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Du sollst Dir kein Bild machen. Begegnung mit Gefangenen

12. Juni 2024

Die erste Begegnung mit einem Menschen ist von besonderer Bedeutung. Der Volksmund drückt dies aus, wenn er sagt: der erste Eindruck ist der Beste. Stimmt das wirklich? Empfindet man das Gegenüber beim ersten Eindruck sympathisch oder unsympathisch? Bei einer Einführungstagung für Gefängnisseelsorger hat sich im Jahr 1977 in Würzburg Prof. Dr. Balthasar Gareis aus Fulda dazu Gedanken gemacht. Seine Ausführungen von damals sind im Heute ebenso von großer Bedeutung.

Vorurteil und Befangenheit

Da ist zunächst einmal die nicht zu gering zu bewertende Gefahr des Vorurteils und der Befangenheit des Seelsorgers zu erwähnen. Vorurteile sind Übernahme von Urteilen anderer Menschen. Vorurteile kennzeichnen und kategorisieren einen Menschen, noch bevor man sich selbst mit ihm beschäftigt hat. Wer von uns kennt nicht viele derartige Beispiele von Vorurteilen, die, wenn nicht gerade jedes Verständnis und jeden Kontakt unmöglich machen, so doch zumindest stark erschweren, beeinträchtigen und verfälschen. Vorurteile und Befangenheit erwachsen bei der Erstbegegnung im Strafvollzug einmal durch die Person des Gefangenen und sodann aufgrund des Aktenstudiums. Noch bevor der Gefangene die Türe zur Erstbegegnung überschreitet, kennt man meist seinen Namen, seinen Wohnort, seine Tat. Meist hat man sich mit seinem Akt beschäftigt, oder man hat von anderen Mitarbeitern über ihn gehört. So hat man sich oft schon eine Meinung über ihn gebildet. Schon allein hinsichtlich seiner Tat wird er nun kategorisiert und typisiert als Sexualtäter, als Mörder, als Dieb usw. Durch das Aktenstudium kennt man a) seine Vorgeschichte, b) das Gutachten, c) die Vorstrafen und es bedarf keines allzu langen Aufenthaltes des Seelsorgers im Strafvollzug, um bereits jetzt durch Vorgeschichte, Gutachten und Vorstrafen ein fertiges Bild vom zu erwartenden Gefangenen zu haben. Wenn wir auch aus der Ganzheitspsychologie und der Gestaltpsychologie wissen, dass der Mensch, um die vielen Eindrücke zu verarbeiten und sich rationale Urteile zu erleichtern, immer zu Ganzheiten neigt und kategorisiert, so muss doch ganz klar die Gefahr der Verfälschung gesehen werden, die sich daraus für einen Menschen ergeben kann und Unrecht bedeuten kann, ohne persönliche Kenntnis seiner Person und ohne ihm die Chance zu geben, sich zu offenbareren ihn zu beurteilen, besser gesagt, zu verurteilen.

Der Pfarrer der JVA Herford ist 1960 mit einigen Gefangenen beim Freigang unterwegs in der Stadt, um Weihnachtseinkäufe zu tätigen. Fotos: Imago

Gefahr der Neugierde

Neugierde ist natürlich nicht immer eine negative Eigenschaft, sie kann auch eine positive sein und zwar dadurch wenn sie Wissensbegierde ist, Unzufriedenheit mit Bestehendem und Streben nach mehr Erkenntnis. Nun ist es Tatsache, dass im Strafvollzug doch recht ,,interessante“ Menschen sind und dazu ständig eingeliefert werden. Bei Besuchen von Außengruppe in der Anstalt erleben will immer wieder, dass diese Leute einen echten Mörder von der Nähe sehen wollten, einen mit einer besonders schrecklichen Tat, oder einen, von dem man vielleicht in der Zeitung gelesen hatte. Die Zeitungen berichten täglich über interessante, aufsehenerregende kriminelle Taten, so dass auch der Seelsorger im Strafvollzug nicht gefeilt ist, gegen eine Art Neugierde. Er bekommt frei Haus geliefert den Übeltäter als Häufchen Elend, der nun ihm ,,zu willen sein muss“. Der Gefangene erlebt sich selbst oft genug bei seiner Verhandlung, bei den Verhören und Vorstellungen als Objekt der Neugierde, die aus Person und Tat erwächst. Aber davon gilt es sich freizumachen, um den Gefangenen nicht zu verletzten oder um sich selbst nicht lächerlich zu machen. Ob man sich allerdings ganz davon freimachen kann, weiß ich nicht. Ich selbst konnte es jedenfalls nicht immer, zumal wenn es sich um bekannte Kriminelle handelte, wie etwa um die Männer des größten deutschen Bankraubes, um aufsehende Mordfälle, um Geiselgangster, um Anarchisten und ähnlichen.

Gefahr der Routine

Vor einer weiteren Gefahr muss von der Erfahrung her aufmerksam gemacht werden: die Gefahr der Routine. Natürlich wird immer eine gewisse Routine sich einschleifen, aber wenn die Erstbegegnung zur Routine wird und so erlebt wird, verläuft jede weitere Begegnung wahrscheinlich negativ. Die Zugänge werden ,,zur Vorstellung“ gebracht. Eine Routineangelegenheit. Ein Beamte bringt sie jeweils dem Seelsorger und oft auch zugleich den anderen Bediensteten gleichzeitig. Das alles geschieht in einer gewissen Zeit, muss in einer gewissen Zeit erledigt sein. So geschieht Erstbegegnung im Rahmen der Eile, der Hetze, besonders dann, wenn es viele Zugänge sind die neben der anderen Schreibtischarbeit ,,erledigt“ werden müssen. So wird alles leicht Routine. Der Gefangene sieht sich ,,behandelt“, erledigt, gehört, gesehen, betrachtet usw. Zum Besprechen seiner persönlichen Schwierigkeiten und Probleme kommt er nicht, da wenig Zeit und wenig Interesse vorhanden ist. Es bleibt beim diagnostischen Verhör! Eine positive Erstbegegnung braucht eine entsprechende Zeit.

Wenn die entsprechende Zeit nicht zur Verfügung steht, sollte damit erst gar nicht angefangen werden. Ein zu wenig schadet mehr als es nützt! Um dieser Gefahr zu begegnen habe ich zwei Möglichkeiten mit Erfolg praktiziert: einmal die kurze Personalaufnahme und ein erster Kontakt und sodann ein ausführlicheres Erstgespräch am Samstag-Vormittag, an einem Tag also, an dem im Gefängnis ,,kein Betrieb“ ist. Hier hatte ich Zeit und Gelegenheit eine intensive Erstbegegnung zu vollziehen und einen tieferen Kontakt zu suchen. Nach dieser persönlichen und ausführlichen Erstbegegnung arrangierte ich meist sogleich auch eine erste Gruppensitzung, um auch den Einzelnen in der Gruppe zu erleben und mich der Gruppe als solche zu stellen und zu öffnen. Gesprächsinhalte gab es dafür genügend. Zuviel Neues, zu viele Fragen stürmten auf die Neuzugänge ein, zu langweilig ist die Einsamkeit am Samstag vormittags, so dass ich als Seelsorger eine ,,erste Hilfe“ darstellte. Das hat sich als sehr gut erwiesen. Und ich stellte durch jahrelange Erfahrung fest: Wenn diese Art der Erstbegegnung positiv verlief, dann waren diese Gefangenen während ihres ganzen Aufenthaltes in der JVA mir auch positiv gesonnen. Und auch umgekehrt. Die Dauerwirkung dieser Erstbegegnung war auf Monate, ja auch Jahre hinaus zu spüren. Routine, Hetze und Eile, geringe Individualität usw.. sind Grundfehler, die kaum wieder gutzumachen sind, die höchstens später auf gesunder Grundlage verstanden und verziehen werden.

Gefahr der Machtausübung

Der Seelsorger im Strafvollzug hat keine leichte Aufgabe. Viele Gefangene laden ihren ganzen Unmut und Unwillen, ihre eigenen, als negativ empfundenen Erfahrungen mit der Kirche, ihre eigene innere Zerrissenheit als Projektion auf den Seelsorger ab und aus. Die täglichen Frustrationen des Seelsorgers sind unermesslich. Nun kann sich beim Seelsorger leicht die Gefahr von Rachegefühlen anbahnen. Diese Gefahr wird zur Macht-Ausübung an den Gefangenen, bei denen es möglich ist, nämlich bei den Zugängen. Der Zugang muss zum Seelsorger, er sitzt ihm als Gefangener, als Verbrecher als Abgeurteilter gegenüber und der Seelsorger hat eine gewisse mehr oder minder große Macht „ihn zu kreuzigen oder freizulassen“, d.h. ihm zu helfen, Vergünstigungen zu geben und zu gewähren oder ihn zu missachten, abzuhandeln, zu deklassieren. So wird diese unbewusste Rachehaltung seitens des Seelsorgers einmal a) als Druck zum Gehorsam dem Neuzugang gegenüber, und b) zum Reizspiel der Hilfegewährung, des Aufzeigens von Belohnungen, die man zu vergeben hat und die im Gefängnisalltag von Zeitungen und Illustrierten, Besuchsüberwachung, Zigaretten in sogenannten „Suchtzeiten“ usw. Wer könnte einer solchen Möglichkeit der Machtdemonstration auf dem Hintergrund der alltäglichen Ohnmacht im Strafvollzug nicht erliegen! Ich möchte bezweifeln, dass man sich ganz davon freimachen kann. Ich konnte es jedenfalls nicht, wenn ich mich auch ständig überprüfte und versuchte zu korrigieren.

Gefahr der Naivität versus Misstrauen

Bei der Erstbegegnung versucht jeder Partner normalerweise den besten Eindruck zu machen und sich ins rechte Licht zu rücken. 5o wird es immer vorkommen, dass der Gefangene seine Tat beschönigt, seine Person entschuldigt, sich als besonders Hilfsbedürftig hinstellt usw. Später erkennt dann der Seelsorger oft, dass er aufs Kreuz gelegt wurde. All zu große Naivität schlägt dann im Laufe der Zeit um in absolutes Misstrauen. ,,Vertraue niemand“ wird dann zum Schlagwort. Misstrauen wird zur Haltung. Einer Naivität und Leichtgläubigkeit gilt es deshalb ebenso zu begegnen wie eines ungerechtfertigten Misstrauens. Der Gefangene erkennt sofort, wie weit ihm der Seelsorger seine Story glaubt, abkauft, wie er einen „durchblickt“ oder wie weit er ihn als Lügner und als glaubwürdig abtut. Es ist nicht leicht das rechte Mittelmaß zu finden und vor allem zu bewahren. Jedenfalls hat derjenige, der durchblickt mehr Ansehen a1s der Naivling, dem man alles erzählen und aufbinden kann, der dann als gutmütige Trottel abgeurteilt wird, über den man beim Hofgang und auf den Gemeinschaftssälen lacht. Er wird nicht mehr als Persönlichkeit angesehen, die gleichwertig ist. Gesprächspartner müssen sich gewachsen sein.

Gefahr der Kumpanei versus Distanz

Vor einer weiteren Gefahr muss gewarnt werden, die bei der Erstbegegnung zu beachten ist, nämlich die Gefahr der versuchten Kumpanei (der falschen Zuwendung) beziehungsweise einer unnahbaren Distanz. Um das Vertrauen zu gewinnen, ist man versucht zu paktieren, plump sich zu verbrüdern, um, zumindest nach außen hin, gemeinsame Sache machen zu wollen. Das funktioniert auf die Dauer nicht. Der andere Seelsorger macht den selben Fehler nur mit einem negativen Vorzechen, er achtet auf ungewöhnliche Distanz, er gibt sich unnahbar. Diese verhindert Vertrauen. Zwischen diesen beiden Polen vollzieht sich die Erstbegegnung. Das richtige Maß zu treffen entscheidet für den weiteren Kontakt und die Effektivität der Begegnungen. Um sich vor einer falschen Kumpanei zu schützen, die in den Augen der Gefangenen lächerlich und ungewünscht ist, darf man weder die Tat gutheißen, beschönigen, a1s gerechtfertigt hinstellen, auf Justiz und Strafvollzug in abfälligster Weise reden, noch das angebliche freundschaftliche „Du“ anbieten. Solche Phlasen werclen bald durchscharrt. Und wenn es keine Phrase ist, ist es sehr bedenklich! Auf partnerschaftliche Nähe und Distanz ist zu achten. Die Formen der Höflichkeit, der gegenseitigen Achtung ist zwischen Distanz und Nähe besser möglich als auf den Polenden.

Gefahr des Statistizismus und Testoptimismus

Der Seelsorger im Strafvollzug wird gern als Referent in der Öffentlichkeit geholt, wobei ihm entsprechende Fakten über Kriminalitätsursachen, Rückfälligkeit usw. abverlangt werden. Eine willkommene Gelegenheit ist deshalb das Sammeln von Fakten bei Gesprächen mit Neuzugängen. Alle Neuzugänge der Anstalt werden ihm vorgestellt, er spricht mit ihnen, kennt ihre Herkunft, Vorgeschichte, ihre Taten und Motive und im Laufe der Zeit ist man versucht Statistiken anzulegen und sie auf dem Laufenden zu halten. Wenn die Erstbegegnung dahingehend erlebt wird, dass der Gefangene sich als Spielzeug und Objekt einer Statistik erkennt, dann reagiert er sehr sauer. Er merkt sofort das Desinteresse an der Person und erlebt sich nur als statistische Größe, aber als Persönlichkeit missachtet. Mir selbst wurde einmal diese Gefahr drastisch vor Augen geführt, nachdem ich wochenlang versucht habe die Neuzugänge durch eigene vorgefertigte Fragebogen zu erfassen, als ein Gefangener unwillig sagte: ,“Ich möchte als Mensch zu Ihnen, nicht als Nummer!“ Dass Gefangene hier besonders feinfühlig reagieren, braucht wohl nicht eigens erwähnt zu werden. Als Nummer erleben sie sich ständig, sobald die Maschinerie des Vollzugs nach dem Urteilsspruch: „Im Namen des Volkes“ anläuft. Als Menschen wollen sie behandelt und gesehen werden, vom Seelsorger mehr als von jedem anderen Menschen. Und das auch mit Recht.

Gefahr der rationalen Lüge

Wenn wir einem Menschen unser Leid klagen oder von ihm Hilfe oder irgend etwas erwarten und wenn wir mit ihm sprechen und er uns Antwort gibt, dann spüren wir sofort, ob die Anteilnahme echt oder gespielt ist, geheuchelt oder innerlich zugetan ist. Um Vertrauen zu gewinnen versucht der Seelsorger im Erstgespräch Anteilnahme zu zeigen. Wenn diese Anteilnahme nicht echt ist, sondern nur äußerlich gezeigt wird, wird sie der Gefangene sofort durchschauen. Er ist ja gewohnt, besser den Menschen zu beobachten und weniger auf Worte hinzuhören. 5o wird er diese rationale Lüge erst recht beim Seelsorger verabscheuungswürdig finden und eine feindselige Reaktion zeigen oder sich verschiessen und verhärten. Echtes Engagement kann man nicht spielen! Mit geradezu Instinkthafter Sensibilität weiß der Gefangene Schau oder Echtheit zu unterscheiden.

Gefahr der Sympathie und Antipathie

Menschen sind uns schon oder gerade bei der Erstbegegnung entweder sympathisch oder unsympathisch. Dies hängt zum großen Teil mit früheren Erfahrungen zusammen, die wir nun auf einen ähnlichen Typ übertragen. So bleibt es auch nicht aus, dass bei der Erstbegegnung dem Seelsorger der eine Gefangene sympathisch ist, der andere unsympathisch. Dies kann aus bestimmten persönlichen Merkmalen resultieren, wie z.B. freundliche Art, religiöses Interesse, besonders der sogenannten Schmeichler wird von uns mehr Sympathie erhalten als der Provozierende, kann aber auch auf Äußerlichkeiten beruhen, wie hübsche Erscheinung, gepflegtes Äußere usw. Sympathie oder Antipathie kann aber auch aus der Tat erwachsen. Da ist der Betrüger mit einem Gangsterstück, das wir als Bravourstück empfinden, der Betrüger mit dem man sich identifiziert, erscheint sympathisch. Hingegen der Sexualtäter, dessen kriminelle Tat wir als ruchlose Tat empfinden, von dem man sich innerlich distanziert, den finden wir unsympathisch. Es braucht wohl nicht betont zu werden, wie sehr wir es als unrecht empfunden haben, wenn in der Schule der Lehrer seine Lieblinge hatte und andere benachteiligte! Umso schmerzlicher muss es der Gefangene empfinden, wenn der Seelsorger Bevorzugung und Benachteiligung austeilt, je nach Sympathie oder Antipathie. Jeder hat den Anspruch auf gerechte Behandlung, die nicht von zufälligen und dazu noch recht zweifelhaften Kriterien abhängen darf.

Gefahr der Berufsverblassung

Eine nicht gelinge Gefahr ist die der Berufsverblassung. Der Seelsorger erliegt im Laufe der Zeit der Versuchung, wenn der eigene Beruf im Strafvollzug unvollkommen, frustrierend oder überflüssig erlebt wird, sich zwischen den Berufen des Psychotherapeuten und dem des Kriminologen, oder beides zusammen, zu sehen und einzupendeln, d.h. weder das eine noch das andere zu sein, also Amateur-Psychotherapeut und Amateur-Kriminologe. Er möchte ein gewitzter Kenner kriminologischen Verhaltens werden und den eigenen Beruf in den Hintergrund verdrängen und verlagern. Der Pater Brown Typ scheint zum Ideal zu werden. Das ist eine echte Gefahr. Ich selbst habe bei Entweichungen mich gerne an den Fahndungen beteiligt und während meiner 10-jährigän Dienstzeit selbst zwei Ausreißer gefangen genommen. Das ist schon ein erhebendes Gefühl, das man dann als Gewissenberuhigung damit abtut, dass man es ja nur getan hat, um größeres Unheil auf der Flucht zu verhindern. Zur Kategorie der Berufsverblassung gehört aber auch der sogenannte. ,,Sonntagstheologe“, der während der Woche sich a1s Sozialarbeiter und Psychotherapeut versucht und Sonntag Amtsträger und Organ der Kirche ist. Natürlich muss der Begriff der Seelsorge gerade im Strafvollzug sehr weit gefasst werden und man kann Therapie und Religion, Hilfe und Sachkenntnis, Sozialarbeit und Verkündigung nicht trennen. Aber das Berufsbild des Seelsorgers im Haftalltag muss als Einheit von Heils-, Seel- und Leibsorge gesehen werden, sowohl traditionell, als auch den besonderen Gegebenheiten des Strafvollzugs gerecht werden.

Gefahr der verhärteten Physiognomie und Pathognomie

Der Dienst im Strafvollzug prägt den Menschen, auch in seinem Äußeren. So ist auch die Gefahr gegeben, dass sich ein falsches Ausdrucksverhalten einschleift, das leicht zur Gewohnheit wird und dann abstößt, ich meine die Härte und Strenge in der Mimik und im Ton, die falsche Art in Wort und Gesten, die bestimmend Anweisung, der Gefängniston und die Blasiertheit, die Wurstigkeit und Taktlosigkeit, Physiognomie und Pathognomik verhärten, ohne dass wir es selbst merken. Es sind zwar Akzidentien, aber auch die Akzidentien sind bekanntlich ebenso wichtig, wie das Essentielle, ja beide begegnen sich. Ich erlebte zum ersten Mal eine Durchsage über die Rufanlage bei meinem Dienstantritt und ich erschrak richtig vor dem barschen Ton, dem Befehlston, der Kälte und Härte, mit der die Stimme durch die Gänge klang. Ich erschrak vor dem Auf- und Zusperren weniger, als vor dem es begleitenden Türe zuschlagen, dem harten Schritt auf den Gängen, dem Umgangston und noch vielem mehr. Wie weit wir das dann selbst praktiziert habe, weiß ich nicht. Die Gefahr, dass man sich selbst damit im Laufe der Zeit infiziert, ist groß. Und eher als man merkt, ist man selbst der typische Gefängnisbeamte, wie man ihn aus Fernsehsendungen kennt und darstellt.

Gefahr der Resignation

Ich kenne etliche meiner Kollegen, die seit Jahren im Strafvollzug Dienst tun und die im Glauben an das Gute im Menschen resigniert haben. Sie sagen: ,,Ich bin so oft angelogen worden, man wird ständig beschwindelt, man wird ständig angefeindet, man wird benutzt als Aggressions-Objekt, als Zielscheibe der Ironie und des Hasses, ats Wischtuch aller persönlichen negativen Erlebnisse, als Himmelskomikei. abgetan, gerät zwischen die Mühlsteine der Gefangenen und Beamten man erlebt soviel Sinnlosigkeit der Mühen, der Hilfen usw., da muss man einfach resignieren“. Diese Resignation drücken Beamte im Strafvollzug aus in dem Slogan:, „Verbrecher bleibt Verbrecher! Lump bleibt Lump! Wer einmal aus dem Blechnapf frisst, das Wiederkommen nicht vergisst!“ Die Gefahr der Übernahme dieser Slogan und der damit verbundenen Einstellung ist groß. Und doch steht dies dem Gefängnisseelsorger nicht an! Er muss Optimist bleiben, er muss Hoffnung und Freude ausstrahlen, er muss trotz allem an das Gute glauben und darf in der Liebe nicht erlahmen.

Prof. Dr. Balthasar Gareis | Referat aus dem Einführungskurs in Würzburg 1977

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