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Befreiende Theologie: Wie ich der wurde, den ich mag

19. Oktober 2023

Pierre Stutz bei seiner Buchvorstellung im Kulturzentrum der Lagerhalle in Osnabrück am 22. Oktober 2023 zusammen mit der Moderatorin Annie Heger. 

Zu seinem 70. Geburtstag hält der Autor, Theologe, ehemaliger Ordensmann und Priester, Pierre Stutz, eine Rückschau auf sein Leben und veröffentlicht seine Autobiografie. In s/einer alltagstauglichen Sprache mit geerdeter Spiritualität entwickelt sich ein „Roter-Faden-Lebensweg-Buch“, fesselnd, faszinierend, schmerzlich und befreiend für Menschen auf der Suche. Echte Dankbarkeit ermutigt zum ureigenen Weg, bei „sich selbst zu Hause zu sein“, so der Autor.

Es ist s/eine sehr bewegende, sprich „auf-den-eigenen-Liebes-Lebens-Weg-bringende“ Geschichte. Es geht um befreiende Selbstakzeptanz. In den sehr persönlich beschriebenen Krisen- und Wendepunkten seines Lebens wird ihm klar, wie der Autor selber sagt, dass nur ein persönlich gestalteter Glaube Halt und Geborgenheit gibt. Nicht in krank machenden Mustern stecken bleiben bedeutet, eines Tages in Freiheit das innere kleine Kind, das auf ihn, auf uns wartet, liebevoll und authentisch zu umarmen.

Unterwegs daheim

Angefangen von seiner Geburt 1953 in der Schweiz, seine Familie und Geschwister beschreibend, würdigt er seine ganz ur-eigene Geschichte dem Beginn seines Lebens. Es folgt sein kirchlich geprägter Weg in der Jugend hin zum Ordenseintritt der Christlichen Schulbrüder (Frèresa des écoles chrétiennes ou Lasallien). Als Jugendseelsorger und Dozent mit sozialtherapeutischer Rollenspiel-Ausbildung sowie weiteren professionellen Erfahrungen, beflügeln seine Rolle als echter Seelsorger für die Menschen. Die Gründung eines offenen Klosters von Frauen und Männern, verheiratet oder nicht, die miteinander nach einer Spiritualität im Alltag suchen, prägen sehnsüchtig eine Spiritualität, die er schon im Jugendalter außerhalb von Glaubenssystemen einer vereinnahmenden Glaubensgemeinschaft beschreibt. Ein „Unterwegs-daheim“ prägt sein „in-die-WEITE-Gehen“. Und trotzdem fühlt sich Stutz immer mehr eingeengt und einsam.

Weg des kritischen Geistes

Nach 17 Jahren als katholischer Jugendseelsorger und Leiter des offenen Klosters legt Stutz 2002 sein Priesteramt nieder. Zu groß ist sein Burn-out und sein Versteckspiel. Er zieht nach Lausanne. Erst später lernt er seinen Lebensgefährten Harald Weß kennen. 2018 heiraten sie offiziell und leben heute in Osnabrück. Stutz´s persönliche Suche ist ein Ausdruck für viele Menschen, die inner-oder-außerhalb einer Konfession nach einer jeweils eigenen Mystik, einer ur-eigenen Spiritualität im Alltag suchen. 49 Jahre, sagt er, musste er mühevoll lernen zu wagen, sich selbst zu „outen“. Sein Zuspruch: Wir sind immer schon bewohnt von einer göttlichen Liebe, die uns meint, so wie wir vom Ursprung her sein dürfen. Der WEG des Autors beschreibt einen kritischen Geist, der sich immer wieder auflehnt gegen jede Art „lebensblockierender Glaubenssätze“. Diese, so Pierre, hindern ihn, zunächst jahrelang unbewusst, an seiner echten Persönlichkeitsentwicklung. Über viele Etappen und Kapitel seines spannenden Lebens beschreibt er in einer zeitgemäßen sehr an-mutigen, von einer Spiritualität im Alltäglichen geprägten Sprache, dass es nie zu spät ist, so zu sein, wie wir gemeint sind, geborgen und frei.

Inspirierende befreiende Theologie

Als Sinn- und Gottes-Sucher nimmt er die LeserInnen mit auf seinen spannenden Weg. Angefangen vom Messdiener, kirchlich geprägter Jugendzeit, Ordenseintritt, Internoviziat, eigener Gründung eines weltoffenen Klosters entlarvt er seinen eigenen Irrtum: „Mal kurz katholische Kirche verändern“ zu können. Kampf und Kontemplation, die ökumenische Brüderschaft Taizé, Roger Schütz, und viele HerzensfreundInnen wie Dorothee Sölle sind inspirierende Begegnungen, die ihn begleiten und in die Weite führen, die er sucht. Im Anstoß nehmen des männlichen Sprachgebrauchs wie „Herr, unser Vater, allmächtiger Gott“ entlarvt er diejenigen, die durch ihre Sprache verdeutlichen „Wes-Geistes-Kind“ sie sind. Der Wort-Ursprung von Religion = re-liguere, als eine Rückverbindung, ein Aufgehoben-sein in einem größeren Ganzen, wird ihm zur befreienden Theologie. Als „unheilbar religiös“ zitiert er den dänischen Theologen Sören Kierkegaard (1813-1855), als eine Urbefindlichkeit, die tief in einen jeden Menschen angelegt ist. Religion ist und bleibt für ihn vor allem eine Frage der LIEBE. Durch eine tiefe Depression hindurch spürt er, das er selbst den zweiten Teil des Satzes „Liebe deinen Nächsten… wie dich selbst“, stets ausgeklammert hatte. Jetzt kommt er zu einer neuen Wortgewichtung und er nennt es einen wunderbaren Dreiklang der Selbst-Nächsten- und Gottesliebe. Am Puls des Lebens sich entlang suchend, blickt Pierre zurück in sein privates Umfeld, seiner Kindheit und der ersten Sozialisation im Elternhaus mit seinen Geschwistern. Das Problem der Sprachlosigkeit in der Kommunikation mit seinem Vater, in der gemeinsam durchlebten Trauer um den Tod der Mutter. Therapeutische Hilfe suchend, um im familiären vermeintlich sprachlosen Kontext eine adäquate Kommunikation zu finden.

Kleinen Peter nicht mehr einschließen

Bis zu seinem Coming-Out beschreibt der Autor schmerzvolle Auszeiten, für-wahr-nehmen seines immer grösser werdenden Leidensdrucks, himmelschreiende Missstände aufspürend in dieser Katholischen  Kirche. Schmerzvolle Geburtswehen erwarten ihn, wie er es nennt, als er erkennt „ich möchte einen Mann lieben und geliebt werden.“ Den „kleinen Peter“ nicht mehr ins Verlies einschließen. Sein Herzenswunsch, als gay Mann angenommen zu werden, führt in diese seine neue Geburt, in der liebenden Hoffnung, dass sich das Göttliche weiter in ihm neu gebiert. Nach seinem inneren Coming-out beschreibt er schwere Zeiten bis zur endgültigen Niederlegung seines Priesteramtes. „Altes trägt nicht mehr. Ein Zurück ist nicht möglich – das NEUE liegt in weiter Ferne, unsichtbar“. Auch hier nimmt er die auf dem Lebensweg-Suchenden Menschen mit in eine sehr persönliche, intime und beim Lesen das eigene Leben sehr be-reich-ernde Welt. Eine zeitgemäße, generations- und konfessions-übersteigende Sprachwirklichkeit wird im Buch zum ganz persönlichen Lebens- und Wegbegleiter der Lesenden. Wegweisend, die göttliche Spur in uns selber zu entdecken: „Verlier die Angst vor Deiner Größe! Raus aus der Opferrolle! Geh in deine eigene Kraft. Es ist nie zu spät, so zu werden, wie wir gemeint sind, geborgen und frei.“

Ein sehr langer Weg

Schon auf den ersten Seiten des Buches redet Stutz von Dankbarkeit für sein Leben. Er distanziert sich jedoch von einer krankmachenden Dankbarkeit, „in der Menschen sich im schlimmsten Fall lebenslang entschuldigen, dass sie hier sind, weil sie ja ewig dankbar sein müssen“, so der spirituelle Autor. Echte Dankbarkeit ermutigt zum ureigenen Weg, bei „sich selbst zu Hause zu sein“. Doch das ist leichter gesagt als getan. Einmal sagt Pierre Stutz, „er müsse nicht mehr in die Hölle, er komme selber aus der Hölle“. Ein unendlich langer Weg zu sich selbst zu stehen und seine Gefühle ernst zu nehmen. Dies besonders entgegen aller Konventionen und dem „inneren Gefängnisdirektor“.Ob sich Pierre Stutz jetzt wirklich gerne mag? Ich mag Pommes, Currywurst und Schnitzel, aber sich selbst mit seiner eigenen Biografie, Familiengeschichte und sexuellen Präferenz anzunehmen, ist eine andere Größe. Können aus schmerzhaften Erfahrungen Stärken erwachsen, die sonst nicht zum tragen gekommen wären? Pierre Stutz sagt Ja! Er ist aus seinem inneren Gefängnis der Angst herausgetreten. Die Lesenden spiegeln sich sicher mit ihrer je eigenen Geschichte wieder…

Angelika Hartmann | Michael King

 

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