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Frauengefängnis: Vom Stürzen und Wiederaufstehen

21. April 2024

Schon die ersten beiden Kapitel des Buches der Autorin Anna Badora lassen den Lesenden nicht mehr los. Wie kann es dazu kommen, dass eine starke Frau ihren Lebensgefährten auf der Motorhaube fahrend auf der Autobahn einfach abschüttelt? Wie kann es sein, dass eine liebende Mutter ihre behinderte und manches Mal aggressive Tochter beim „Piratenspiel“ im Keller erstickt? „Sie kommen oft aus der Mitte der Gesellschaft, aus Familien, die Kriminalität sonst nur aus dem Tatort oder Netflix-Serien kennen“, schreibt die Autorin im Vorwort. Geht es um Geschichten inhaftierter Frauen, die falsche Entscheidungen getroffen, den falschen Mann geheiratet und plötzlich nahezu ohne Vorwarnung ihr Leben in Trümmern vorgefunden haben? Mit einfachen Sätzen lässt sich dies nicht beantworten.

Es sind abgründige Taten, die Frauen hinter Gittern gebracht haben. Sie wurden von Gerichten und Gutachtern in einem hoffentlich fairen Verfahren verurteilt. Manches Mal sind die Zwischentöne im Vorfeld der Tat nicht gewürdigt worden, die die Frauen aus ihrem Leben mitbringen. Die Autorin Anna Badora interviewt Frauen in den Justizvollzugsanstalten Willich, Köln-Ossendorf, Dinslaken und die österreichische Justizanstalt Schwarzau. Sie gibt brillant wieder, was die Gefangenen ihr erzählen. Ohne Schnörkel und mit einem großen offenen Ohr für die Aussagen „dazwischen“. Das Drangsalieren in Eifersuchtstragödien oder das nervige Verhalten der Tochter führt am Ende zu handgreiflichen Auseinandersetzungen. Könnte dies jedem Menschen widerfahren? Schlummern abgrundtiefe Dunkelheiten in jedem Menschen? Mit Alkohol und Tabletten und entsprechenden Lebenserfahrungen aus der Kindheit entsteht ein Mix, der aus dem Ruder laufen kann. Im Lesen der Geschichten mag man sich auf die Seite der Verurteilten schlagen. „Es ist ja klar, dass so etwas passieren muss mit dieser Lebensgeschichte“, so oder so ähnlich sind die Impulse beim Lesen. Dies heißt aber nicht, die Taten damit zu entschuldigen oder klein zu reden.

Interviews von Anna Badora. Foto: Imago

Resozialisierung gelingt nur partiell

In meiner Erfahrung als Gefängnisseelsorger begegnen mir Straffällige, die keine eindeutigen Erklärungen haben, wie es zu „ihrem“ Verbrechen kommen konnte. „Das war der Teufel in mir“, sagt ein Inhaftierter. Dass ich selbst daran beteiligt bin und nicht eine fremde Macht, darauf kommen Menschen im Erzählen ihrer je eigenen Version. Dass eine Haftstrafe als Konsequenz von Straftaten nicht unmittelbar dazu führt, dass Reue und Umkehr möglich sind, zeigen die Erzählungen deutlich. Die Realität in einem Frauengefängnis mit den Abläufen und Strukturen erzeugen mehr Nebenwirkungen, als dass sie zur Resozialisierung beitragen kann. Die Haftsituation wird von einer Frau so beschrieben: „Eine völlig neue Erfahrung, mit sich selbst allein zu sein, stundenlang, tagelang, ohne jegliche Ablenkung“, schreibt sie in ihr Tagebuch. Ist dies Bestandteil des Strafens? Hauptsache wenig Privilegien und zurückgeworfen auf sich selbst? Ein moderner Strafvollzug hat das Ziel der Resozialisierung, das heißt der Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Nach den Berichten der inhaftierten Frauen gelingt dies nur partiell.

Drehbuchreife Erzählungen des Lebens

Die Geständnisse aus dem Frauengefängnis von Anna Badora hat die Größe als Drehbuch für die Kriminalreihe von Ferdinand von Schirach zum Thema „Schuld“ zu dienen. Es ist nach Verbrechen der zweite Erzählungsband Schirachs, der verfilmt wurde. Moritz Bleibtreu spielt die Hauptrolle des Strafverteidigers Friedrich Kronberg, der mit besonderen Kriminalfällen befasst ist. Filme schreiben vom Leben ab. „Vom stürzen und wiederaufstehen“ gibt genug Stoff, daraus Filme zu produzieren. Vor dem inneren Auge kann der Lesende seinen eigenen Film in Gedanken abspielen lassen. Viele kleinen Dinge kann jede und jeder aus seinem Leben erzählen, die schief laufen. Vielleicht wäre ich damit straffällig geworden?

Hintergrundinformationen von Fachleuten

Am Ende des Buches gibt es Hintergrundkommentare von Fachleuten. Die leitende Regierungsdirektorin der Justizvollzugsanstalt Düsseldorf, Beate Peters, sagt: „Die unterschiedlichen Biografien der Frauen zeigen, dass es in jedem Einzelfall Menschen sind, die – aus welchen Gründen auch immer – eine Straftat begangen haben. Die Geschichten werden erzählt, um aufzuzeigen, wie leicht Situationen entstehen können, die zu einem Desaster führen – immer für die Opfer, aber eben auch für die Täterinnen“, schreibt die Anstaltsleiterin. Der Gefangenenseelsorger der Justizanstalt Josefstadt in Wien, Dr. Christian Kuhn, äusserts sich zum Thema Schuld: „Wie weit man sich jemanden subjektiv, also ganz persönlich, schuldig gemacht hat, kann kein anderer Mensch wirklich ermessen. […] Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn ich das Schicksal des oder der anderen gehabt hätte? […] Die Gefängnismauer ist nicht notwendig die Grenze zwischen den Guten und den Bösen“, gibt der ehemalige Gefängnisseelsorger zu Protokoll.

Schmerzhaftes Lernen oder hadern

Das Gefängnis ist ein Ort, in dem die „bösen Anderen“ sitzen. Manche der Frauen sagen, dass sie froh sind ins Gefängnis gekommen zu sein, denn „hier bin ich frei geworden“, so die widersprüchliche Aussage einer Inhaftierten. Solch ein Satz hört man ebenso öfters im Kreis von Gefängnisseelsorgenden. Liegt dies an den existenziellen Themen im Spiegelbild der Gesellschaft, die im sozialen Brennglas des Gefängnisses zu Tage treten? Da gibt es kein Entkommen oder Verstecken, kein frömmelnder Spruch kann die Situation beschönigen. Es ist Leben pur im schmerzhaften Lernen, die Wirklichkeit anzunehmen oder mit ihr zu hadern. Das 218-seitige Buch von Badora ist konzentriert die Beschreibung eines Kampfes wie bei Bruce Lee, dem sinoamerikanischer Kampfkünstler. Ein Kapitel einer Erzählung der Inhaftierten Inge W. von der JVA Köln-Ossendorf ist damit betitelt.

Michael King

 

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