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Poelchau: Warnung, wenn die Gestapo ins Gefängnis kam

22. Juli 2023

Harald Poelchau (1903 – 1972) bewarb sich Ende 1932 um das Amt eines Gefängnispfarrers in Berlin. Im März 1927 hatte er die erste theologische Staatsprüfung, im Januar 1932 die zweite Prüfung absolviert und mit einer Arbeit über das „Menschenbild des Fürsorgerechts“ bei Paul Tillich zum Doktor der Philosophie promoviert. Als er die Mitteilung erhielt: „Gemäß Verfügung des…. Preußischen Justizministers… werden Sie… im Einverständnis mit dem Evangelischen Konsistorium in Berlin… mit der probeweisen Verwaltung der freien Strafanstaltspfarrstelle beim Strafgefängnis in Berlin-Tegel… beauftragt“ , war Adolf Hitler bereits Reichskanzler.

Bis zu der Zeit, in der Poelchau sich um eine Anstellung bewarb, waren seit dem Ende des Ersten Weltkrieges insgesamt „nur“ rund zwei Dutzend Menschen hingerichtet worden. Der junge Pfarrer brauchte in dem Augenblick nicht zu fürchten, womöglich mit Aufgaben betraut zu werden, die alle Erfahrungen der Neuzeit – einschließlich der Erlebnisse der französischen Zeitgenossen der Französischen Revolution – zu relativ harmlosen Ereignissen machten. Als er dann schließlich erfuhr, daß er beispielloses Grauen erleben würde, konnte und wollte er nicht mehr zurück. Rund 1200 Todeskandidaten vertrauten ihm ihre letzten Gedanken, Wünsche, Hoffnungen und Regungen an. Niemand hat diese Menschen jemals in einer solchen Situation erlebt. Noch niemals in der Geschichte hat ein Mensch erfahren, überlebt und überliefert, was dieser Mann, der Pfarrer Harald Poelchau, bestehen und überwinden mußte. Hier berichtet er aus den Gefängnissen der nationalsozialistischen Zeit, was und wie es geschah….  Aus dem Vorwort von Werner Maser

Die Justizvollzugsanstalt JVA Berlin-Tegel heute. Foto: Imago.

Beamtenschaft

Als ich in Wochen nach Hitlers „Machtübernahme“ meinen Dienst im Gefängnis Tegel antrat, traf ich auf eine Beamtenschaft, die vom Nationalsozialismus erst ganz wenig zersetzt oder durchsetzt war. An der Spitze dieser Hierarchie, denn ein Gefängnis ist ja seinem ganzen Wesen nach eine autoritäre Hierarchie, stand Wrucks, der Oberdirektor, wie sein Titel lautete. Er war ein alter Verbindungsstudent, sehr gutartig und energisch zugleich. Ganz offen erklärte er, daß er sich nicht politisch engagieren, aber auch nicht politisch belasten wolle. „Wenn es nötig ist, hebe ich nicht nur das Händchen, sondern wie die Hunde auch das Beinchen“, sagte er. Ihm unterstanden im wesentlichen mittlere Beamte. Die Akademiker, der Arzt und die drei Pfarrer, hielten zusammen. Es war ein freundschaftliches, kameradschaftliches Verhältnis, das durch alle Beamtenchichten hindurchging und von den Unterbeamten der Wachtmeister über die mittleren, die lnspektionsbeamten, bis zur Leitung reichte. Wachtmeister wurden gewöhnlich die Kapitulanteri der Wehrmacht, die sogenannten „Zwölfender“. Wer zwölf Jahre in der Reichswehr oder Wehrmacht gedient hatte, hatte Anspruch auf eine staatliche Versorgung und war auch relativ gut als Wachtmeister für Gefangene geeignet, weil Gefangene ja ähnlich wie Rekruten im militärischen Gehorsam behandelt wurden. Die modernen Erkenntnisse, daß ein Gefängnis von einem Psychologen besser als von einem Juristen geleitet werden solle, lagen damals noch in weiter Ferne. S. 34

Es gab eine Begräbniskasse, und es ist vielleicht am besten deutlich zu machen, wie das kameradschaftliche Verhältnis war, wenn man von der Begräbniskasse ausgeht. Wenn zum Beispiel ein Beamter starb, wurde aus dieser Kasse ein Kranz gekauft. Die Beamtenschaft begleitete den Sarg. Es gab ein Blasorchester, das im Begräbnis-Zug voranging. Auf dem Friedhof spielte es „Jesus meine Zuversicht“. Meistens leitete die Beerdigung einer der Anstaltsgeistlichen. Nach der Beerdigung ging es wieder im geschlossenen Zuge zum Friedhof hinaus, und gleich hinter dem Friedhofstor spielten die Musiker „Freut euch des Lebens, solange noch das Lämpchen glüht“. Nach diesem „feststehenden“ Zeremoniell zog alles in eine der großen Wirtschaften in Tegel zu einem „kameradschaftlichen“ Essen. Eisbein und Sauerkraut gab es für die Robusten, Kalbshaxe für die zarter Besaiteten. Das Lokal, das dem Gefängnis Tegel gegenüberlag, „Die Goldene Freiheit“, wurde von den Beamten nicht frequentiert. Dort trafen sich die Gefangenen, wenn sie aus dem Gefängnis entlassen worden waren. Diese Schilderung betrifft natürlich nur die Verhältnisse in den ersten Jahren nach Hitlers „Machtübernahme“. Später wurde die Beamtenschaft zunehmend durch Hilfswachtmeister durchsetzt, die von der SA kamen, Dies galt selbst auch für Posten im Rahmen der höheren Beamtenschaft. Als eine Pfarrstelle frei wurde, wurde auch sie schließlich mit einem Oberpfarrer besetzt, der als engagierter „Deutscher Christ“ und Nationalsozialist bekannt war. Was für ein strammer Nazi er war, erfuhr nicht nur ich bald. So verweigerte er beispielsweise einem Gefangenen die Teilnahme am Gottesdienst, nur weil er „Abraham“ hieß.

Im Verlauf des Krieges wurde zwangsläufig eine große Anzahl jüngerer Gefängnis-Beamter eingezogen. Ihre älteren Kollegen, die daheimblieben, „igelten“ sich ein und standen in einer Art Notgemeinschaft zusammen. Wie der „Ersatz“ dachte, der die Lücken füllen mußte, erfuhr man bald. Rasch zeigte sich, wer menschlich dachte und handelte. Und ebenso schnell war zu erkennen, wer dem NS-Regime überzeugt ergeben war – oder wer ihm nur diente, weil er Schwierigkeiten aus dem Wege gehen wollte. Es gab immer Beamte, auf die ich mich verlassen konnte. Es ging später manchmal sogar soweit, daß sie mich warnten, wenn die Gestapo ins Gefängnis kam, um Gefangene zu vernehmen, die ich gar nicht besuchen durfte. S. 35

Anstaltskirche in Herford um 1930.

Als ich Gefängnispfarrer wurde, war Paul von Hindenburg Reichspräsident. Die meisten der im Gefängnis tätigen Justizbeamten, mit denen ich es zunächst zu tun hatte, hatten nach ihrer Einstellung einen anderen Eid geschworen, als ich es schließlich tat. Wie die Dinge sich „entwickeln“ würden, konnte anfänglich niemand wissen, auch wenn nicht gerade wenige später behaupteten, ihnen sei, nachdem Hindenburg am 30. Januar 1933 Hitler zum Reichskanzler berufen habe, alles „klar“ gewesen. Jedermann weiß: Wer vom Rathaus kommt, ist klüger, als er es zuvor gewesen ist. Wir erlebten 1933 und 1934 durchaus nicht selten, daß Leute den Reichskanzler nicht nur kritisieren, sondern sogar beschimpfen konnten, ohne dafür zur Verantwortung gezogen und bestraft zu werden.

Verpfleger

In diesem Zusammenhang möchte ich zunächst einen stillen Mann schildern, der die Kantine des Gefängnisses Plötzensee versorgte: Willi Kranz. Ich lernte ihn kennen, als er mich bat, doch darauf zu achten, daß die Verurteilten auch wirklich das Brot und die Wurst bekämen, die er für sie zurechtgeschnitten hätte. Es bestand die Gefahr der Unterschlagung dieser „letzten“ Nahrungsmittel. „Vater Kranz“, so nannten die Häftlinge ihn, achte eifersüchtig darüber, daß nichts verlorenging, und er steckte den Verurteilten, so oft er konnte, Nahrungsmittel zu. Er war ein Mann, der wenig sprach und gern nur durch Gebärden andeutete, was er wollte. Mir und den Verurteilten hat er viel geholfen. Ein jüdisches Kind verbarg er ein ganzes Jahr hindurch bei sich. Einen Mann, dessen Eltern in Auschwitz ermordet worden waren, verpflegte er lange Zeit heimlich. Und er tat alles das selbstlos. Sein Wirken erstreckte sich weit über Plötzensee hinaus. Es gelang ihm, Verbindungen bis in das Zuchthaus Brandenburg hinein anzuknüpfen. Durch seine Hilfe hatten wir in der größten Hungerzeit (1944) immer einen Vorrat von Lebensmitteln für die Gefangenen bereit. 1945 brannte bei den Kämpfen sein gesamtes Warenlager ab: Tabak und andere Utensilien. Ich traf ihn erst im Juli 1945 wieder. Er war Altwarenhändler geworden; mit einem Handwagen fing er von vorne an und klaubte sich däs Papier in alten, leeren Kasernen und an anderen Orten zusammen. S. 36 – 38

Gefangene

Tatsache ist jedoch: Während des Krieges hungerten wir alle, die Gefangenen zweifellos noch schlimmer als die „Freien“. Am schlimmsten waren die dran, die infolge ihrer Raucherleidenschaft das ihnen zustehende Brot gegen Zigaretten eintauschten. Wer einer Verpflegungsausgabe beiwohnte, konnte sich eigentlich nur bedrückt abwenden. Da stritten sich die Häftlinge, die ja kaum etwas zum „Kauen“ bekamen, beispielsweise um die Brotenden, die sogenannten „Kanten“. Um unnötige Streitereien auszuschalten, wurde in den meisten Abteilungen eine „Kantenordnung“ eingeführt. Sie sollte verhindern, daß „Kanten“ an bevorzugte Gefangene verschoben würden. Hunger war so allgemein und so selbstverständlich, daß er nur noch bei Erkrankungen zur Sprache kam. Dann verordneten die Ärzte Zusatzkost, die beispielsweise bewilligt wurde, wenn jemand an Ödemen litt. Bis zuletzt gap es jedoch Diätkost für Zuckerkranke und Tuberkulosekranke. Der Hunger bildete aber nur einen Teil des Martyriums, dem die Verurteilten ausgesetzt waren.

Im Tegeler Gefängnis war 1 ½ Jahre lang einer der prominentesten Häftlinge, der evangelische Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, der am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg umgebracht wurde. 1942 wurde das Haus 3 des Tegler Gefängnisses von der Wehrmacht beschlagnahmt und als Wehrmachts-Untersuchungsgefängnis eingerichtet. Es war das Gefängnis, das mir ursprünglich zugeteilt worden war. Ich blieb auch dann noch in diesem Haus, da ich gleichzeitig Standortpfarrer im Nebenamt mit dem Auftrag wurde, notfalls einigen Militärgefängnissen zur Verfügung zu stehen. In der Bonhoeffer-Biographie von Eberhard Bethge, der die Verhältnisse in diesem Wehrmachts-Untrsuchungsgefängnis schildert, geschieht das aus der Sicht eines Gefangenen, was natürlich voreingenommen ist, auch wenn sich die Einzelheiten im wesetlichen mit meinen eigenen Beobachtungen deckten. Wenn ein Gefängnis nicht mit Beamten, sondern mit für diesen Zweck abgestellten Soldaten besetzt ist, können natürlich Dinge geschehen, die aus dem Rahmen laufen. Doch es gab eine Reihe von Soladten, die mit den Gefangenen symphatisierten und ihren Dienst nur buchstäblich stur versahen. S. 40

In den ersten Jahren hatten wir Juden im Gefängnis. Für sie war erstaunlicherweise sogar ein Rabbiner, Dr. Josef, angestellt. Er emigrierte noch rechtzeitig. Danach versuchte ich, die Seelsorge auch an Juden wahrzunehmen. Es wurden jedoch immer weniger, und die meisten wurden, wenn sie das Gefängnis verließen, der Gestapo ausgeliefert. Ich erinnere mich eines Falles, als mir ein Gefangener unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraute, daß er Halbjude sei. Er fragte mich, ob er das dem Richter wohl offenbaren sollte und ob es als mildernder Umstand gelten und er damit eventuell seinen Kopf retten könnte. Ich warnte ihn, da ich überzeugt war, daß diese Tatsache ihn eher noch mehr belasten würde, als wenn sie unbekannt bliebe. Ob er hingerichtet wurde, weiß ich nicht. Ich verlor ihn aus den Augen. Das Geheimnis hat er bewahrt.

Ein anderer politischer jüdischer Gefangener hatte eine mehrjährige Zuchthausstrafe zu verbüßen und saß im Zuchthaus in Brandenburg. 1943 sollte er entlassen werden. Wir wußten jedoch, daß ihm dann das Schicksal aller anderen drohte: das Konzentrationslager. Im Gefängnis war er seines Lebens relativ sicher. Daher überlegten wir, was man ihm für eine neue Straftat andichten könnte, um ein neues Verfahren einzuleiten und einen längeren Aufenthalt im Zuchthaus zu sichern. Man hätte ihn als Homosexuellen verurteilen können, was er nicht war, wenn falsche Zeugen aufträten, die ihn dessen bezichtigten. Als das Jahr 1943 herankam und seine Entlassung nahte, waren Juden nicht mehr rechtsfähig. Sie wurden wie die Tiere behandelt. Unser schöh vorbereiteter Plan kam nicht mehr in Frage. Der Jude wurde entlassen und der Gestapo überstellt. Seine Frau hat ihn noch ein paarmal gesehen, heimlich in Abständen von etwa 14 Tagen, im Konzentrationslager in der Wuhlheide. Dabei hat sie erleben müssen, wie er immer mehr dahinsiechte, abnahm und elendiglich zugrundeging.

Es war der Mann der späteren Justizministerin der DDR, Hilde Benjamin. Manches an den harten Zügen von Frau Benjamin ist durch die Unmenschlichkeit erklärbar, die sie durch die Nazis erlitten hat. Gelegentlich ist es gelungen, die letzte Härte der nationalsozialistischen Gesetze, das KZ und den Tod, durch relativ harte Gerichtsurteile abzuwenden, was im Falle Benjamin nicht gelang. Wenn es möglich war, die Angeklagten dem Zugriff der Gestapo durch gerichtlich verhängte lange Freiheitsstrafen zu entziehen, hatten die Angeklagten die Chance, das NS-Regimne zu überleben. So kam es denn auch nicht selten vor, daß wohlmeinende Verteidiger die Richter geradezu baten, ihre Mandanten zu langen Freiheitsstrafen zu verurteilen. Doch auch das war nur eien Zeitlang möglich, denn am 16. September 1939 wurde das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Allgemeinen Strafverfahrens, des Wehrstrafverfahrens und des Strafgesetzbuches erlassen, durch das rechtskräftige (und bis dahin als unabänderlich geltende) Strafurteile durch den Oberreichsanwalt nachträglich korrigiert werden konnten. S. 85-86

Seelsorge

Mein katholischer Kollege Buchholz und ich übten die Seelsorge konfessionell getrennt aus. Er ging zu den Katholiken, ich zu den Protestanten, es sei denn, daß einer von uns gerade verhindert und „Not am Mann“ war. Ich ging nicht nur zu denen, die der Kirche angehörten, sondern auch zu den Dissidenten, zunächst, ohne daß sie mich gefragt hatten, oft auch, weil sie mich riefen. In den letzten Stunden spielten weder die konfessionelle noch die antikonfessionelle Zugehörigkeit eine entscheidende Rolle. Es ging dann vor allem um den rein menschlichen Zuspruch. Natürlich war mir die Skala des Zuspruchs mit Menschen vertrauter, denen ich zum Beispiel das heilige Abendmahl geben konnte. Aber es blieb genug Raum in der Mitmenschlichkeit und auch in den politischen gemeinsamen lnteressen, so daß auch die Dissidenten sich an mich wandten. Selbstverständlich gab es Ausnahmen, aber auf krasse Ablehnung bin ich eigentlich niemals gestoßen. S. 84

Aus: M. Maser, H. Poelchau: Der Mann, der 1000 Tode starb | Moewig Dokumentation, Rastatt 1986
Mit freundlicher Genehmigung: Pabel-Moewig Verlag KG, Hamburg

 

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