein aufregender Gedanke: Dass die gegenwärtige irdische Existenz – als Gotteskinder – in eine neue, ganz von Gott bestimmte Wirklichkeit – in „Gottähnlichkeit“ – verwandelt wird. Dies ist den Glaubenden verheißen (vgl. 1 Joh 2,25). Was das bedeutet, ist jetzt allerdings noch nicht sichtbar.
Der Satz gehört in eine Situation, die für die johanneische Gemeinde alles andere als einfach war. Der erste Johannesbrief lässt erkennen, dass es zu einer folgenreichen Spaltung gekommen ist (1 Joh 2,19). Das hinterließ tiefe Verunsicherungen: Stand man denn noch auf der “richtigen” Seite, oder hatten die anderen, die gegangen sind, vielleicht doch Recht? Demgegenüber versucht der Brief die verbliebene Gemeinde zum Bleiben zu motivieren. Er wird nicht müde, den Glaubenden vor Augen zu führen, was sie auszeichnet, sie, die Gott erkannt haben und seine Kinder sind und deshalb auch tun, was in seinem Sinne ist. Vor allem sind sie ausgestattet mit einer „Salbung“, und das hat Folgen: „Die Salbung, die ihr vom Lebendigen empfangen habt, bleibt in euch, und ihr habt es nicht nötig, belehrt zu werden. Sondern wie diese Salbung euch über alles belehrt, so ist es wahr und nicht gelogen.“ [5] (1 Joh 2,27).
Interessante Rollenmodelle bei Johannes
Diese “Salbung” nimmt Bezug auf eine Szene am Schluss des Johannesevangeliums (Joh 20,19–23). Da erscheint der Auferstandene den verschreckten JüngerInnen, die sich hinter verschlossenen Türen zusammenducken, wünscht ihnen Frieden und sendet sie aus – so, wie auch er von Gott gesandt worden war. Zur Bestärkung bläst er sie an und übergibt ihnen die Heilige Geistkraft. Dies ist nichts anderes als eine pfingstliche Szene: Die verängstigte Jüngergruppe wird mit der Geistkraft ausgestattet. Ihre Angst wandelt sich in Freude. Anders als in der Pfingsterzählung der Apostelgeschichte (Apg 2) ist dies im Johannesevangelium mit einer direkten Begegnung mit dem Auferstandenen verbunden, der die JüngerInnen aussendet und mit der Vollmacht zur Sündenvergebung ausstattet.
Dies prägt das Selbstverständnis und auch das Selbstbewusstsein der johanneischen Gemeinde grundlegend. Nach einem Wort Jesu aus den Abschiedsreden verstehen sie die Gemeinschaft in seinem Namen als Kreis seiner FreundInnen, die auch untereinander FreundInnen sind (Joh 15,15). Ausgestattet mit der Heiligen Geistkraft, der “Salbung”, brauchen sie keine weitere Belehrung (1 Joh 2,27). Entsprechend skeptisch ist die johanneische Gemeinschaft gegenüber jeglichen Ämtern. Hirte ist allein Jesus Christus, zu dem die Glaubenden in direkter Beziehung stehen (Joh 10,11–16). Die Bildrede vom Weinstock und den Reben (Joh 15,1–8) betont diese direkte Christusbeziehung ebenso wie die johanneische Variante der Brotvermehrungserzählung, die Jesus selbst – ohne Zwischenschaltung der Zwölf wie bei den Synoptikern – das Brot austeilen lässt (Joh 6,1–15).
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die johanneische Gemeinde in vielerlei Hinsicht eigenständige Wege gegangen ist. Das beginnt bei ihrem ganz eigenen Christuszeugnis, das sich von den Synoptikern deutlich unterscheidet, und es endet noch nicht bei den interessanten Rollenmodellen für Frauen, die im Johannesevangelium sichtbar werden. So ist es für das Johannesevangelium offenbar ohne Probleme vorstellbar, dass eine Frau Jesus in theologische Gespräche verwickelt und auf diese Weise selbst immer tiefer versteht, wer er ist. Und dass diese Frau zur Verkünderin Jesu in ihrer samaritanischen Dorfgemeinschaft wird (Joh 4).
Das zentrale Bekenntnis zu Jesus als Messias, das nach den Synoptikern Petrus an herausgehobener Stelle spricht (Mk 8,29 par), wird im Johannesevangelium einer Frau, Marta, in den Mund gelegt (Joh 11,27). Die erste Begegnung mit dem Auferstandenen wird nach dem Johannesevangelium Maria aus Magdala zuteil, die, vom Auferstandenen beauftragt, zur Verkünderin der Osterbotschaft wird (Joh 20,1.11–18), zur “Apostelin der Apostel”.
Eine Zukunft, die offen ist für Überraschungen
Nach diesem Ausflug in die johanneische Gemeinde will ich nun nochmals bei meinem Anfangssatz ansetzen: „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden.“ Er ist entstanden in einer Gemeinde, deren Mitglieder sich als TrägerInnen der Geistkraft verstanden, ausgestattet vom Auferstandenen selbst, gewürdigt als seine Freundinnen und Freunde. In dieser Vollmacht gingen sie eigenständige Wege, um das Wirklichkeit werden zu lassen, was sie an der Christusbotschaft zentral fanden. Dass in einer solchen Gemeinschaft von unbelehrbaren Geistträgerinnen und Geistträgern auch Konflikte nicht ausbleiben konnten, belegen spätestens die drei Johannesbriefe. Aber inmitten dieser Zerreißproben hielten sie an ihrer Würde als geistbegabte Kinder Gottes fest – und sie wussten sich ausgerichtet auf eine Zukunft, in der eben noch nicht alles festgelegt, sondern die noch für Überraschungen offen war.
An diesem Punkt spricht der Satz auch wieder in unsere Gegenwart. Die Pandemie hat viele Selbstverständlichkeiten wegbrechen lassen. An vielen Orten entstanden in ungeahnter Kreativität neue Formen des Kircheseins. In den wiedereröffneten Räumen bewegen wir uns noch tastend, als wären wir noch nicht wieder angekommen. Es ist immer noch eine Zwischenzeit. Damit diese auch zu einer Chance für eine zukunftsfähige Neugestaltung wird, gilt es, die Würde und Geistbegabung aller Getauften ernstzunehmen, wie sie nicht nur für die johanneische Gemeinde, sondern auch für Paulus zentral sind.
Was wird erscheinen, dann, nach der Zwischenzeit?
Was wird es also sein, was entsteht? Wie aus längst vergangenen Zeiten klingen Worte wie „Reformprozess“ oder „Synodaler Weg“ in unsere Tage herüber. Könnte die erfahrene Unterbrechung aller Selbstverständlichkeiten jetzt ein Katalysator für eine ernsthafte Neugestaltung sein? Etliche Gemeinden zögern, zu den gewohnten Eucharistiefeiern zurückzukehren und wollen das gegenwärtige eucharistische Fasten lieber als Denkpause nutzen. Die Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands (kfd) fordert die Zulassung von nichtgeweihten Frauen und Männern zur Predigt auch in Eucharistiefeiern. Am 18. Mai fand der erste Predigerinnentag in Deutschland statt. In der Schweiz und weltweit unterstützen Frauen und Männer in der Junia-Initiative die sakramentale Sendung von Frauen*. In Frankreich bewirbt sich die Theologin Anne Soupa auf die Leitungsstelle des Erzbistums Lyon. Weltweit schließen sich Frauen als „Voices of Faith“ zusammen und fordern eine katholische Kirche, die von Frauen in gleichberechtigter Weise mitgestaltet und geleitet wird.
Prof. Dr. Sabine Bieberstein lehrt Altes und Neues Testament und Biblische Didaktik an der Fakultät für Religionspädagogik und Kirchliche Bildungsarbeit
der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt | feinschwarz.net
[1] Die Bibel (…) nach der Übersetzung Martin Luthers. Revidierter Text (1956), Stuttgart 1973.
[2] Das Neue Testament. Übersetzt von Fridolin Stier, aus dem Nachlass herausgegeben von Eleonore Beck, Gabriele Miller und Eugen Sitarz, München / Düsseldort 1989.
[3] Bibel in gerechter Sprache, herausgegeben von Ulrike Bail und anderen, Gütersloh 2006.
[4] Hans-Josef Klauck, Der erste Johannesbrief (EKK XXIII/1), Zürich / Neukirchen-Vluyn 1991, 180.
[5] Bibel in gerechter Sprache (s. Anm. 3).