“Stille Nacht, einsam wacht. Nur das traute Paar…“ Was wir sonst an Weihnachten besingen, erleben Menschen in diesem Jahr schmerzhaft am eigenen Leib: In den Seniorenheimen, in denen die Zahl der Infizierten und Corona-Toten am höchsten und die Einsamkeit am größten ist. In den Kliniken, in denen unzählige Erkrankte um ihr Leben ringen und medizinische Fachkräfte bis über die Grenzen ihrer Belastung arbeiten. In den Gefängnissen, in denen Inhaftierte im doppelten Locktown leben. Die Menschen, die um ihren Arbeitsplatz oder ihre wirtschaftliche Existenz bangen. Nicht zu vergessen die Wohnungslosen… Von den hoffnungsvollen Neugeburten kann nicht die Rede sein, oder?
Als im kleinen österreichischen Ort Oberndorf in der Nähe von Salzburg kurz vor Weihnachten 1818 die Orgel ihren Dienst versagte, da bat Kaplan Joseph Mohr mit einem Gedicht in der Tasche den befreundeten Lehrer Franz Gruber um eine Melodie. In der Mitternachtsmesse wurde das Weihnachtslied in der kleinen Nikolauskirche uraufgeführt, beinahe wie eben: Die Gemeinde kannte es nicht und konnte also auch nicht mitsingen, zwei Solostimmen, Chor und Gitarre kamen zum Tragen. „Stille Nacht, heilige Nacht!“ Wie kein anderes Lied fängt es die Stimmung dieser Stunden ein. Gefühlvoll romantisch ist es – es entstand ja auch in dieser Zeit. Es klingt nach Sehnsucht und verheißt Harmonie. Wir finden uns darin, weil es in seiner Schlichtheit ausdrückt, was uns an Weihnachten bewegt. Und wen gerade im eigenen Leben dunkle Sorgen und wehmütige Abschiede bewegen, den rührt es nicht selten zu Tränen. Dieses Lied braucht die Nacht, um seine Kraft zu entfalten; es macht die Nacht erträglicher und trägt hindurch bis zum Morgen: Es ist wahrhaftig ein Weihnachtslied.
„Stille Nacht, heilige Nacht!“ Menschen, die nicht schlafen oder nicht schlafen können, erleben Nächte besonders intensiv. Schmerzen drücken mehr als tagsüber, Verlust und Einsamkeit auch. Die Gefährdungen sind fühlbarer, die uns stets bedrohen. Zweifel melden sich lauter, wenn es still wird um uns. Aber auch die Hoffnung wächst, denn nicht selten verfliegen quälende Gedanken „wie über Nacht“, Kranke verspüren Besserung. Und mit dem Licht wächst neue Zuversicht. Es heißt, nachts würden mehr Kinder geboren als am Tag. „Vielleicht, weil der Stress des Tages die Bereitschaft unterdrückt, Wehen zu bekommen“, meint die Chefärztin einer Geburtsstation. „Sobald Ruhe einkehrt, setzen bei vielen Frauen spontan die Wehen ein.“ Die Nacht ist ambivalent: Altes geht und vergeht, Neues kann geboren werden und das Licht der Welt erblicken.
Gott springt uns zur Seite
„Stille Nacht, heilige Nacht!“ Als der junge Priester Joseph Mohr sein Gedicht aufschrieb, da hatte er gewiss einen Vers aus dem Alten Testament im Ohr: „Als tiefes Schweigen das All umfing und die Nacht in ihrem Lauf bis zur Mitte gelangt war, da sprang dein allmächtiges Wort vom Himmel, vom königlichen Thron herab“ (Weish 18,14–15). Wen wundert’s, dass diese Weisheit bereits in der frühen Christenheit als Hinweis auf die Geburt Jesu gedeutet wurde. Gott springt uns zur Seite. Nichts hält ihn mehr auf seinem königlichen Thron. Es drängt ihn zu uns. „Es“, das sind seine Menschenfreundlichkeit und sein mitfühlendes Herz. Als Mensch lernt Jesus die Nacht kennen mit ihrem doppelten, tiefgründigen Gesicht: Nachts, so heißt es, sucht er die Einsamkeit, um zu beten. In der Nacht des Gründonnerstags überfällt ihn die Angst, und auch die Nähe der Jünger fängt ihn nicht auf. In dieser Nacht ringt er sich durch zur Hingabe. Und als er am Kreuz hängt, wird es finster über dem ganzen Land (vgl. Mt 27,45) am helllichten Tag. Die Nacht des Grabes hat zwei Seiten, Tod und Leben ringen miteinander, aber das Leben siegt, Gottes Treue trägt, er hält sein Wort und steht zu seinem lieben Sohn und reißt ihn heraus aus der Nacht zur Auferstehung.
Gott kommt herunter
Aus der Nacht der finsteren Gewalten wird die Nacht der Verheißung für uns. Keine Nacht hält, was sie befürchten lässt. Jede Nacht endet. Es kommt ein neuer Tag, so sicher wie morgen früh die Sonne aufgeht. Was sich im Schauspiel der Natur abbildet und sich uns tief als Erfahrung eingeprägt hat, darauf dürfen wir auch in den Nächten im übertragenen Sinn hoffen. Denn Gott hat uns in dieser Heiligen Nacht einen Retter gesandt. „Christ, der Retter, ist da!“ Wenn jemand fragt, was wir denn eigentlich zu Weihnachten feiern: Das feiern wir. Er ist da. Wir haben es gehört und erfahren. Die Kunde der Hirten ist über die Zeiten hinweg zu uns gedrungen. Und indem wir Weihnachten feiern, lebt diese Botschaft und kann die Menschen heute in ihren Nächten erreichen, sodass keiner mehr verzweifeln muss. „Stille Nacht, heilige Nacht!“ Was uns so berührt, das ist nicht ein Lied, das ist Gott, dem wir unser Leben verdanken und der uns treu geleitet. Er berührt uns in dieser Nacht und will die Herzen bewegen. So macht er seinem heiligen Namen alle Ehre: Ich bin der „Ich bin da“ – für Dich und für alle Menschen.
Bischof Dr. Georg Bätzing