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31 Jahre hinter Gittern. Ein ehemaliger Anstaltsleiter erzählt

3. Juni 2024

31 Jahre hinter Gittern. So lese ich und frage mich spontan, ob eine solche Selbstbeschreibung auf einen Bediensteten passt, der jeden Tag nach vollendeter Arbeit die Justizvollzugsanstalt verlässt, während Inhaftierte ununterbrochen bleiben müssen. Dann aber mache ich mir bewusst, dass ein engagiertes Arbeiten im Justizvollzug – besonders über so einen langen Zeitraum – bei Bediensteten zwar andere aber sicher nicht minder intensive Spuren hinterlassen kann. Dennoch lese ich mit einer gewissen Skepsis: Was werde ich in diesem autobiographischen Erlebnisbericht finden? Hoffentlich wird es kein Veteranenbericht aus dem Genre „Opa erzählt vom Krieg“. Der Jurist und Sozialpädagoge hat die Justizvollzugsanstalten in Frankenthal, Koblenz, Diez und Wöllstein geleitet.

Je mehr ich mich in das Buch vertiefe, umso angenehmer ist die Überraschung, die ich darin entdecke: Kein Epos über einen Behördenleiter, der allen Erfolg, alle Entscheidungen, alle Innovationen allein für sich beansprucht. Vielmehr ein in den Justizvollzug hineingewachsener Mensch, der einerseits seine eigene Kompetenz aus zwei sehr unterschiedlichen Fundamenten (Sozialpädagoge und Jurist) aufgebaut hat, andererseits mit offenen Sinnen auf Erfahrungen anderer kompetenter Menschen gehört und diese in seine Arbeit transformiert hat. Gut führen zu können beginnt mit gut zuhören können. So lässt sich in meinen Augen die Herangehensweise von Norbert Henke auf einen Nenner bringen. Und so lässt der erfahrene Autor in vielen Einzelberichten und in vielen Mosaiksteinen ein Bild entstehen, bei dem frühere Anstaltsleiter, Dr. Dieter Bandell, Mitbegründer der Bundesvereinigung der AnstaltsleiterInnen, bvaj), Bedienstete in Uniform, Ehrenamtliche, Seelsorger aber auch der eine oder andere Inhaftierte ihre Spuren und Einflüsse hinterlassen haben. Diese komplementäre Verwobenheit von achtsamen Wahrnehmen Anderer und entschiedener Letztverantwortung machen die Lektüre dieses Buches sehr angenehm.

Kein restriktiver Verwahr- und Wegsperrvollzug

Norbert Henke hätte vermutlich auch ein erschöpfendes Kompendium von „A“ für Anstaltsleitung bis „Z“ für Zugang schreiben können und sicher wäre auch so eine umfassende Sachliteratur eine wertvolle Informationsquelle besonders für Berufseinsteigende gewesen. Die Fokussierung auf einzelne vollzugliche Hotspots bietet demgegenüber einen – sicherlich subjektiven – Blick auf die wesentlichen Themen und Brennpunkte, die Alle, welche in Vollzug tätig sind, schnell erkennen und als solche identifizieren dürften. Da ist zum einen das unendliche Pendeln zwischen den Belangen der Sicherheit und der Behandlung: Norbert Henke fasst in wenigen Absätzen die vier Säulen der Sicherheit und die oft durch Personalknappheit entstehenden Sicherheitslücken anhand eines Ausbruches zusammen. Im Weiteren bezieht der Autor eindeutig Position, wenn er sich gegenüber dem Ausspielen von Sicherheit gegenüber Behandlung verwahrt: „Teilweise wird die soziale Sicherheit, der vierte Tragpfeiler der Sicherheit, als eine eher diffus erscheinende Vorgabe betrachtet… als sei die Wiedereingliederung der Strafgefangenen eine von der Sicherheit trennbare Größe. Ein Strafvollzug, der die Sicherheit in überzogenem Umfang über alles stellt, wäre ausschließlich ein restriktiver Verwahr- und Wegsperrvollzug.“ (Seite 20). Seine persönliche Haltung findet Norbert Henke in einer Veröffentlichung des Sicherheitsexperten Wolfgang Suhrbier bestätigt, den er im Anschluss entsprechend zitiert. Er selbst kommt zu dem Schluss „Würden unterschiedliche Maßstäbe (an Sicherheitsstufen Anm. d. Verf.) gelten, könnten sich die Bediensteten deutlich mehr Zeit für die Einzelbetreuung und vor allem für die Kommunikation der Gefangenen nehmen.“ (Seite 84)

Hohe Vielfalt

Eine breite Aufmerksamkeit richtet Henke dem Wirken von Ehrenamtlichen. Und wenn er auch die Problematik von Helfersyndrom und Suche nach Beziehung zu Inhaftierten benennt, so honoriert er insgesamt diejenigen, die ohne Entlohnung und manchmal unter den skeptischen Kommentaren aus der Gesellschaft, Zeit und Mühe auf sich nehmen, um den Gefangenen eine Perspektive in und nach der Haft zu eröffnen. Neugierig war ich als Gefängnisseelsorger darauf, ob und wie Norbert Henke seine Erfahrungen mit dem Kirchen-Berufsstand schildert. Trotz seiner Rolle als Behördenleiter merkt man Henke an, dass er selbst die pastoralen Ansätze der Seelsorge kennt. So zitiert er in seinem Kapitel über die Gefängnisseelsorge den Leitsatz aus dem Hebräerbrief, der auch dem Bischofswort vorangestellt ist und stellt parallel dazu die Äußerung seines Vorbildes Brandell, der formulierte: „wir müssen den Gefangenen ein Gefangener sein.“ (Seite 280). Henke pflegte während seiner Dienstzeit den regelmäßigen Kontakt zu christlicher Seelsorge und später zur muslimischen Betreuung, mit denen er im monatlichen Turnus Treffen vereinbart. Besonders hervorgehoben wird das Vertrauensverhältnis und die umfassende Verschwiegenheit, die der Seelsorge eingeräumt wird. Norbert Henke beschreibt für Außenstehende das grundsätzliche Setting der Gefängnisseelsorge innerhalb des Vollzugs und die besondere Herausforderung der Arbeit in diesem Feld. Dass Fragen nach Gott nicht die erste Wahl der Gesprächsinhalte sein kann und oft nur latent im Rahmen anderer Themen mit verhandelt wird, gesteht er der Seelsorge unumwunden zu. Gleichzeitig honoriert er aber die hohe Vielfalt, die unser Beruf in einer JVA entfalten kann, wenn dies seitens der Anstaltsleitung zugestanden wird.

Ersatzfreiheitsstrafe keine Wirkung

Die Behandlung von Inhaftierten sieht Norbert Henke nicht allein als Aufgabe und Delegation an Fachdienste und Wohlfahrtsverbände. Er selbst sucht intensiv und regelmäßig Kontakt zu seiner Klientel, indem er einen großen Teil seiner Arbeit den Sprechstunden widmet: „Trotz des hohen zeitlichen Aufwandes von wöchentlich einem Arbeitstag bei durchschnittlich 6-8 Gesprächen… Sollten die Inhaftierten das Gefühl haben, dass es bei Problemen eine erreichbare oberste Instanz gibt, die… abschließend entscheiden bzw. regeln und bei individuellen Notlagen helfen kann.“ (S. 47f). Alte und Kranke, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, benennt Norbert Henke die Situationen oder systemische Brennpunkte, zu denen Vollzug nur wenig Rüstzeug oder Lösungen bieten kann. Dies führt er exemplarisch an Situationen von Langzeitgefangenen und der Frage einer würdevollen Behandlung bei Krankheit und Sterben aus. Aber Inhaftierung aufgrund von Ersatzfreiheitsstrafen, die oft kaum eine pädagogische Wirkung entfaltet, stellt Norbert Henke in Frage.

Anstaltsleiter-Perspektive

Hinter all den genannten Beispielen steht die grundsätzliche Frage der persönlichen Haltung zu System Strafvollzug und zur Zielgruppe, den inhaftierten Menschen. Da ist das Bewusstsein für die Gefahr, im Lauf der vielen Jahre vom Vollzug „geschliffen“ zu werden „wenn du zu lange in den Abgrund hineinblickst, blickt auch der Abgrund in dich hinein“ (Friedrich Nietzsche). Henkes Rezept seit Beginn seiner Tätigkeit: „Ich nahm mir vor, mich auf das Positive, das Erreichbare zu konzentrieren.“ (Seite 32) Neben vielen sachlichen Informationen wartet der Anstaltsleiter a. D. auch mit Anekdoten auf, die außerhalb des täglichen Kompendiums an Aufgaben zu finden sind. So erkennt er beispielsweise auf einem Betriebsausflug einen entwichenen Mann wieder und sorgt für dessen sachgerechte „Heimholung“. Auch sonst werden Erlebnisse und Sachverhalte mit der einen oder anderen humorvollen Formulierung geschildert oder abgerundet, was das Lesen lebendiger und interessanter werden lässt. Insgesamt wartet das Buch mit einem breiten Fächer an Themen und Einzelsituationen auf, die das breite Spektrum des Justizvollzuges – teilweise im Überflug, teilweise in der Tiefe – betrachten. Wer den Justizvollzug durch die Brille eines bewusst arbeitenden Anstaltsleiters sehen möchte, findet in diesem Buch eine gute Perspektive. Sicher wäre die Lektüre desselben und die trotz der langen „Haftzeit“ noch immer aktuelle persönliche Ausrichtung auch eine hilfreiche Anregung für den einen oder die andere Behörden-LeiterIn.

Fazit

Norbert Henke war 31 Jahre im Knast. Verbittert oder in einer vergangenen Zeit hängen geblieben ist er mit Sicherheit nicht. Er ist bei aller Verantwortung und bei allen Erfahrungen Mensch geblieben. Seine – im ernsthaften Sinn demütige und auch ehrliche – Selbsteinschätzung hat beim Lesen seines Buches gutgetan und gezeigt, dass man trotz einer langen Dienstzeit an Esprit und Innovation nichts automatisch einbüßen muss. Ein Arbeiten im Sinne von „Dienst nach Vorschrift“ erkennt man bei Henke zwar im Pflichtbewusstsein, die rechtlichen und ministeriellen Vorgaben einzuhalten. Auf der anderen Seite erlebt der/die Lesende einen bis heute agilen und innovativ aufgestellten Mann, der mit Herzblut Vollzug gestaltet und in seinem Wirkungsbereich eine menschenwürdige Atmosphäre geschaffen hat. Henke führt damit indirekt auch den Beweis, dass Führen einer Behörde und das „sich leiten lassen“ von Vollzugsbediensteten nicht unvereinbar sein müssen.

Den an manchen Stellen dafür erforderlichen Mut zum Aushalten von Widerspruch seitens der Aufsichtsbehörden möchte man dem einen oder der anderen noch im Dienst befindlichen Verantwortlichen gerne ans Herz legen. Spannend wäre sicher auch, wenn ehemalige Bedienstete (aus dem Allgemeinen Vollzugsdienst (AVD), den Fachdiensten, aus meiner Position heraus gerade jemand von der Gefängnisseelsorge) und weitere Beteiligte (Ehrenamtliche, ehemalige Inhaftierte), die Nobert Henke als Anstaltsleiter erlebt hatten, gemeinsam mit ihm – beispielsweise im Rahmen einer Podiumsdiskussion – eine Außenperspektive seines Wirkens dazulegen würden. 31 Jahre hinter Gittern – ein Buch, das für alle, die sich mit dem Thema Strafvollzug auseinandersetzen, eine Erweiterung oder Abrundung eigener Erfahrungen bietet. Als Vergewisserung zur eigenen Arbeit empfehlens- und lesenswert!

Andreas Bär | JVA Nürnberg

 

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