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Widerstandskraft im maroden US-amerikanischen Justizsystem

2. März 2024

„For the Time Being“ ist ein 90-minütiger Dokumentarfilm, der sich mit den Auswirkungen einer Haftstrafe für die zurück gebliebenen Angehörigen beschäftigt. In der Langzeitbeobachtung begleitet die mehrfach ausgezeichnete Nachwuchsregisseurin Nele Dehnenkamp die Afroamerikanische Mutter Michelle Bastien-Archer dabei, wie sie unermüdlich für die Freilassung ihres Ehemanns kämpft. Jermaine behauptet, unschuldig wegen Mordes zu einer 22-jährigen Haftstrafe verurteilt worden zu sein.

In einem kräftezehrenden Familienalltag aus Telefonanrufen, kurzen Besuchen im Gefängnis und Briefen kämpft Michelle für ein Berufungsverfahren in Jermaines Fall und träumt von einem idyllischen Familienleben außerhalb der Gefängnismauern. Der Film ist über neun Jahre hinweg entstanden und dokumentiert feinfühlig Michelles emotionale Reise bis zur Entlassung ihres Ehemannes. Sie heiratete ihren Jugendfreund Jermaine im sterilen Besuchsraum eines Hochsicherheitsgefängnisses. Ihr Ehemann behauptet, zu Unrecht wegen Mordes verurteilt worden zu sein. Er verbüßt eine 22-jährige Haftstrafe im berüchtigten Sing Sing Gefängnis in der Nähe von New York. Jahrelang kämpft Michelle unermüdlich dafür, seine Unschuld zu beweisen, während sie sich gleichzeitig als alleinerziehende Mutter um ihre jugendlichen Kinder Paul und Kaylea kümmert. Kurz bevor die Kinder Paul und Kaylea in ihr eigenes Leben aufbrechen, wird ein neues Beweisstück in Jermaines Fall entdeckt, das ihre Hoffnung auf seine baldige Entlassung wieder aufleben lässt. Entstanden über fast eine Dekade hinweg zeichnet der Dokumentarfilm ein intimes Porträt weiblicher Widerstandskraft, inmitten des maroden US-amerikanischen Justizsystems.

Michelle setzt sich unermüdlich dafür ein, die Unschuld ihres Mannes zu beweisen, während sie sich gleichzeitig als alleinerziehende Mutter um ihre jugendlichen Kinder Paul und Kaylea kümmert.

Beziehung aufrecht zu erhalten ist schwer

Nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd haben auch in Deutschland viele Menschen für die Rechte von Schwarzen und People of Color demonstriert. „For the Time Being“ erzählt die in den Protesten angemahnten strukturellen Benachteiligungen Schwarzer Menschen am konkreten Beispiel des US-amerikanischen Justizsystems. Mehr als 1,7 Millionen Menschen verbüßen derzeit in den Vereinigten Staaten eine Haftstrafe, darunter überproportional viele junge Afroamerikaner aus schlechten ökonomischen Verhältnissen. Während in den Medien bisher vornehmlich die Erfahrungen von inhaftierten Männern beleuchtet wurden, macht „For the Time Being“ die Arbeit sichtbar, die weiblichen Angehörigen abverlangt wird, um eine Beziehung zu einem inhaftierten Menschen aufrecht zu erhalten – eine Lebensrealität, die Michelle mit mehr als einer Million anderen Frauen in den USA teilt. Michelles unbeirrbarer Glaube an eine bessere Zukunft und ihr unerschütterlicher Tatendrang sind dabei ein eindrückliches wie universelles Beispiel weiblicher Widerstandskraft.

Besuchszeiten knapp bemessen

In den Vereinigten Staaten saß im vergangenen Jahrzehnt zeitweise fast 1 % der erwachsenen Bevölkerung im Gefängnis. In Deutschland sind die Zahlen deutlich niedriger. 172 Justizvollzugsanstalten gibt es hierzulande, in denen an die 60.000 Menschen eine Strafe verbüßen. Doch auch hier sind 95 % der inhaftierten Männer – und damit auch Söhne, Partner, Ehemänner und Väter, die Lücken in ihren Familien hinterlassen. Und damit sind es auch in Deutschland vor allem Frauen und Kinder, die die Auswirkungen einer Inhaftierung direkt in ihrem Leben zu spüren bekommen. Gerade Kinder leiden unter dem Kontaktentzug während der Inhaftierung eines Elternteils. Für sie es ist schwer verständlich, warum der eigene Vater nicht rechtzeitig am Geburtstag anruft oder beim Familienurlaub fehlt – Erfahrungen, die hierzulande rund 100.000 Kinder machen. Zwar dürfen sie ihren Vater in Haft besuchen, aber die Besuchszeiten sind knapp bemessen. Nur ein bis vier Stunden Besuch im Monat sind gesetzlich garantiert. Zugleich ist es für Kinder meist eine schwierige Erfahrung, den eigenen Vater im Gefängnis zu erleben. Sie sind verwirrt von der streng regulierten Besuchssituation; der Kontrollverlust und das Ohnmachtsgefühl, von den Behörden abhängig zu sein, weitet sich auf die Familie aus.

Stigma färbt auf Angehörige ab

Für die Ehefrauen und Mütter ist der Wegfall des Partners und zweiten Elternteils häufig eine überfordernde Erfahrung. Als Quasi-Alleinerziehende stemmen sie die emotionalen Lasten der Familie. Hinzu kommt: Eine Haftstrafe ist auch eine finanzielle Herausforderung. Das einzige oder zweite Familieneinkommen entfällt, bei Leistungsempfänger*innen werden Bezüge gekürzt. Die Anfahrt zu Gefängnisbesuchen muss bezahlt werden, genauso die Telefonate in die JVA oder das Versenden von Paketen. Auch Anwaltskosten werden häufig von Familienangehörigen übernommen und nicht selten tilgen Frauen die Schulden ihres inhaftierten Partners und unterstützen ihn bei der Anschaffung von Kleidern, Hygieneartikeln oder einem Fernsehgerät im Gefängnis. Es ist ein Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, dass sich die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausschließlich gegen den Verurteilten selbst richtet und doch werden Familien durch eine Gefängnisstrafe in sozialer und finanzieller Hinsicht „mitbestraft“. In ähnlicher Weise färbt auch das Stigma der Straffälligen auf ihre Angehörigen ab. Betroffene berichten, dass sich Freunde und Familie von ihnen abwenden. Häufig schämen sich Angehörige für die Tat und ihre Folgen. Die Liebe zu einem straffällig gewordenen Menschen fühlt sich selbst wie ein Verbrechen an. Angehörige verschweigen, dass sie einen Partner oder Elternteil im Gefängnis haben und isolieren sich. Die Konsequenz: Gefangene und ihre Familien verschwinden aus dem öffentlichen Blick. Mehr Informationen…

Quelle und Fotos: ACROSS NATIONS Filmverleih UG

Der Film startet am 18. April 2024 in Deutschland im Kino. Die feierliche Premiere findet in Stuttgart im Cinema EM der Innenstadtkinos statt. Zwischen dem 19. und 24. April 2024 wird es eine kleine Kinotour mit der Regisseurin geben. Mehr Informationen zu allen Vorführ-Terminen gibt es hier...

 

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