„Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers“ verspricht der Untertitel des Buches von Wilhelm Schmidt und macht neugierig darauf, was einen Philosophen in die Seelsorge führt. Vermutlich ist es nicht anders als bei TheologenInnen, die nicht schon durch ihr Wissen für die Seelsorge prädestiniert sind. Ist es eine Botschaft, die sie zu den Menschen bringen wollen, eine Botschaft, die zur Hilfe werden kann für die, die Hilfe brauchen?
Nun, Schmid will den Menschen keine Botschaft aufzwingen, er will ihnen allenfalls einen Weg aufzeigen „das Leben [zu] verstehen“, das Ganze des (eigenen) Lebens in den Blick zu bekommen, um so einen Sinn zu entdecken. Und da ist er den TheologInnen, wie diese heute Seelsorge verstehen, eigentlich ganz nahe. Schmid legt keine philosophische oder säkulare oder nachchristliche Seelsorgelehre vor. Er nimmt seine LeserInnen mit auf seine eigenen Wege durch ein Schweizer Hospital, in dem er 10 Jahre lang immer wieder als Seelsorger unterwegs war. Schmid, vielen bekannt durch seine zahlreichen Veröffentlichungen zu Glück, Unglück, Lebenskunst und anderen Lebensfragen ist ein Philosoph, der nicht hinter seinem Schreibtisch grübelnd versucht die Welt zu verstehen und zu erklären, sondern einer, der in die Welt geht und sich den drängenden und existentiellen Fragen von Leid, Sterben und Tod stellt. Im ersten Kapitel fasst er Gespräche mit PatientInnen zusammen, mit denen er sich gemeinsam diesen Fragen stellt…
Offenheit für Spirituelles
„Was ist eigentlich Leben?“ (15-85) Im zweiten Kapitel berichtet er von seinen Gesprächen mit allen in der Klinik arbeitenden Professionen: „Wie hängt alles zusammen?“ (86-160) Dabei lässt die Frage nicht nur erkennen, dass in einer Klinik wohl alles zusammenhängt, sondern aus den Gesprächen – gerade mit den PatientInnen – wird schon deutlich, dass auch im Leben alles zusammenhängt und allein der Blick auf das Ganze (und vielleicht Umfassende) entscheidend ist, um das Leben sinnvoll erscheinen zu lassen und damit das Leben auch auf seinen Schattenseiten ertragen zu können. Überhaupt ist ihm das Erschließen von Sinn – nicht zuletzt im Anschluss an Viktor Frankl – von großer Bedeutung (vgl. 215; 195-210), freilich nicht als „letzte Wahrheit“ (207). Dabei ist immer wieder spürbar, dass Schmid, der sich in seinem Buch zu keiner Religion oder Konfession bekennt, durchaus eine Offenheit für Spirituelles, Religiöses und selbst Transzendentielles erkennen lässt. Aus seinen Aufzeichnungen könnte man schließen, er habe eine seelsorgerliche Ausbildung, zumindest einen oder mehrere Kurse in nichtdirektiver Gesprächsführung, er müsste mit Carl Rogers sehr vertraut sein oder zumindest ein großes Gespür für das Richtige und Notwendige haben.
Für SeelsorgerInnen dürfte vor diesem Hintergrund schließlich das dritte Kapitel sehr interessant und aufschlussreich sein. Unter der Frage: „Was macht ein Philosoph? Grundzüge einer weltlichen Seelsorge“ (161-236) entwirft er zwar keine (systematische) Seelsorgelehre, um eben „Grundzüge“ zu benennen. Seine Erfahrungen verbindet er mit einem Blick in die Philosophiegeschichte ausgehend von Platon, dem wir den zunächst philosophischen Begriff „Sorge um die Seele“ verdanken.
Dreifaches Seelsorgeverständnis
Im Anschluss an Platon findet sich ein dreifaches Seelsorgeverständnis, das in den zwei eher erzählenden Kapiteln indirekt vorgezeichnet ist:
1. Sie ist die Tätigkeit des Philosophen in Bezug auf Andere, mit der er sich um deren Seele sorgt – Seele verstanden als das Wesentliche des Lebens, als die Energie, aus der ein Mensch heraus lebt, verdichtet in seinen Auffassungen, Überzeugungen, Werten und Regeln.
2. Sie ist die Tätigkeit eines Menschen in Bezug auf sich selbst. Das Ziel der philosophischen Seelsorge ist nicht, dem Gesprächspartner die Sorge um sich abzunehmen, sondern ihn überhaupt erst zu ihr zu befähigen.
3. Sie ist Tätigkeit des Seelsorgers in Bezug auf sich selbst. (162)
Philosophische Seelsorge
Es dreht sich vor allem um sieben (!) Punkte:
1. „Fragen der Phänomenologie“ klären, worum es „eigentlich“ geht;
2. „Fragen der Hermeneutik“, um es zu verstehen;
3. „Fragen der Panoptik mit einem Blick fürs Ganze“;
4. „Fragen der Terminologie“, d.h. „welche Worte bringen zum Ausdruck, was ich sagen will“;
5. „Fragen der Optionalität“, um Möglichkeiten zu erkunden, „ob und wie das Leben zu verändern ist“;
6. „Fragen der Ethik“, die zu einer richtigen Entscheidung führen; und schließlich
7. „Fragen der Asketik“, mit denen konkrete Schritte angegangen werden (178-187). Diese Fragen führen zu Entscheidungen und zur weitergehenden Frage, wer entscheidet. Denn Seelsorge – verstanden als Selbstsorge – kann nur auf Selbstentscheidung und Selbstbestimmung hinführen (186f) und die Autonomie der Seelsorge Nachfragenden respektieren.
Ethik der Sorge für Andere
In der Adaption und Weiterentwicklung des platonischen Begriffes „Sorge um die Seele“ durch die Kirchenväter sieht Schmid die „Geburtsstunde der Seelsorge“ (165f). Man möchte hinzufügen: Aus der „Sorge um die Seele“ wird die „Sorge um die Seelen“, die im Christentum mehr und mehr zu einer Angelegenheit von Beauftragung, Amt und Weihe wird, wie sie so in anderen Religionen kaum zu finden ist. Dies ist ein Charakteristikum der christlichen Seelsorge ist, das aber in den letzten Jahren zunehmend hinterfragt wird. Parallel zu dieser Entwicklung identifiziert Schmid eine Wende von einer normativen Seelsorge, wie es die christliche sicher bis in die 1950er und 1960er Jahre war und die islamische heute ist (zumindest teilweise, wenn nicht überwiegend). Anders in der Philosophie, so Schmid, der als ausgewiesener Kenner Michel Foucaults an dessen Kritik der (kirchlichen) Pastoralmacht ansetzt (168).
Durch Geschichte erkennbar
Er weiß also, wovon er spricht. Sein Verständnis von Seelsorge ist „die Ethik der Sorge für Andere“ (11; 173f). Schmidt geht es – wie gesagt – um das Ganze, aber auch und gerade um die Einzelnen mit deren eigener Geschichte: „Wenn Philosophie ein Innehalten und Nachdenken ist, dann ist das [philosophische und – ich möchte hinzufügen – seelsorgerliche] Gespräch ein gemeinsames Innehalten und Nachdenken, um das Leben besser zu verstehen […] bei allen sich stellenden Lebensfragen. […] Ein ums andere Mal gelingt es, ins Gespräch zu kommen, indem ich mein Gegenüber dazu ermuntere, seine Geschichte zu erzählen […]. Es ist von existentieller Bedeutung. Ein Mensch wird durch seine Geschichte erkennbar und unverwechselbar: ‚Das bin ich, das ist meine Geschichte.‘ In der Erzählung von sich sucht und findet er sich selbst, memoriert und konstruiert die Zusammenhänge, die den Sinn seines Lebens ausmachen, und er wird sich bewusster, was den Kern seines Selbst darstellt […].“ (171f) Denn dort liegen die Lösungen zu den existentiellen Fragen. Um hierhin zu gelangen, bedarf es verschiedener Schritte, bisweilen auch der „paradoxen Intervention“ (179).
Der Sprachlosigkeit etwas entgegen setzen
Doch wie steht es um deren Autonomie angesichts von Krankheit und Leid (oder Gefangenschaft im Kontext der Gefängnisseelsorge)? Hier grenzt er sich von der religiösen Seelsorge ab, wenn er meint: „Wo einst Religion mit heteronomer Sorge vorgeben konnte, letzte Antworten zu kennen, geht es in der philosophischen Lebenskunst um die Stärkung der autonomen Sorge Einzelner, und sie in die Lage zu versetzen, eigene Antworten zu finden, ausgehend von ihrem eigenen Interesse am Leben, ihren Erfahrungen und allem, was damit zusammenhängt.“ (11f) Dahinter scheint ein Bild von Seelsorge zu stehen, das so nicht mehr der Realität entspricht (siehe oben). Schmid weiß um die Grenzen der Autonomie und nennt dies eine „aufgeklärte Autonomie“, die auf „pragmatische Formen des Umgangs damit“ setzt (193). An solche Grenzen stößt auch religiös motivierte und orientierte Seelsorge, die freilich immer auszuloten versucht, was innerhalb dieser Grenzen möglich ist, bzw. über einen Pragmatismus hinaus gehend in Ritual und Liturgie der Aussichts- und Sprachlosigkeit etwas entgegensetzend.
Sinn selbst bestimmen
Das vierte Kapitel könnte man als eine Zusammenfassung seiner „Philosophie der Lebenskunst“ („im Umgang mit sich selbst und Anderen“) verstehen (237-316), eine Auseinandersetzung mit dem Leben in all seinen Schattierungen, Erfahrungen beispielsweise von „Schattenseiten“, „Macht und Ohnmacht“, „Liebe und Lieblosigkeiten“ und vor allem „Sinn und Sinnlosigkeit“. Hierbei hängt es vor allem davon ab, was denn unter Sinn zu verstehen sei. In einer mehr oder weniger enttraditionalisierten Zeit ist es ja Aufgabe jedes und jeder Einzelnen Sinn selbst zu bestimmen (woran nicht wenige scheitern). Schmid zählt verschiedene Dimensionen („Sinn-Ebenen“) auf, die „in der Liebe erfahrbar werden“ (278ff).
Das Ganze sehen
Für TheologenInnen besonders interessant scheint mir der Hinweis auf die Dimension der „Erfahrung von Transzendenz“, „eine Überschreitung des gewöhnlichen Alltags“: „Das ist die Religion der Liebe, die auch ohne Religion im Sinne eines Bekenntnisses zustande kommt. Sie macht erfahrbar, was das Wesentliche des Lebens ist, wie göttlich es ist und wie viel Sinn sich daraus schöpfen lässt.“ (280; vgl. 307) Dabei geht es letztendlich wieder darum, das Ganze zu sehen, zu bedenken und die eigene Einstellung dazu zu klären. Und das meint schließlich „Philosophieren“: „[…] die vielen kleinen und großen Zusammenhänge von Leben, Liebe, Arbeit und Welt zu bedenken, um die eigene Rolle und die von Anderen in diesem Rahmen klarer sehen zu können.“ (315)
In einem fünften und letzten Kapitel schließlich fragt Schmid „Wie finden Theorie und Praxis zusammen?“ und beschreibt gewissermaßen seine „Werkstatt der Lebenskunst“ (317-356). Hier fasst Schmid nochmals Themen zusammen, die in Gesprächskreisen mit Beschäftigten, die zweiwöchentlich stattfanden, besprochen wurden. Das Buch ist einfach und verständlich geschrieben und bedarf keiner philosophischen Vorkenntnisse. Es nimmt die LeserInnen mit auf einen interessanten Weg, der insbesondere (theologischen) SeelsorgerInnen einen neuen Blick zu eröffnen vermag, der helfen kann die eigene Seelsorgepraxis zu reflektieren und weiterzuentwickeln.
Dr. Simeon Reininger
Wilhelm Schmid, Das Leben verstehen: Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers (suhrkamp taschenbuch; 4806), Berlin: Suhrkamp 2017, 382 Seiten, 12 Euro
Wilhelm Schmid, geboren 1953 in Billenhausen (Bayerisch-Schwaben), lebt als freier Philosoph in Berlin. Seit 2010 Vortragstätigkeit in China, Südkorea, Indien und Taiwan. 2012 wurde ihm der deutsche Meckatzer-Philosophiepreis für besondere Verdienste bei der Vermittlung von Philosophie verliehen, 2013 der schweizerische Egnér-Preis für sein bisheriges Werk zur Lebenskunst. Viele Jahre lehrte er Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Regelmäßig war er tätig als Gastdozent in Riga/Lettland und Tiflis/Georgien, sowie als philosophischer Seelsorger am Spital Affoltern am Albis/Schweiz.