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Aus dem Rahmen gefallen. Eigentlich bin ich ganz anders

6. Juli 2024

„Eigentlich bin ich ganz anders, nur komme ich so selten dazu“, schrieb der österreichisch-ungarische Schriftsteller Ödön von Horvath. Manchmal erscheint das eigene Ich einem selbst oder anderen plötzlich ungewohnt und fremd, so, als wäre da jemand anderes zur Tür hereingekommen. Die Erfahrung Jesu zeigt, wie sehr dies auch spirituell gilt: wo Menschen sich festgesetzt haben in ihren gewohnten Vorstellungen und ritualisierten Abläufen, wo ihre Bilder von sich selbst, den anderen und von Gott längst eingefügt sind in die Rahmen ihrer Ansprüche und Erwartungen.

Ein Schrank mit familiärer Geschichte, die bis heute wirkt.

„Du machst hier grad mit einem Bekanntschaft, den ich genauso wenig kenne, wie du“, heißt es dazu in einem Lied von Udo Lindenberg, und weiter: „Ich hab so viele Termine, in der Disko, vor Gericht und bei der Bank, da schick ich einfach meine Vize-Egos, und das wahre Ich bleibt lieber im Schrank“. Mehrere Ichs sind zur Verfügung und können je nach Situation ausgesendet werden. Mit welchen Ichs bin ich unterwegs? Welches ist im Moment am Start? Welches zeigt sich zuhause, welches in der Arbeit und welches im Urlaub? Welches gibt sich in der Kirche die Ehre? Und welches ist von diesen und all den anderen Ichs das eigentliche, das wahre Ich? Kann ich es noch finden, oder habe ich es wie im Lied von Lindenberg schon längst im Schrank versteckt?

Aus dem Rahmen gefallen

Im Evangelium wird erzählt, wie Jesus einmal in seine Heimatstadt zurückkehrte und dort auf Unverständnis stieß. Die Leute erkannten ihn nicht wieder, er schien nicht mehr der Sohn von Maria und Josef zu sein, der Nachbarsjunge aus Zimmermanns Werkstatt, der, den alle gekannt hatten. Jetzt aber war er so anders drauf, und es heißt, sie nahmen Anstoß an ihm. Jesus war aus den Rahmen der gewohnten und gesicherten Heimat- und Familienbilder gefallen. Das Eigentlich-bin-ich-ganz-anders galt dort auch für Jesus, sogar so sehr, dass in der Heimat keine Kraft durch ihn ging. Er konnte die Menschen nicht heilen. War sein wahres ich auch im Schrank versteckt?

Sich festsetzen in ritualisierten Bildern

Es fühlt sich tatsächlich kraftlos an, nicht mit dem wahren Ich vorkommen zu können. Sich zurückhalten oder gar verstecken, weil es nicht angesagt scheint, ist Kräfte zehrend. Die Erfahrung Jesu zeigt, wie sehr dies auch spirituell gilt: wo Menschen sich festgesetzt haben in ihren gewohnten Vorstellungen und ritualisierten Abläufen, wo ihre Bilder von sich selbst, den anderen und von Gott längst eingefügt sind in die Rahmen ihrer Ansprüche und Erwartungen. Da ist kein Raum für jene göttliche Kraft, die lebendig machende und stets neu ins Leben rufende Dynamis. Stattdessen sind nur noch Vize-Egos unterwegs, um all die Gewohnheiten und Ansprüche abzuleisten, derweil das wahre, nach Lebendigkeit sich sehnende Ich im Schrank versteckt ist.

Jesus macht sich davon

Jesus aber hatte sich nicht im Schrank versteckt, es heißt, er zog weiter „in die benachbarten Dörfer und heilte dort“. Das, so scheint mir, macht er auch heute noch so, wenn es vor Ort zu eng wird. Wenn zum Beispiel in unserer Kirche alleiniger Wahrheitsanspruch und Machterhalt wichtiger sind als die Belange derer, die verloren sind und an den Rand gedrängt, oder wenn unsere Gottesdienste nur noch abgelesene Messformulare sind zum Ableisten einer Sonntagspflicht. Dann habe ich den Eindruck, Jesus hat sich davon gemacht – und zwar gemeinsam mit dem wahren Ich.

Wahres Ich zeigen

Sein Evangelium lädt ein, das wahre Ich nicht im Schrank zu verstecken, sondern es vorkommen zu lassen. Es ermutigt, Mensch zu werden, ganz und gar – denn, so seine erstaunliche Botschaft, Gott selbst hat es so gemacht. Und das im Sinne Jesu immer wieder neu, sobald irgendwelche Vize-Egos die Regie übernommen haben. Dann heißt es aufzubrechen ans andere Ufer…

Christoph Kunz, Markus 6, 1-6 | Titelbild: Sonja Schmith

 

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