In den Auseinandersetzungen zwischen Recht und Gerechtigkeit sowie der Barmherzigkeit tut sich ein grundsätzliches Dilemma auf, in dem sich die Frage auftut, wie SeelsorgerInnen den Inhaftierten gegenüber „gerecht“ werden können. Wie kann biblisch verstandene und aufgetragene Barmherzigkeit gelebt werden? In einem Rückblick fragt Prof. Dr. Christoph Niemand, Professor für Bibelwissenschaft des Neuen Testaments und Rektor der Katholischen Privat-Universität Linz, nach den Wahrnehmungen und Reflexionen zum Phänomen Haft in der biblischen Tradition und in der Verkündigung Jesu von Nazareth (Lukas 4,18-19).
Was machen die alten biblischen Texte zu “Gefangenen die Entlassung ansagen” mit jenen Menschen, die sich ihnen immer wieder aussetzen? Welche habituellen Reaktionsmuster und Einstellungen mögen ihre eindrücklichen Sprachbilder (ein Gnadenjahr des Herr ausrufen) bei denen auslösen, die damit immer wieder umgehen? Es ist anzunehmen, dass „BibelleserInnen“ angesichts des gesellschaftlichen Systems Haft geneigt sind, die perspektivische Haltung von Menschen, die der Freiheitsentzug trifft, zu verstehen oder gar einzunehmen. Der Zugang zur perspektivischen Haltung derer, die – aus welchen Gründen und mit welchen Zielen auch immer – Menschen in Haft nehmen und halten, wird ihnen demnach ungleich schwieriger und ferner erscheinen. Was immer für das System Haft an rechtsstaatlicher Begründung, gesellschaftlicher Motivation und konkreter Zielsetzung formuliert wird: Ein gewisses Misstrauen gegen solche Diskurse mag den „BibelleserInnen” nicht ganz auszutreiben sein. Nicht dass sie auf der Theorieebene die Einsicht in Notwendigkeit und humane Gestaltbarkeit grundsätzlich verweigern würden. Aber ihre Wahrnehmungsdisposition mag in einer „Hermeneutik des vorgängigen Verdachts” daraufhin vor eingestellt sein, dass der konkrete Haftvollzug an wirklichen Häftlingen notorischer Weise eben nicht „nach Lehrbuch” gelingt und dass er faktisch dann ein System von Lebensvernichtung bleibt.
Und schließlich mag ihr Umgang mit dem System Haft davon geprägt sein, dass ihnen das Offenbleiben, ja mehr noch das aktive Offenhalten der Perspektive auf Freilassung das Kriterium schlechthin ist. „Haft ohne Hoffnung“ – als bewusst organisierte oder auch nur als faktisch seiende – ist ihnen wohl ein axiomatisch ausgeschlossener Anti-Slogan. Als Ertragsformulierung führt die begonnene Thesenreihe weiter: Wenn ChristInnen irgend etwas von den Strukturgesetzlichkeiten der Gottesrede Jesu und vom Ermächtigungs-Modus seines Verkündigens internalisiert haben, wenn irgend etwas davon in ihren sozialen Habitus und in ihre „quasi-instinktiven“ Reaktions- und Handlungsmuster eingedrungen ist, dann ist für ihr Umgehen mit Menschen im System Haft ideal typischerweise Folgendes zu erwarten:
- Sie werden auch schuldig und unberührbar gewordenen Menschen vor allem anderen Respekt zeigen und Würde zusagen.
- Sie werden ihnen unverdrossen eine andere, neue Existenz zutrauen.
- Und sie werden versuchen, sie bei je und je ersten Erfahrungsevidenzen mit einem anderen Handeln und einem anderen Selbstverständnis zu begleiten. Dieses Zusagen und Begleiten kann für Menschen in Haft nur dann hilfreich sein, wenn es diskret ist. Mit Diskretion meine ich dabei aber nicht nur die kommunikativen Tugenden von Unaufdringlichkeit und Zurückhaltung, die frei von Besserwisserei und Bevormundung sein lassen.
Ich meine vor allem jene religiös-theologische Diskretion, in der die ChristInnen wissen, dass auch sie selbst noch keineswegs weit sind mit ihren Erfahrungen von der Gottesherrschaft. Dass diese wirklich schon erfahrbar „unter uns” sei (Lukas 17,21), bleibt immer eine kühne und vorgreifende Ansage. Angemessen bezeugen kann sie nur, wer im Blick auf die Welt, die uns umgibt, auch ihre Prekarität sieht.
Mehrwert für die Institution “Gefängnis”?
Ich habe einen Gang durch biblische Befunde zum Phänomen Haft und durch die Grundlinien der befreienden Jesus Verkündigung angestellt. Als Ertrag habe ich einige Haltungen und habituelle Reaktionsmuster erhoben, die ChristInnen im Umgang mit Menschen in Haft ideal typischerweise prägen. Gibt es aber jenseits davon, dass realexistierende ChristInnen sich davon möglicherweise inspirieren und ausrichten lassen, oder daran reiben und abarbeiten mögen, gibt es also einen Mehrwert dieses Unterfangens für die gesellschaftliche Institution Gefängnis an sich und für die vielen und unterschiedlichen Menschen, die darin arbeiten oder leben? Es ist ja wohl klar, dass dies nicht als Leitbild oder gar Hausordnung einer Haftanstalt im Kontext einer säkularen und wertepluralistischen Gesellschaft taugt.
Die säkulare Gesellschaft kann und darf die Werte- und Sinnkonstrukte einzelner ihrer Mitglieder(gruppen) nicht monopolisieren, sie wird aber wünschen, dass in ihr Menschen sind, deren sozialer Habitus von Werten und Sinnentwürfen geprägt ist. Werte und Sinn sind aber immer konkret, haben Tradition und Namen. Christliche Existenz ist eine dieser benennbaren Traditionen. Die säkulare Gesellschaft ist gut beraten, die Inhalte und Prägungen der verschiedenen in ihr vorhanden Sinn-, Werte- und Glaubensgemeinschaften zu kennen. Und sie darf von diesen Gemeinschaften erwarten, dass sie sich öffentlich einbringen und erklären.
Weltanschauliche Prägungen
Im staatlich-säkularen System Gefängnis arbeiten Menschen ganz unterschiedlicher Prägungen. Manche von ihnen werden im Rahmen einer christlichen Identität motiviert sein, andere von den Geboten, Idealen und Verheißungen anderer Religionen, wieder andere von einem humanistisch-rechtsstaatlichen Ethos oder in bürgerschaftlich-solidarischem Engagement. Und einige haben wohl gar keine spezifische Motivation. Und sicherlich einige haben eine perverse Motivation. Wenn nun Christinnen im System Haft in irgendeiner Form, z.B. seelsorgerlich, sozialarbeiterisch oder als JustizbeamtInnen, mitwirken, sind sie umso mehr gehalten, KollegInnen ihre spezifische Motivation offenzulegen. Und genauso werden sie jene Motivations- und Wertegebäude, die für KollegInnen z.B. in Ausübung einer anderen Religion oder als zivilgesellschaftliches Engagement prägend sind, mit Interesse und Respekt wahrnehmen. Gemeinsame Schnittmengen werden sich ohnehin immer ergeben. Eine positiv gelebte Unterschiedlichkeit in den Motivationen und Sinnkonstrukten der MitarbeiterInnen kann der Institution Gefängnis wohl auch nur gut tun. Und einen monopolistischen Alleinanspruch auf soziale Kompetenz und menschliche Empathie wird schließlich ohnehin kein vernünftiger Mensch erheben wollen.
Religiöse Prägungen und Identitäten, wenn sie in einer funktionierenden pluralistischen Gesellschaft gelebt werden, können durchaus in breiten Transferbewegungen auch auf anders geprägte Identitäten einwirken. Christliches Proprium kann von anderen Gruppen adaptiert und rezipiert werden, ohne dass diese ihr Sosein verlieren. Und dass das Christentum durch seine ganze Geschichte hindurch auch Fremdes empfangen, eingebaut und übernommen hat, ist eine unbestreitbare Tatsache.
Rückzugs- und Schutzraum
Vieles von dem, was den ChristInnen im Blick auf die Wege und Worte Jesu herausfordernd, plausibel und prägend geworden ist, kann auch für andere Menschen plausibel und wertvoll werden, auch wenn sie dem christlichen Glauben als ganzen gegenüber distanziert bleiben wollen. In diesem Sinn behaupte ich, und hoffe auf Zustimmung vieler Nicht-ChristInnen. Wenn das soziale Instrument Haft hinsichtlich eines seiner Hauptziele, der Reintegration, auch nur ansatzweise funktionieren soll, dann muss sie von den Häftlingen als Rückzugs- und Schutzraum für Wege zurück aus Schuld und Verstrickung erlebbar sein. Als solcher Raum aber kann Haft nur erlebt werden, wenn diese drei Strukturmerkmale gelten: Zusage von Würde, Zutrauen einer anderen Existenz, Begleitung von je ersten Erfahrungsevidenzen als andere Existenz.
Zusammenfassen kann man dies alles unter dem Stichwort Ermächtigung. Für ChristInnen sind diese Strukturmerkmale im Blick auf Botschaft, Weg und Person Jesu einsichtig und offenbar geworden. Sie mögen anderen Menschen aufgrund anderer Erfahrungen oder Begründungen plausibel sein. Ich habe die Prägungen, die den ChristInnen aufgrund ihres lesenden Umgehens mit biblischen Texten von Haft und aufgrund ihres Mitgenommen Seins von Jesu Gotteswissen und Welterfahrung eingestiftet sind, in idealtypischer Rede formuliert. Dieser Redetyp mag manchen fremdartig erscheinen und angesichts jenes Bildes, das das realexistierende Christentum immer wieder abgibt, als naiv oder abgehoben gelten.
Im Geschäft der Theologie ist idealtypische Rede aber ein unersetzbarer Modus. So wird Kirche theologisch kritisierbar und so darf sich Kirche auch von innen her herausfordern lassen. Aber auch der einzelne Mensch wird in solcher Redeweise gleichzeitig entlastet und ernst genommen. Wenn nämlich ChristInnen in idealtypischer Weise und ohne Abstriche gekennzeichnet werden z.B. als jene, die Gott „an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilhaben” lässt, damit dieser „der Erstgeborene unter vielen Geschwistern” sei (vgl. Röm 8,29), dann geraten die HörerInnen solcher Worte auch in jene befreiende Distanz dazu, die es braucht, um mit der gleichermaßen verwunderlichen wie atemberaubenden Vorstellung ein Leben lang umzugehen.
Christoph Niemand (*1959 in Linz) ist ein österreichischer römisch-katholischer Theologe. Niemand studierte von 1978 bis 1983 Philosophie und Theologie an der Päpstlichen Hochschule Sant’Anselmo in Rom. Seit 1995 ist Niemand Professor für neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Katholischen Privat-Universität Linz. 2011 unterzeichnete Niemand das Memorandum Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Kapitelauszug von Christoph Niemand mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberIn: Wegsperren oder einschließen? Die Praxis der Freiheitsstrafe zwischen Inklusion und Exklusion. Linzer Philosophisch-Theologische Beiträge, Band 21, Verlag Peter Lang 2010, S. 45-73. Hier: S. 56 f und S. 69-72.