Gedanken eines ehemaligen Gefängnisseelsorgers und Vaters eines mehrfach inhaftierten Sohnes.
„Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient dem Ziel, Gefangene zu befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Der Vollzug der Freiheitsstrafe hat darüber hinaus die Aufgabe, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen“ § 1 StVollzG NRW). „Das Leben im Vollzug ist den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit wie möglich anzugleichen. Der Vollzug ist von Beginn an darauf auszurichten, die Gefangenen zu befähigen, sich nach der Entlassung in das Leben in Freiheit einzugliedern. Fähigkeiten der Gefangenen, die sie für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und sozialer Verantwortung benötigen, sind zu stärken …“ (§ 2 Abs 1 StVollzG NRW).
Liest sich gut. Nach meinen Erfahrungen aber wird das Ziel des Strafvollzuges häufig nicht erreicht. Der zweite Satz von § 1 macht mich stutzig. Offensichtlich geht der Gesetzgeber davon aus, dass der Straftäter weitere Straftaten beginge, wenn er nicht in Haft wäre. Und dieser Satz macht mich wütend. Der Staat weiß sich im Umgang mit straffällig gewordenen Menschen nicht anders zu helfen, als sie zu inhaftieren oder, böse gesagt: wegzusperren, anstatt sie mit sozialpädagogischer und psychologischer Begleitung zu einem Leben ohne Straftaten zu befähigen, draußen, ambulant, im wirklichen Leben.
Nicht vergleichbar mit Lebensverhältnissen draußen
Das Leben im Gefängnis steht in völligem Gegensatz zum Leben in Freiheit. Alle Entscheidungen werden dem Gefangenen abgenommen. Für alles muss er fragen, also einen Antrag stellen. Bei Personalknappheit bei den Vollzugsbediensteten ist der Gefangene, wenn er keine Arbeit oder keine Schule hat, im schlimmsten Fall 23 Stunden am Tag eingesperrt. Nur eine Stunde am Tag steht im die Freistunde zu, wo er Kontakt zu anderen Gefangenen hat. Kontakte zur Außenwelt, zur Familie, zu Freunden sind stark eingeschränkt, ja weitgehend unmöglich. Zweimal im Monat eine Stunde Besuch, kontrollierte Briefe, seltene Telefonate unter Aufsicht, zweimal im Jahr ein Paket, Ausschluss von den social medias, überteuerte Preise beim Einkauf – sind diese Zustände vergleichbar mit den allgemeinen Lebensverhältnissen? Viele Gefangene haben keinen Schulabschluss, keine abgeschlossene Ausbildung. Viele Tätigkeiten in den Arbeitsbetrieben, wenn es überhaupt welche gibt, sind sehr einfach, oft stumpfsinnig. Die Entlohnung ist ein Witz, sie entspricht etwa einem Zehntel des gesetzlichen Mindestlohns. Die Anstalt zahlt für den Gefangenen nicht in die gesetzliche Rentenversicherung ein. Untersuchungsgefangene haben keinen Anspruch auf eine Arbeit. In manchen Gefängnissen gibt es keine Möglichkeit, einen Schulabschluss nachzuholen oder eine qualifizierte Ausbildung zu machen. Wie soll so ein Gefangener auf ein Leben in Freiheit vorbereitet werden?
Kein Vorschuss möglich
Mein Sohn hatte bei seinen letzten Inhaftierungen Arbeit, als Hausarbeiter im Gefängnis. Sein Lohn wurde für ihn auf seinem Personenkonto angespart. Einen Teil konnte er für den Einkauf verwenden, ein größerer Teil wurde verwahrt, um bei seiner Haftentlassung als Übergangsgeld zum Start in das Leben in Freiheit zur Verfügung zu stehen. Leider waren bei ihm Pfändungen offen. Bei seiner Entlassung wurden ihm 41 Euro ausgeben, den Rest behielt der Staat ein, um die Gläubiger, insbesondere die Landesjustizkasse zu befriedigen. Das Sozialamt gab ihm keinen Vorschuss, die Bearbeitung seines Sozialhilfeantrages dauerte acht Wochen. Kann so ein Strafentlassener sein Leben in Freiheit beginnen?
In der Publikation ZEIT las ich ein interessantes Portrait des ehemaligen RAF-Terroristen Klaus Jünschke unter dem Titel „Freiheit für alle?” Er gehörte der RAF an und saß 16 Jahre in Haft. Heute kämpft Klaus Jünschke für eine Welt ohne Gefängnisse“. In dem Beitrag von Maris Hubschmid wird behauptet, dass über die Hälfte der Inhaftierten ursprünglich nur zu einer Geldstrafe verurteilt wurden. Da sehr viele dieser wegen geringfügiger Delikte zu einer Geldstrafe Verurteilten das Geld nicht haben, die Strafe zu bezahlen, treten sie eine Ersatzfreiheitsstrafe an. Warum war und ist das Schwarzfahren in der Straßenbahn überhaupt eine Straftat?
Psychische Beeinträchtigungen
Viele Gefangene sind psychisch beeinträchtigt. Ob sie vor der Inhaftierung schon psychisch belastet waren oder ob das Leben im Justizvollzug sie psychisch krank gemacht hat, lässt sich oft nicht klären. Tatsache ist aber, dass es für psychisch auffällige oder kranke Gefangene keine angemessene Behandlung gibt. Wenn sie nicht ihre Tat wegen einer psychischen Beeinträchtigung begangen haben und deshalb zum Maßregelvollzug in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik verurteilt wurden, werden sie in der Regel nicht behandelt. In diesem Zusammenhang fragte ich mich damals, warum mein Sohn, ohne Beruf, ohne regelmäßiges Einkommen, wegen Drogenhandels in geringem Umfange und wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verurteilt und inhaftiert, zu Geldstrafen verurteilt wurde. Wovon sollte er die Geldstrafe bezahlen? Wie viele andere Drogenabhängige war auch mein Sohn damals hoch verschuldet. Wie viele andere Kleinkriminelle hatte er keine Berufsausbildung absolviert, hatte -wenn überhaupt – nur kurze Aushilfstätigkeiten verrichtet. Wovon hätte er eine Geldstrafe von 4.800 Euro bezahlen sollen? Gilt in unserem Rechtstaat der Grundsatz „Nur wer Geld hat, kann dem Unsinn der Ersatzfreiheitsstrafe entgehen?“ oder: „Arme Leute müssen brummen, reiche Leute zahlen Summen?“ Im Zusammenhang mit dem Gedanken der Resozialisierung heißt das: Die Ersatzfreiheitsstrafe müsste dem Zweck dienen, die Schulden abzuarbeiten oder aus der Schuldenfalle herauszukommen.
Kaum jemand kümmert sich um straffällige Menschen
Es mag Straftaten geben, die eine langjährige Freiheitsstrafe erfordern. Es mag Straftäter geben, von denen eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht. Das sind aber relativ wenige. Unsere Gefängnisse aber sind voll, zum Teil überfüllt. Warum? Weil niemand sich um die straffällig gewordenen, inhaftierten Menschen kümmern will. „Aus den Augen, aus dem Sinn? Strafgefangene haben keine Lobby. Oder ist unser Staat rachsüchtig? „Wenn du mein Gesetz übertritts, werde ich böse. Und wenn ich auf dich böse bin, muss du bestraft werden, denn du warst böse. Böse Menschen gehören hinter Gittern.“ Wegsperren statt behandeln? Das Ziel des Strafvollzuges wird bei den meisten Gefangenen nicht erreicht. Die Lebensverhältnisse hinter Gittern und die allgemeinen Lebensverhältnisse draußen sind grundverschieden. Mit den meisten Gefangenen ohne Schul- oder Berufsabschluss passiert nichts im Gefängnis, das sie qualifiziert, um nach ihrer Haftentlassung von selbstverdientem Lohn ein Leben in sozialer Verantwortung und ohne Straftaten führen zu können. Ein Gefangener, der nicht seine Familie oder seine Eltern im Rücken hat, steht nach der Entlassung erst einmal vor dem Nichts. Ein Skandal!
Robert Eiteneuer