Von Weitem schon sieht man sie: die beiden hohen Backsteintürme, die wie Kirchtürme aussehen, und die Teilanstalt umranden, in der die Kirche beheimatet ist. Ehrerbietend sehen sie aus. Und stark. Nichts kann sie umhauen. Kaum eine Person, die in der JVA Berlin-Tegel arbeitet, kommt nicht täglich mindestens zweimal an der Kirche vorbei – und geht durch die allzeit geöffnete Kirchentür: eine mächtig schwere Holztür.
Was für ein schönes Symbol: die im Gefängnis für jeden geöffnete Kirchentür, die ausdrückt: Du bist zwar im Gefängnis in Unfreiheit. Aber die Kirche steht Dir offen. Hier kannst Du Freiheit erfahren. Dass „die Kirche“ im Gefängnis ist, ist kein Zugeständnis an die Kirchenvertreter. Vielmehr ist seit der Weimarer Reichsverfassung geregelt, dass es u. a. in Strafanstalten ein Anrecht auf Seelsorge und religiöse Betätigung gibt und hierzu Religionsgesellschaften zuzulassen sind. Wie dieses Recht allerdings umgesetzt wird: das ist in den unterschiedlichen Gefängnissen sehr unterschiedlich. Welche Räume die Religionsvertreter zur Verfügung gestellt bekommen, besonders auch, ob eine Kirche oder ein Mehrzweckraum vorhanden ist, ist in den Anstalten verschieden.
So kam die JVA Tegel zu ihrer Kirche
In der JVA Tegel haben wir das große Glück, dass dort eine große Kirche vorhanden ist. Nämlich in dem Gebäude, das von den beiden Türmen umrandet ist: Im Erdgeschoss sind die Pfarrämter angesiedelt; darüber sitzt die Anstaltsleitung und wiederum darüber: die Kirche. Ein großer Raum, der gleich eine andere Atmosphäre ausstrahlt. Kirchenbänke stehen darin, an der Wand ein großes dunkles Kreuz, und genauso unübersehbar: die Kanzel zwischen den beiden Emporen, darunter der Altar und darüber der Orgelprospekt (also: Orgelpfeifen der zwei manualigen Dinse-Orgel aus dem Jahr 1910). Dass es diese Kirche gibt, die wohl erst ein paar Jahre nach dem Gefängnisbau entstanden ist, haben wir – wenn man der Erzählung glauben kann – dem Umstand zu verdanken, dass damals noch so viel Geld übrig war, dass man nicht nur einen Andachtsraum, sondern gleich eine ganze Kirche bauen konnte. So kam also die JVA Tegel (zumindest der Legende nach) zu ihrer Kirche. […]
Rein optisch: Es gibt kein karges Seelsorge-Büro, sondern ein Ort, an dem das vergitterte Fenster in den Hintergrund tritt und dem kleinen gemeinsamen Gesprächstischchen und den farbenfrohen Einrichtungsgegenständen Platz macht. Und emotional erleben die Gesprächspartner, dass sie bedingungslos als Mensch angenommen werden. Und auch, dass sie nicht „in Vorleistung“ gehen müssen: sie müssen nicht erst etwas vollbringen, sich nicht erst bessern, sondern sie dürfen so sein, wie sie gerade sind. So verletzt oder so großspurig sie auch gerade sind.
Manchmal eckt Gefängnisseelsorge an
Für viele Inhaftierte ist sie eine unabhängige, und damit vertrauensvolle und verschwiegene Anlaufstelle für Probleme aller Art. Manche schätzen aber einfach die Tatsache, dass im Pfarramt ein anderer Ton herrscht – und eine Atmosphäre besteht, die einen aufatmen und Kraft schöpfen lässt. Hier darf der Verurteilte Mensch sein – und wird nicht auf seine Straffälligkeit reduziert. Seelsorge heißt: begleiten. Mitgehen mit dem Gesprächspartner. Und zwar ohne vorher sein Ziel zu kennen, oder es selbst festgelegt zu haben für ihn. Seelsorge ist zielfrei – aber nicht ziellos. Unser Ziel ist, dem Menschen beizustehen. Ihm möglicherweise zu helfen, z. B. herauszufinden, was für ihn wichtig ist – und was er bereit ist zu tun, damit er sein Lebensziel vielleicht erreichen kann. Es kann auch heißen, jemandem freundlich Grenzen aufzuzeigen – und trotzdem weiterhin mit ihm im Gespräch zu bleiben – und auf der Suche zu bleiben, wie Leben in größerer innerer – und hoffentlich auch äußerer – Freiheit gelingen kann.
Zur Seelsorge gehört es auch, dass Gefängnisseelsorge manchmal aneckt. Bei den Inhaftierten, die von uns enttäuscht sind, weil wir ihnen zwar positiv zugewandt sind, was aber nicht heißt, dass wir ihre Wünsche-Erfüller sind. Und manchmal ecken wir auch bei den Mitarbeitenden an – weil wir zwischen den Positionen und Anliegen der Inhaftierten und der des Vollzugs zu vermitteln versuchen. Dieses „Anecken“ macht uns zwar keine Freude – aber es gehört mit zu unserer Aufgabenbeschreibung als Gefängnisseelsorger: „Wenn das Salz nicht mehr salzt, wozu ist es nütze?“ konstatiert Jesus in der Bergpredigt (Mt 5,13). Darin sehe ich eine Handlungsanleitung für die Seelsorge im Justizvollzug: mit unserem großherzigen Menschenbild, dass wir alle von Gott geschaffene Menschen sind, auf die verschiedenen Menschen zugehen und uns ihnen zuwenden. Dabei aber nicht aufzugehen, uns ganz zu assimilieren – und unsere Herkunft als Christen, die an die Seite der Inhaftierten gestellt sind, zu vergessen.
Christina Ostrick | Evangelische Pfarrerin
Inhaftierte wie Bedienstete
Die christliche Seelsorge ist in der JVA Tegel eine gesetzlich geregelte, feste Institution. Katholisches und evangelisches Pfarramt teilen sich den Dienst an der Sorge um den ganzen Menschen und stellen die religiöse Betreuung für die inhaftierten und in der Sicherungsverwahrung untergebrachten Männer sicher. Sie arbeiten mit den anderen verschiedenen Diensten im Gefängnis vertrauensvoll zusammen und leisten damit einen Beitrag zum Resozialisierungsauftrag des Justizvollzuges. […] Sie unterstützen und bestärken die inhaftierten und untergebrachten Männer in ihrem Bemühen, ein sinnerfülltes und innerlich wie äußerlich freies Leben zu führen. Aber auch für Mitarbeitende ist die Seelsorge offen. Beispielsweise gibt es die gute Tradition, dass sie auch zu Trauerfeiern für Verstorbene aus diesem Kreis einlädt.
Der Mensch, ob Inhaftierter, Untergebrachter oder KollegIn, steht im Mittelpunkt. Es heißt, dass der Justizvollzug ein Spiegelbild der Gesellschaft sei und so wie diese sich verändert, so eben auch der Vollzug. Dies kommt vor allem in der Zusammensetzung der Inhaftierten und Untergebrachten zum Ausdruck. Als christliche SeelsorgerInnen unterstützen wir, dass auch muslimische, jüdische oder buddhistische Betreuung im Gefängnis möglich ist, auch wenn die Männer anderer religiöser Bekenntnisse von der christlichen Seelsorge niemals ausgeschlossen waren oder sind.
Wir bleiben in Kontakt
Die zunehmende Zahl älterer Männer im Vollzug und der damit häufig verbundene erhöhte Pflegebedarf inhaftierter und in der Sicherungsverwahrung untergebrachter Männer sind eine Herausforderung für alle im Justizvollzug Tätigen. Ebenso die Zunahme psychischer Auffälligkeiten, sozialer Bindungslosigkeit und Einsamkeit. Auch die Seelsorge stellt sich darauf ein, wenn es darum geht, mit diesen Menschen zusammen nach Perspektiven und Sinn für ihr Leben zu suchen. In diesem Zusammenhang wird das Stichwort „Beziehung“ wichtiger. Einsamkeit, Isolation und Perspektivlosigkeit müssen ausgehalten werden – ein, oft über viele Jahre, verbindlicher sozialer Kontakt zu den SeelsorgerInnen ist hilfreich und unterstützend. Diese Probleme verschwinden für den Einzelnen nicht einfach mit seiner Entlassung. „Wir bleiben im Kontakt“ ist nicht nur ein Versprechen für die Zeit der Inhaftierung und Unterbringung, sondern ein Angebot auch für die Zeit danach.
Mit der Einladung zu einem regelmäßigen Treff „draußen“ wollen wir Entlassenen bei der Wiedereingliederung in das Leben helfen. Im Café Rückenwind können sich ehemalige “Teilnehmer am Justizvollzug” und Menschen aus dem Umfeld der katholischen Gemeinde St. Rita in Reinickendorf zweimal monatlich begegnen. Aus diesen Kontakten erwachsen weitere Hilfen und Unterstützungen. Das „Café Rückenwind“ ist zu einem festen Begriff in der Anstalt geworden, auch, weil viele Erst- und Zweitausführungen, die ersten Schritte in die Freiheit, dorthin stattfinden. Wir bleiben in Beziehung, wir bleiben im Kontakt, weil Gott in Beziehung zu uns Menschen treten und bleiben möchte. Wir gehen den Weg der Menschen im Gefängnis mit, begleiten sie in ihrer Freude und Hoffnung, Trauer und Angst.
Alexander Obst | Katholischer Gefängnisseelsorger
Quelle: Festschrift 125 Jahre JVA Berlin-Tegel