„Welchen Wert die Gefängnisseelsorge für den Strafvollzug hat und wie sehr sie ihn bereichert, ließe sich wohl erst ermessen, wenn sämtliche Anstrengungen der Gefängnisseelsorge wegfielen“, so die Quintessenz dieser umfangreichen am Institut für Kriminologie der Universität Tübingen vorgelegten Dissertation. Das mag untertrieben sein, wenn man sich die Mühe gemacht hat, diese Arbeit zu lesen. Eine Mühe freilich, die sich lohnt.
Der Autor hat Recht, denn Gefängnisseelsorge wird, medial ohnehin zu wenig beachtet, in ihrer inhaltlichen Breite und Ausgestaltung oft falsch eingeschätzt. Sie leistet weitaus mehr als gemeinhin wahrgenommen. Was genau, gelingt dem Autor systematisch, detailliert und umfangreich darzustellen. Die Arbeit gliedert sich nach einer Einleitung (1.) in drei große Kapitel: „Entwicklung der Gefängnisseelsorge im Gefüge des Strafvollzugrechts“ (2.), „Der Zweck weltlicher Strafe und das Ziel des Strafvollzuges“ (3.), „Die praktische Tätigkeit der Gefängnisseelsorge“ (4.), manchmal zu detailliert mit vielen Paragraphen und Zahlen. Für die Zusammenfassungen am Ende der einzelnen Kapitel sowie die abschließende Schlussbetrachtung (5.) darf man dankbar sein. Diese lassen sich sehr leicht lesen und verschaffen Seelsorgern einen rechtlichen und Juristen einen bibelmoral – und pastoraltheologischen Durchblick – eine gute Grundlage für interprofessionelle Gespräche und ein besseres Verständnis füreinander.
Entwicklung der Gefängnisseelsorge
Im 2. Kapitel wird die Entwicklung der Gefängnisseelsorge einschließlich ihrer rechtlichen Grundlagen von ihren Anfängen in der Antike bis ins 19. Jahrhundert nachgezeichnet, in der sie zunehmend Gestalt gewinnt: weg von einer eher erzieherischen, moralisierenden Funktion (auch) im Dienst der Justiz, hin zu einer persönlichen beziehungsstiftenden Seelsorge, die den einzelnen Strafgefangenen im Blick hat. Dass in diesem Teil die geschichtliche Entwicklung und der rechtliche Rahmen der Gefängnisseelsorge in Baden-Württemberg einen Schwerpunkt bildet, ist dem Ort der Abgabe der Dissertation geschuldet, muss aber Leser aus anderen Bundesländern nicht stören. Denn aus den landesspezifischen gesetzlichen Regelungen lassen sich durchaus Rückschlüsse auf die des eigenen Bundeslandes ziehen, und die verfassungsrechtlichen Ausführungen gelten ohnehin und lohnen sich nachzuschlagen – auch deshalb, weil sie aktuell sind und in Streitfragen hilfreich sein können. Und das ist die gesamte Arbeit, in der die Gefängnisseelsorge durchwegs positiv bewertet und in der diese Unterstützung finden kann.
Theologiegeschichtlicher Überblick
Im 3. Kapitel wagt sich der Jurist mittels umfangreicher Literaturrecherchen in ein bibel- und moraltheologisches Feld, referiert Strafzwecke und Strafziele und vermittelt hierüber einen sehr guten theologiegeschichtlichen Überblick bis hin zu kirchlichen Dokumenten beider großen Kirchen der jüngsten Zeit und vergleicht diese mit den Ergebnissen seiner empirischen Untersuchung unter deutschen Gefängnisseelsorgern. Ein Kapitel, das eigens vorzustellen sich lohnen würde, denn der Untersuchungsgegenstand „Einschätzungen der Gefängnisseelsorger zum Stellenwert und zur Lage der Gefängnisseelsorge“ berührt m.E. eine der Kernfragen bezüglich der ethischen Bewertung von Strafe im Allgemein und Freiheitsentzug im Besonderen.
Praktische Tätigkeitsfelder
Die empirische Untersuchung bildet schließlich die Grundlage für das umfangreichste 4. Kapitel über „die praktische Tätigkeit der Gefängnisseelsorge“. Hier beschreibt er „theologische Grundlagen“, „Konzepte“, „Tätigkeiten“. Man mag es bedauern, dass Funsch lediglich ca. 25 % der Gefängnisseelsorger für diese Untersuchung gewinnen konnte. Dennoch ist das Ergebnis dieser Dissertation ein großer Gewinn: nicht nur für Seelsorger, sondern für alle im Strafvollzug Tätigen, insbesondere in Leitungspositionen. Denn die Zahlen allein machen den Wert der Arbeit nicht aus. Der liegt vielmehr darin, dass das gesamte Spektrum der Gefängnisseelsorge, angefangen von ihren bibeltheologischen Grundlagen über die persönliche Motivation der Befragten, ihre Vorstellungen zu Zweck und Ziel von Strafen bis zu den konkreten Tätigkeitsfeldern einschließlich deren Gewichtung und zeitliche Bemessung beleuchtet wird.
Damit wird diese Veröffentlichung fast zu einem Leitfaden zur Gefängnisseelsorge bzw. zu einem Gerüst, die eigene berufliche Tätigkeit zu reflektieren und neue Anregungen zu gewinnen. Den Praktiker abschrecken könnten die 618 Seiten und der Preis, der sich im Verhältnis zu Umfang und Inhalt freilich relativiert. Und dennoch gehört das Buch in jede JVA. Es ist empfehlenswert für Seelsorger aller Konfessionen und für Anstaltsleiter, denen es sowohl juristisch wie auch theologisch wertvolle Erkenntnisse vermitteln kann.
Ein Anhang rundet das Buch ab. Anhang A dokumentiert den umfangreichen Fragebogen und Anhang B gibt die entscheidenden Gesetzestexte und sonstigen Vorschriften seit 1845 wieder. Mit einem 34seitigen Literaturverzeichnis, das allein schon zu lesen lohnt, schließt das Buch. Man wird darin sicher auch den einen oder anderen handwerklichen Fehler finden können, wenn man nur will. An seinem Wert wird das m.E. jedoch nichts ändern.
Dr. Simeon Reininger | JVA Meppen