„Was hilft es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und Schaden zu nehmen an seiner Seele?“ (Mk 8,36).
In Diskussionen über „Muslimische (Gefängnis)Seelsorge“ ist immer wieder zu hören, „Muslime kennen eigentlich gar keine Seelsorge“. Offen bleibt dabei in der Regel der zugrunde liegende Seelsorgebegriff ebenso wie die Frage, ob es Seelsorge nur in einem institutionellen Rahmen gibt. Ein solcher bildete sich im Christentum über viele Jahre hinweg heraus. Oder kennen Muslime etwa nur „religiöse Betreuung“, eine Formulierung, die das Strafvollzugsgesetz (§ 53 Bund) übrigens für Seelsorge insgesamt verwendet, ohne den Begriff an sich zu definieren?
Bei der Fülle von Seelsorgekonzepten, die wir kennen, lassen sich zwar Annäherungen an ein (gemeinsames) Verständnis finden. Letztlich sind es aber die Erfahrungen einzelner SeelsorgerInnen, aus denen sich jeweils ein seelsorgerliches Profil herausbildet. Erst kürzlich hat sich katholischerseits die Deutsche Bischofskonferenz mit einem eigenen Papier zu Wort gemeldet und darauf hingewiesen, dass die Kirche „kein Auslegungsmonopol mehr“ besäße, aber ihr eigenes Verständnis „transparent“ machen müsse. Jedenfalls ist dem evangelischen Theologen Jürgen Ziemer zuzustimmen, wenn er sagt: „Die Seelsorge gibt es nicht.“
Ende des kirchlichen Seelsorgemonopols
In Deutschland finden sich erste Hinweise bzw. Wünsche nach einer Seelsorge für Muslime schon 1982 bei Werner Wanzura. Eine solche gibt es anfanghaft seit den 1990er Jahren. In Österreich gibt es muslimische Gefängnisseelsorge seit 1996. Und 2003 weist die Deutsche Bischofskonferenz auf den wachsenden Bedarf an Islamischer Gefängnisseelsorge hin. 2018 zählte Cemil Şahinöz in seiner Dissertation schon 110 Imame in deutschen Justizvollzugsanstalten. Inzwischen können wir bereits auf eine Fülle von Veröffentlichungen zur muslimischen (und interreligiösen) Seelsorge zurückgreifen, wie schon aus der Bibliographie für Gefängnisseelsorge ersichtlich ist. Dabei zeigt es sich, dass es bis zu den Anfängen islamischer Seelsorge in Krankenhäusern und dann in Gefängnissen zumindest keine Seelsorge im institutionalisierten Sinne gab (und gibt). Der Koran kennt im Übrigen – wie auch die Bibel – kein Wort für Seelsorge, es bietet sich aber als Entsprechung das Wort Barmherzigkeit (rahma) an.
Eher unbemerkt fordern humanistische Verbände schon lange eine „Humanistische Seelsorge“. So wollte beispielsweise der „Bund für Geistesfreiheit Erlangen“ schon 1997 Gefangene betreuen. Der „Humanistische Verband Deutschland/Dresden“ bietet inzwischen „humanistische Seelsorge“ in Gefängnissen in Dresden, Chemnitz und Waldheim an. Die zunehmende Säkularisierung und vor allem auch Entkonfessionalisierung werfen (religionsrechtliche) Fragen auf, die inzwischen mehr und mehr öffentlich debattiert werden. Kirchliche Seelsorge in öffentlichen Einrichtungen wie Gefängnissen ist nicht mehr unbedingt selbstverständlich und wird insbesondere von atheistischen Verbänden zunehmend in Frage gestellt. Beispielsweise wird auf Seelsorge- oder Betreuungsmöglichkeiten in den Niederlanden seitens dieser Verbände gefordert.
Seit Anfang der 2000er Jahre etabliert sich neben der christlichen Seelsorge „Spiritual Care“, zum Teil auch unter dezidiert christlichen Vorzeichen, aber nicht nur. Dabei wird die Frage gestellt, ob hier ein säkulares Seelsorgekonzept vorliegt. Eine Tür für ein solches wird zumindest geöffnet, und KritikerInnen warnen davor. Als ein säkulares Seelsorgekonzept könnte man Wilhelm Schmids lesenswerte „Philosophische Seelsorge“ von 2017 (siehe Buchbesprechung) nennen. In dieser verbindet er eigene Erfahrungen in einem Schweizer Spital mit einem Blick in die Philosophiegeschichte, insbesondere auf Platon, dem wir den Begriff „Sorge um die Seele“ verdanken. Er zeigt, dass es sich zunächst um einen philosophischen Begriff handelt, auf den sich im Übrigen auch die Humanisten berufen. Das heißt, christliche SeelsorgerInnen können und dürfen diesen nicht für sich allein reklamieren (und monopolisieren) dürfen.
Sorge um die Seele(n)
Die moderne Psychologie blendet den Begriff „Seele“ weitgehend aus. Das biblisch hebräische Wort näfäsch, das für Seele steht, bezeichnet die „Lebenskraft eines Menschen“ (Gen 19,17), seine „Personalität“ (Ps 16,9) und wird in der griechischen Übersetzung zumeist mit psyche übersetzt. Der Alttestamentler Ernst Haag erkennt „Seele“ als einen „Schlüsselbegriff für die biblische Anthropologie und für die Seelsorge“. Im christlichen Sinn ist damit die Lebensmitte des Menschen gemeint, „Atem, Leben, Lebenskraft“ oder „Lebensprinzip“. Anselm Grün und Wunibald Müller sprechen vom „Selbst des Menschen“. „Gott offenbart sich in der Seele“, in ihr will er neu geboren werden, so Meister Eckart.
Das islamische Verständnis ist davon im Übrigen gar nicht so weit entfernt: Das koranische nafs (hebräisch näfäsch, griechisch psyche) kann „sowohl das Selbst als auch die Seele“ bedeuten und ruh (hebräisch ruach, griechisch pneuma) „den Lebensatem oder Geist, den Gott Adam einhauchte“, so die Islamwissenschaftlerin Silvia Horsch; oder die „Wohnstätte Gottes“ auf Erden, wie Fateme Rahmati meint.
Den Begriff „Seelsorge“ findet man zwar nicht in der Bibel, aber es finden sich „Äquivalente“, insbesondere im Kontext des Umgangs Jesu mit Rat- und/oder Hilfesuchenden, in seiner Hinwendung zu Menschen, die für die christliche Seelsorge fruchtbar gemacht werden können, mehr aber auch nicht. Basilius von Caesarea (330-379) war es, der den ursprünglichen philosophischen Begriff von der „Sorge um die Seele“ in das Christentum einführte. Er verändert ihn aber insofern, als er statt der Einzahl tēs psychēs den Plural tōn psychōn gebraucht, eine „folgenreiche Veränderung“, wie Doris Nauer bemerkt. Denn gleichzeitig beginnt damit eine Institutionalisierung und gewissermaßen eine Professionalisierung von Seelsorge im Christentum, die zunächst zu einer sehr normativen Seelsorge wurde, was ihr zum Teil noch heute von Atheisten, im Ansatz auch von Schmid, vorgeworfen wird. Dabei wird übersehen, dass sich christliche Seelsorge spätestens seit den 1960er Jahren mehr und mehr eher therapeutischer Ansätze bediente.
In diesem Kontext gewinnt „Spiritual Care“ an Bedeutung, seit etwa 2000 auch in Deutschland (zum Teil kontrovers) diskutiert. So sieht Nauer darin „eine Art ‚weltliche Seelsorge‘“, mit der wohl „auf spirituelle Bedürfnisse jeglicher Art – unabhängig von religiöser und konfessioneller Bindung – eingegangen wird“. In der Tat scheint das der entscheidende Unterschied sein, der letztlich den Veränderungen in der religiösen und konfessionellen Landschaft Rechnung trägt. Der Begriff stammt aus der Palliativmedizin, deren Wurzeln wiederum in der Hospizbewegung liegen. Es war die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die schon in den 1940er Jahren für einen umfassenderen, ganzheitlichen Gesundheitsbegriff plädierte und 2002 die neben der Integration der psychologischen eben auch eine spirituelle Dimension in ihren Gesundheitsbegriff aufnahm. Im Kontext der Gefängnisseelsorge ist dies insofern interessant, als es in den Niederlanden keine kirchlich, sondern staatlich organisierte Seelsorge gibt. Dort kam es nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich zu einer Humanisierung des Strafvollzuges, in dessen Folge auch die Seelsorge neu organisiert und strukturiert wurde. Neben der evangelischen und der katholischen Seelsorge wurde im Laufe der Zeit jüdische, buddhistische, hinduistische und auch humanistische Seelsorge ermöglicht.
„Die sanfte Macht der Hirten“ (Hermann Steinkamp)
Spätestens 2010 begann mit der Aufdeckung des Missbrauchsskandals in der Katholischen Kirche eine öffentliche Debatte nicht nur um den sexuellen, sondern auch um den geistlichen Missbrauch. Damit wurden Macht- und Herrschaftsverhältnisse in der Kirche, die über weite Strecken die kirchliche Seelsorge als Kontroll- und Disziplinierungsinstrument bestimmten, in Frage gestellt. Dies fand seinen Niederschlag nicht nur im Synodalforum I „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag“, sondern auch im Wort der Deutschen Bischöfe „In der Seelsorge schlägt das Herz der Kirche“ vom 8. März 2022. In diesem wird nicht nur vor einem Klerikalismus gewarnt und im Blick auf die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1-11) ein verändertes Amtsverständnis eingefordert, sondern die Machtproblematik ausdrücklich angesprochen – auch und gerade als „geistlicher Missbrauch“.
Schon seit Ende der 1990er Jahre analysierte und problematisierte der Münsteraner Pastoralsoziologe Hermann Steinkamp mit mehreren Veröffentlichungen im Anschluss an Michel Foucault diese innerkirchlichen Machtverhältnisse unter dem Stichwort „Pastoralmacht“. Kennzeichnend hierfür ist der Prozess der Institutionalisierung und Professionalisierung der Seelsorge, „der die Betroffenen […] ihrer Selbsthilfe-Potentiale enteignet“ und zu einer „Entmündigung des Subjekts“ führte. Das wohl wichtigste Instrument zur Kontrolle und Disziplinierung dürfte wohl die Beichte gewesen sein, wie dies Foucault scharfsinnig analysierte, Steinkamp später aus pastoraltheologischer Sicht aufgriff und jüngst auch die Bochumer Dogmatikerin Gunda Werner dogmatisch beleuchtete: In der Beichte hatte die Kirche auch spätestens seit dem Mittelalter eine subtile Kontrollinstanz entstehen lassen, die gewissermaßen Inbegriff ihrer „Pastoralmacht“ wurde.
Grundzüge einer befreienden Seelsorge
„Was willst Du, dass ich dir tue“, fragt Jesus den Blinden, und dieser antwortet, „Herr, ich möchte sehen können.“ (Lk 18,41). Diese Heilungsgeschichte macht deutlich, worauf es ankommt. Steht doch der Blinde exemplarisch für den Menschen, der perspektivlos dasteht und der nach Hilfe sucht. Jesus, von dem wir erwarten, dass er eigentlich wissen müsste, was der Blinde braucht („Der Hirte kennt die Seinen“), fragt gezielt, was dieser will. Und genau darum geht es in der Seelsorge. Nicht zu wissen, was Suchende benötigen, sondern diese selbst zu fragen, was sie brauchen. Sie werden befähigt, eigene Ressourcen zu entdecken, eigene Perspektiven zu entwickeln. Sie werden als Subjekte ernstgenommen und aus ihrem Objektsein befreit. Ganz in dem Sinne, wie es Jesu bei seinem ersten Auftreten in Galiläa ausdrückte: „Der Geist des Herrn […] hat mich gesandt, damit ich […] den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“ (Lk 4, 14-19)
Wenn das die Kurzformel der Botschaft Jesu ist, fügt sie sich ein in die jüdische Botschaft vom befreienden Handeln Gottes, wie sie die Exodusgeschichte erzählt (Ex 12-18; Jos 1-18), von Eugen Drewermann tiefenpsychologisch gedeutet im Sinne von Selbstwerdung/Subjektwerdung. Das biblisch verheißene „Land der Ruhe“ (Ps 95) entspricht der Ruhe, die die Müheseligen und Beladenen bei Jesus finden (Mt 11,28-30), der Ort oder Raum, in dem sie zu sich selbst finden dürfen und die sein dürfen, die sie sind. (Nicht nur) Gefängnisseelsorge zeugt von diesem befreiendem Heilshandeln Gottes und feiert dieses in der Welt des Gefängnisses mit seinen verschlossenen Türen, Zäunen, Mauern und Stacheldrähten und seiner Begrenzungen. Sie zeugt von Entlassung, Freiheit, Gnade in einem System des Freiheitsentzuges. Und sie feiert dieses Heilshandeln und nimmt die Feiernden mit hinein in dieses Handeln Gottes. So kann Seelsorge als Hilfe zur Selbstwerdung, das heißt zur Subjektwerdung, verstanden werden. Michelle Becka hat dies – auch im Anschluss an Foucault – in ihrer „Ethik des Strafvollzugs“ überzeugend beschrieben. Wenn Gefangene ernst genommen und deren Würde respektiert wird, muss ihnen auch Verantwortung für ihr Handeln zukommen können. Seelsorge im Gefängnis hieße dann Entlassung und Augenlicht, Freiheit und Gnade in einer Situation der Unfreiheit anzubieten. Das heißt Perspektiven für eine andere Zukunft, die Chance auf einen Neuanfang zu verkünden.
Dr. Simeon Reininger