Die Gefängnisseelsorge steht auf der Schwelle zweier Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die eine bedeutet Freiheit, die andere Gefangenschaft. Beide Welten sind aufeinander bezogen und doch hermetisch voneinander abgeschottet. Nur wenige dürfen die Schwelle übertreten; nur wenige dürfen „Grenzgänger“ sein und damit eine Erfahrung mit der Begegnung von Freiheit und Unfreiheit machen. Die Gefängnisseelsorge ist in eben jenen Oszillationsprozess eingebunden. Ob dieses „Pendeln zwischen den zwei Welten“ auch Resonanzen auf der einen oder anderen Seite hervorrufen kann, gilt es zu klären. Allerdings soll diese Frage noch ein Moment hintangestellt werden. Es gilt vorab zu klären, was eigentlich Freiheit ist.
„Eine [verbindliche] Definition muss schon deshalb schwerfallen“ – so formuliert es Wolfgang Huber – „weil es sich bei [der] Freiheit um ein Gefühl handelt.“ Der Freiheitsbegriff leitet sich in dieser Lesart konsequent vom Individuum ab. Äußere Freiheiten, denen man womöglich aufgrund von rechtlichen Absicherungen sogar den Rang einer weitgehend „objektiven Freiheit“ zusprechen würde, verlieren in diesem Lichte betrachtet an Bedeutung. Im Einzelfall kann es also für ein Individuum unerheblich sein, dass es in einem liberalen Rechtsstaat lebt, der die Freiheitsrechte durch Gewaltenteilung und ein möglichst transparentes Politiksystem zu wahren und schützen versucht. Von entscheidender Bedeutung ist vielmehr die Frage, ob das Individuum sich selbst als frei oder fremdbestimmt empfindet. Der Freiheitsbegriff wird in dieser Hinsicht an den Autonomiebegriff gekoppelt.
Zwischen Freiheit und Unfreiheit
Diese Verbindung von Freiheit mit Autonomie, die Wolfgang Huber mit dem Begriff der „Selbstursächlichkeit“ umschreibt, stellt ein Signum der sogenannten „Spätmoderne“ , unserer gegenwärtigen Gesellschaft, dar. Damit wird ausgedrückt, dass das Konzept der Freiheit heute vom Einzelnen her gedacht werden kann und dass dem Einzelnen zugleich – in der Theorie – alle Türen offenstehen, sein Leben frei nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Ob auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Partnersuche, überall herrscht das Prinzip der freien Wahl. Selbst die Religion stellt heute keine unveränderliche Konstante in einer Biographie mehr dar. Man wird nicht mehr in sie „hineingeboren“, man sucht sie sich vielmehr aus und entscheidet sich bewusst für oder gegen sie. Das Leben in unserer heutigen Gesellschaft steht im Zeichen der Freiheit. In der Soziologie hat sich vor allem Ulrich Beck mit den großen Freiheitsgewinnen der Gegenwart auseinandergesetzt und zugleich deren „Schattenseiten“ aufgedeckt. So sind die neuen Freiheiten nicht einfach „umsonst“ zu haben, sie gehen mit gegenläufigen Entwicklungen einher. Ulrich Beck spricht dabei von der Reintegrationsdimension, die parallel zu den neuen Freiheiten eine andere Art der sozialen Einbindung organisiert.
Was damit gemeint ist, deutet Beck mit dem Titel seiner mittlerweile bekanntgewordenen Gesellschaftsanalyse an: Er spricht von der Risikogesellschaft. Freiheiten sind demnach mit Risiken verbunden. Eine Karriere kann erfolgreich sein, sie kann aber auch krachend scheitern. Eine Partnerschaft glücklich und erfüllend sein, sie kann aber auch in einer schmerzhaften und mitunter finanziell belastenden Trennung gipfeln. Die Freiheitsgewinne der Gegenwart sind nicht mit dem automatischen Versprechen eines allgemeinen Glücks für alle verbunden. Dafür wird in der Risikogesellschaft der oder die Einzelne verantwortlich gemacht. Ein Jeder gilt als „seines Glückes Schmied“. Becks Gesellschaftsanalyse weist mithin in der Tendenz kulturpessimistische Züge auf, sie hilft jedoch dabei, die großen Freiheitsgewinne der Gegenwart zu verstehen und kritisch einzuordnen. Und positiv gewendet lässt sich daraus auch eine Verbindung zwischen Freiheit und Verantwortung herleiten.
Einen ähnlichen Ansatz kann man bei der Philosophie der Aufklärung finden, die den Freiheitsbegriff in zwei Richtungen unterschieden hat: Einmal in negativer und einmal in positiver Hinsicht. Die negative Freiheit meint das Freisein von äußeren und inneren Zwängen (Freiheit von), die positive Freiheit wiederum gilt als Befähigung zum freien und selbstverantwortlichen Handeln (Freiheit zu). Diese perspektivische Annäherung an den Freiheitsbegriff macht deutlich, dass Freiheit nicht als eine absolute Kategorie zu begreifen ist, sondern einen Prozess meint, der individuell angeeignet und gelebt werden will. Damit werden die äußeren Strukturen, die ein freiheitliches Leben ermöglichen wollen, keineswegs negiert. Sie stellen jenen Rahmen dar, innerhalb dessen sich ein freies Leben ereignen kann. Und trotzdem kann es innerhalb dieses Rahmens auch ein Leben geben, das von Strukturen der Unfreiheit dominiert wird.
Für die Gefängnisseelsorge scheint mir dieses relative Freiheitsverständnis weiterführend zu sein. Unfreiheit und Freiheit lassen sich nicht in einer Schwarzweißlogik auf den Raum des Gefängnisses übertragen, obwohl diese Institutionen eben jene Unterscheidung repräsentieren. Nicht wenige Gefangene können von einem früheren Leben erzählen, das bereits im Zeichen der Unfreiheit stand. Wieder andere Gefangene haben derart lange Zeiten „hinter Gittern“ verbracht, so dass sie sich vor dem Leben in der vermeintlich „freien Wildbahn“ fürchten. Das „Draußen“ wird damit zum Raum der Bedrohung, das „Drinnen“ zum Raum der Sicherheit. Im Gefängnis gibt es für diese relativen Freiheitsbilder in der Regel keinen Platz, sie werden im Zuge der Komplexitätsreduktion – Draußen = Freiheit / Drinnen = Unfreiheit – schlichtweg ausgegrenzt. Anders sieht das bei der Gefängnisseelsorge aus, die eben genau diesen Formen von Komplexität einen Raum eröffnen kann. Sie wird damit im übertragenen Sinne zum Ort, wo Freiheit und Unfreiheit einander begegnen können.
Sicht der Öffentlichen Theologie
Die Gefängnisseelsorge steht auf der Schwelle zweier Welten. Als Grenzgänger hat sie Zugang zu einem hoheitlichen Raum, der grundsätzlich als eine totale Institution beschrieben werden kann. Innerhalb dieses Kontextes eröffnet die Gefängnisseelsorge Freiräume – Anderorte –, die einen Perspektivwechsel ermöglichen und die die fortlaufenden Dynamiken von Fremdbestimmung und Komplexitätsreduktion punktuell aufheben. Die Gefängnisseelsorge löst mit ihrer Präsenz, ihren Angeboten und ihrer grundsätzlichen Andersartigkeit vielfach Resonanzen im Raum des Gefängnisses aus. Dies gilt sowohl für die Inhaftierten und ihre Angehörigen als auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalten.
Auf der anderen Seite der Schwelle – dem sogenannten Draußen – löst die Gefängnisseelsorge ebenfalls Resonanzen aus. Sie betreibt Öffentlichkeitsarbeit; sie geht in Schulen, in Gemeinden und auch an Universitäten, um über die Situationen des Strafvollzugs in kritischer Solidarität zu berichten und aufzuklären. In der Theologie ist diese zweite Seite der gefängnisseelsorglichen Arbeit bislang weitgehend unreflektiert geblieben. Dabei dominiert aktuell in der akademischen Theologie ein Paradigma, das zur Reflexion dieser Handlungen bestens geeignet scheint. Gemeint ist die Öffentliche Theologie, die im Anschluss an die nordamerikanischen Debatten zur civil religion seit den späten 1980er Jahren hierzulande immer wirkmächtiger das Denken und Forschen der Evangelischen Theologie beeinflusst. Die Öffentliche Theologie geht davon aus, dass Theologie kontextsensibel zu verstehen ist, dass sie anhand von Übersetzungsleistungen ihre Inhalte in die Räume der Öffentlichkeit einbringen kann – dass sie sozusagen eine Zweisprachigkeit ausbilden muss – und dass sie selbst eine „Kontrastgesellschaft“ darstellen kann, die als Reflexionsfolie kritische Entwicklungen thematisieren kann, um so nach konstruktiven Wegen für ein sozialverträgliches, nachhaltiges und gerechtes Leben für die soziale Gemeinschaft suchen zu können.
Gefängnisse in unserer Gesellschaft lassen sich als Brennglas bzw. als Seismograph verstehen. Dafür ist es allerdings notwendig, dass man wirklich bereit ist, genau hinzuschauen. Für die Theologie bedeutet das, dass sie ihre Wahrnehmung von diesem Ort und von der Gefängnisseelsorge weiten muss, um zu prüfen, inwieweit die Seelsorge an der Schwelle zwischen dem Raum der Öffentlichkeit und der Nichtöffentlichkeit auch aus Sicht der Öffentlichen Theologie reflektiert werden kann. Gesamter Vortrag…
Niklas Peuckmann, geb. 1990, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Theologie (Homiletik, Liturgik, Poimenik)
und am Institut für Religion und Gesellschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. niklas.peuckmann(at)rub.de