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Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat: Gefangen unter Hitler

5. April 2024

Gefängnisseelsorger Alfons Zimmer beschreibt im Stadtarchiv Bochum ein Exemplar der Ausstellung Schicksalsort Gefängnis. Opfer der NS-Justiz in der Krümmede. Foto: Imago.

„Ohne zu wissen, woher ich komme, weiß ich nicht, wohin ich gehe.“ Dieser Satz wird dem französischen Schriftsteller Alphonse de Lamartine zugeschrieben. Er gilt für viele Bereiche des Lebens und im übertragenen Sinne auch für den Justizvollzug im demokratischen, rechtsstaatlichen Deutschland. In seinem Buch „Gefangen unter Hitler – Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat“ zeigt der deutsch-britische Historiker Nikolaus Wachsmann auf, „woher“ der deutsche Justizvollzug „kommt“. Er schildert drastisch und gleichzeitig leicht lesbar wie der reformorientierte Justizvollzug der Weimarer Republik sehr rasch nach der sog. „Machtergreifung“ 1933 zum Vehikel des NS-Terrors und zum Handlanger eines entmenschlichten Systems wird.

Das Buch entwickelt insbesondere für LeserInnen aus der Justizvollzugs-Praxis seinen ganz eigenen „Reiz“, weil auf erschreckende Art aufgezeigt wird, dass mit den uns bekannten Grundlagen, Gegebenheiten und Arbeitsweisen im Gefängniswesen heute ein aufgeklärter, humaner und rechtstaatlicher Justizvollzug umgesetzt wird, mit den gleichen strukturellen Gegebenheiten und teilweise in den gleichen „Gemäuern“ aber damals der Justizvollzug zum Terrorinstrument der dunkelsten Zeit unserer Geschichte wurde. Das Buch ist – abgesehen von den Menschen, die sich schon bisher intensiver mit NS-Gefängnisgeschichte auseinandergesetzt haben – in der Breite der Justizvollzugs-Community eher unbekannt – so mein Eindruck. Auch ich bin erst im Rahmen von Arbeiten zur weiteren Beleuchtung der NS-Geschichte unserer Gefängnisse in Rheinland-Pfalz auf das Buch gestoßen.

Lücke in der Erforschung der NS-Gefängnisse

Es ist das große Verdienst des Autors, erstmalig die Entwicklung des Justizvollzuges der Weimarer Republik hin zum sogenannten „Dritten Reich“ und weiter bis Kriegsende mit all seinen Verästelungen und Zusammenhängen zusammenzustellen und sehr gut lesbar als Gesamtdarstellung zu schildern. In dieser Umfassendheit gab es das vorher nicht. Auch nachher wurde die Geschichte des Justizvollzuges im NS-Staat nicht mehr so breit dargestellt. Das 2006 erschienene Werk ist deshalb – auch noch im Jahr 2024 – das Standardwerk zu diesem Thema. Für die notwendige und sicherlich auch noch viele weitere interessante Erkenntnisse bringende, lokale Erforschung der NS-Geschichte unserer Gefängnisse ist das Buch eine wichtige Grundlage. Wachsmann füllt mit seinem Buch eine lang existierende Lücke in der Erforschung des Nationalsozialismus. Über Konzentrationslager und auch über die Hafteinrichtungen der Gestapo ist dankenswerterweise schon recht detailliert geforscht und geschrieben worden, die Justiz-Gefängnisse des NS-Staates aber blieben bis dahin als Gesamtkomplex weitgehend unbeachtet. Dadurch erhält auch eine bisher vernachlässigte Gruppe von Opfern des NS-Regimes die nötige Beachtung. Aufgeräumt wird dabei mit dem Fehlurteil, dass im Gegensatz zu den Konzentrations- und Vernichtungslagern in den Justiz-Gefängnissen Recht und Ordnung geherrscht und die Inhaftierten dort „zurecht“ gesessen hätten.

Generalstaatsanwaltschaften ab 1933 zuständig

Wachsmann schildert zunächst das Gefängniswesen der Weimarer Republik mit all seinen Reformbestrebungen hin zum Behandlungsvollzug. In den 1923 in ganz Deutschland – der Justizvollzug war damals Ländersache – in Kraft gesetzten „Grundsätzen für den Strafvollzug“ wurden etwa grausame Disziplinarmaßnahmen abgeschafft und das Beschwerderecht für Gefangene eingeführt. Besonders hervorzuheben ist die Einführung des Stufensystems für Gefangene, mit dem sie bei guter Führung und ausreichend Haftzeit in Stufen mit mehr Vergünstigungen und Hafterleichterungen aufsteigen konnten. 1933, nach der sogenannten „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten, war mit diesem humanen Behandlungsvollzug Schluss. Begleitet wurde dies durch den Wechsel der Zuständigkeit für das Justiz-Gefängniswesen hin zum Reichsjustizministerium 1934 und 35. Mittelbehörden waren übrigens die Generalstaatsanwaltschaften. Nun hatten alle diejenigen Auftrieb, die das Weimarer Gefängnissystem immer schon als zu weich empfanden. Justizstaatsekretär Freisler, später bekannter als hetzender und blutrünstiger Vorsitzender des Volksgerichtshofes, kündigte damals an, dass Strafe nun wieder „schmerzen“ werde. In seinen Augen war das Strafrecht ein politisches Instrument zur Ausschaltung von Regimegegnern und ein Mittel der Rassenpolitik zum Schutz des Volks vor „Entarteten“. Das Gefängnis müsse dabei zu einem „Haus des Schreckens“ werden, forderte er. Die in den Grundsätzen für den Strafvollzug von 1923 enthaltene Anweisung, die Gefangenen „humaner“ zu behandeln, wurde in den neuen Vorschriften von 1934 durch die Forderung ersetzt, die Haft müsse für die Gefangenen ein empfindliches Übel sein. Dieses Ziel schlug sich in verschiedenen Bestimmungen nieder, etwa in der Verschärfung der Disziplinarstrafen. Ferner wurde das Beschwerderecht der Gefangenen beschnitten und Freiräume eingeengt. Hafturlaube wurden abgeschafft, während der Unterricht in den Strafanstalten beschränkt und mit der NS-Ideologie in Übereinstimmung gebracht wurde. Der Haftalltag wurde militarisiert. Das Stufensystem wurde immer mehr verwässert und lief langsam aus, schon bevor es 1940 in Erwachsenenstrafanstalten offiziell abgeschafft wurde. Altgediente NS-Aktivisten und junge Heißsporne der SS wurden in den Dienst genommen. Diese arbeiteten Seit´ an Seit´ mit Kollegen, die im kaiserlichen oder Weimarer Gefängniswesens sozialisiert wurden, was nicht immer reibungslos ablief.

Gefängniswesen engt verschränkt mit Konzentrationslagern

Der Autor zeigt zudem die Verfolgung von „Gemeinschaftsfremden“ im Strafsystem auf, darunter zählten für die Nazis zum Beispiel Juden, Ausländer, Sexualverbrecher, politische Gefangene, Homosexuelle, und „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“. Für letztere wurde die „Sicherungsverwahrung“ eingeführt und die Stellung der Kriminalbiologie, also die Betrachtung der körperlichen, insbesondere der genetischen Merkmale von straffälligen Menschen, im NS-Gefängnis enorm hervorgehoben. Gefangene wurden regelmäßig kriminalbiologisch untersucht und daraus Aufschlüsse auf ihre weitere Kriminalitätsentwicklung gezogen. Eingegangen wird auch auf die im Gefängniswesen weit verbreitete Kastrations- und Sterilisationspraxis. Es ging dem Reichsjustizministerium im Sinne einer „Rassenhygiene“ darum, die Gesellschaft vor Personen zu schützen, die „eine Gefahr für die Volksgemeinschaft nicht nur durch ihr verbrecherisches Handeln, sondern auch durch die Belastung des Volkes mit einer minderwertigen Nachkommenschaft“ darstellten. Wachsmann stellt dar, wie das Justiz-Gefängniswesen eng verschränkt war mit den Konzentrationslagern und den Polizeihafteinrichtungen, wie für viele der Aufenthalt im Justiz-Gefängnis nur der Beginn der Qualen war, wie Gefängnisbedienstete sich an der Selektion der Gefangenen für weitere, todbringende Inhaftierungen durch Polizei und SS – etwa durch Stellungnahmen und eigeninitiative Empfehlungen – maßgeblich beteiligten.

„Abgabe“ Gefangener an die Polizei

Noch weiter verschlimmerte sich die Situation mit Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939. Die Arbeitskraft der Gefangenen wurde nun im Dienste der Kriegswirtschaft ausgebeutet. Die Verpflegung und medizinische Betreuung war ungenügend. Richter wurden zu „Soldaten der inneren Front“, so Reichsjustizminister Gürtner. Für kleine Verfehlungen gab es harte Strafen, die Zahl der Todesstrafen schoss in die Höhe. Brutale Gewalt gegen Gefangene war Alltag. Das Recht wurde zu einem Instrument der Vernichtung. Hitler selber, das arbeitet Wachsmann an mehreren Stellen seines Buches heraus, war von der Idee der „negativen Auslese“ im Hinblick auf den Justizvollzug besessen. Demnach dürfen die „Schlechtesten“ des Blutes, nämlich die Gewohnheitsverbrecher, nicht überleben, wenn die „Besten“ des Blutes an der Front für ihr Vaterland ihr Leben geben. Dieser radikale, mörderische Ansatz führte zu massenhaften Tötungen von Gefangenen im Justizvollzug, oft auch über den Weg der sogenannten „Vernichtung durch Arbeit“. Zu diesem Zweck, also zur Vernichtung der Gefangenen, wurde eine allgemeine „Abgabe“ von Gefangenen an die SS und Polizei eingeführt und eine individuelle. Erstere galt generell für Juden, Sinti und Roma, Russen, Ukrainer und Teilen der polnischen Gefangenengruppe ohne weitere Prüfung.

Zweitere betraf deutsche und tschechische Gefangene mit Zuchthausstrafen nach einer Einzelfallprüfung. Gefängnispersonal diente als Helfer bei diesen Abgaben an den Tod. Die Justizgefängnisse waren daneben auch selbst Orte von Hinrichtungen. Sie wurden zu „regelrechten Todesfabriken“, wie Wachsmann schreibt. In einer einzigen Nacht wurden so etwa im Gefängnis Plötzensee 186 Gefangene gehängt. Die Gefangenen wurden nicht nur zu ihren Lebzeiten ausgebeutet, auch ihre Leichen wurden noch „genutzt“. Ein einzelner Arzt sammelte bei seinen Besuchen in der Hinrichtungskammer Blut für 1.500 Fusionen. Gefangene wurde bei den häufigen Luftangriffen ferner nicht evakuiert und waren den Bomben schutzlos ausgeliefert. Geschlossen wird das Kapitel des Mordes im NS-Justizvollzug mit der massenweisen Tötung von Gefangenen zu Kriegsende und die Erzwingung von qualvollen und tödlichen Hungermärschen von Gefangenen, um dem vorrückenden Feind nicht in die Hände zu fallen. Wachsmann schätzt aufgrund der Quellen, dass im Justiz-Gefängniswesen des NS-Staates rund 20.000 Menschen den Tod fanden – ohne die in den Gefängnissen Hingerichteten.

Gefängnisseelsorge im „3. Reich“

Interessant wäre eine eigenständigen Beleuchtung der Rolle der Gefängnisseelsorger im „Dritten Reich“. Es gab darunter leuchtende Beispiele der Courage und des Anstandes. Zu nennen sind nur beispielsweise Harald Poelchau und Peter Buchholz, die beide im Gefängnis Plötzensee in Berlin ihr Leben riskierten, um für politisch Gefangene Hafterleichterungen „zu organisieren“. Erstgenannter war zudem Mitglied des Kreisauer Kreises.

Thomas Messer | Erstveröffentlicht in: Forum Strafvollzug 1/2024

Autor

Der Autor Nikolaus Wachsmann, 1971 in München geboren, absolvierte seine akademische Ausbildung in England, zunächst an der London School of Economics, dann in Cambridge. Er lehrt Neuere europäische Geschichte am Birkbeck College der University of London. Das Buch „Gefangen unter Hitler – Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat“ von Nikolaus Wachsmann ist 2006 im Siedler-Verlag München erschienen (Hardcover mit Schutzumschlag, 624 Seiten, ISBN: 978-3-88680-828-1).


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