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Inhaftierte gegen Juristen: Im Fußballspiel sind alle gleich

28. Juni 2024

Ein fast normales Fußballspiel hinter Gefängnismauern: SC Justitia gegen die JVA Wolfenbüttel. Die Partien in der Vollzugsanstalt, bei denen Juristen gegen Gefangene antreten, finden seit rund 20 Jahren statt – passiert ist bisher nie etwas. Juristen des SV Justitia aus Braunschweig treten regelmäßig gegen eine Mannschaft aus Häftlingen der JVA Wolfenbüttel an. Dabei kann es vorkommen, dass ein Staatsanwalt auf den Mann trifft, für den er lebenslange Haft wegen Mordes forderte. Diesesmal verlieren die Inhaftierten mit 1:5.

Die Fehlschüsse donnern an die backsteinrote Gefängnismauer. Kraftvoll treten die Häftlinge den Fußball aufs Tor. Aus vergitterten Zellenfenstern feuern Häftlinge ihre Mitinsassen schon beim Aufwärmen auf dem Rasen an. In der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel, inmitten von Stacheldraht und hohen Mauern, ist zu spüren: Dieses Spiel ist etwas Besonderes. JVA Wolfenbüttel gegen SC Justitia Braunschweig, Juristen gegen Knackis. Kurz darauf pfeift der Schiedsrichter – ein Gefangener mit langer Knasterfahrung – das Spiel unter abendblauem Herbsthimmel an. Als ein Anwalt nach wenigen Minuten zur Grätsche ansetzt, herrscht plötzlich Stille. Der Gegenspieler – ein durchtrainierter Insasse mit kantigem Kiefer und kurz geschorenem Haar – geht hart zu Boden. Kollektives Luftanhalten. Der Unparteiische pfeift ein Foul. Grätschen ist verboten. Sofort steht der Häftling auf, er und sein Gegenspieler geben sich die Hand. Freistoß – und weiter geht es. Als ein verurteilter Mörder verspielt zum Dribbling anhebt, kommen die Rufe von der Seitenlinie: Abspielen! Pflichtschuldig passt der Mann den Ball zu einem Mitspieler und eilt auf seine Position zurück. Kurz darauf fällt das 1:0 für die Gefangenen. Zusammen geht vieles.

Keine Zwischenfälle

Staatsanwälte und Richter sowie Rechtsanwälte gegen ihre Klienten. Täter gegen „Schreibtischtäter“. Kann das gut gehen? „Auf jeden Fall: Es ist noch nie etwas passiert“, sagt Rudi Stein. Der 76-Jährige muss es wissen. Er hat die Spiele hinter Gefängnismauern als sportverantwortlicher Vollzugsmitarbeiter eingeführt – und seit seinem Ruhestand kaum eine Partie als Zuschauer verpasst. Seit rund 20 Jahren trifft der Braunschweiger „Sportclub Justitia“ einmal pro Jahr auf eine Mannschaft aus Insassen. Es sei denn, eine Pandemie bricht aus: 2020 und 2021 mussten die Spiele ausfallen. Zwischenfälle gab es in über 20 Jahren keine. Nicht einmal, als ein Richter auf den Bankräuber traf, den er kurz zuvor zu einer mehrjährigen Strafe verurteilt hatte. „Es geht ausgesprochen fair zu“, sagt Dieter Münzebrock, der langjährige Anstaltsleiter. Christian Wolters ist seit 18 Jahren bei den Partien dabei. In dieser Zeit traf der Erste Staatsanwalt aus Braunschweig schon häufiger auf Gesichter, die er aus dem Gerichtssaal kannte. Sein Eindruck: „Die Insassen nehmen es sportlich. Es gab nie ein böses Wort.“ Der Braunschweiger Staatsanwalt ist eigentlich im Urlaub – die Partie wollte er aber nicht verpassen. Auch wegen der Gespräche beim gemeinsamen Grillen im Anschluss. Gespräche, bei denen deutlich wird: „Das sind oftmals normale Leute, die vielleicht einmal in ihrem Leben eine falsche Entscheidung getroffen haben.“

Match bleibt intensiv

Der nächste Schuss fliegt hoch übers Tor in den Stacheldraht an der Mauerkrone. Der Ball ist platt. „Funktioniert“, sagt der Anstaltsleiter trocken mit Blick auf die Sicherheitsvorkehrungen. Das Match unter Flutlicht bleibt intensiv – doch nach der Corona-Pause sind die Häftlinge offenbar nicht so gut in Form als ihre Gegner. Die Juristen führen. 5:1 heißt es beim Abpfiff für den SC Justitia. Aus den Zellen rund um das Spielfeld dringt trotzdem Jubel. Die Spieler beider Mannschaften klatschen sich ab, ein vollbärtiger JVA-Kicker drischt den Ball freudig in den Abendhimmel. „Wir wollten unbedingt gewinnen“, sagt er und grinst breit. „Da war schon eine besondere Motivation.“ Anschließend wabert der Duft von Schweiß, Fußballschuhen, Nudelsalat und Gegrilltem durch die Mehrzweckhalle der Anstalt. Auf den Klappbänken mischen sich Insassen und Juristen, spätestens in der Schlange am Grill, an dem Rudi Stein mit Kollegen vom Förderverein der JVA die Zange schwingt, bricht das Eis. „Gut gespielt“, sagt Jan Hüsken, der Torwart des SC Justitia, anerkennend zu einem der Gegner. „Man merkt euren Trainingsvorsprung“, sagt der Elektromeister und tätschelt seinen Bauch.

Hüsken ist einer der wenigen Nicht-Juristen im Team des SC und hat schon einige Partien im Gefängnis absolviert. „Manch einer, der zum ersten Mal dabei ist, fragt vorher schon: Was erwartet mich da?“ „Ein ganz normales Spiel“, ist seine Antwort. Jedenfalls fast. Nur nach dem Grund für seine Haftzeit fragt auch Hüsken seinen Gegenüber nicht. Für die Häftlinge sind die Partien eine willkommene Abwechslung. „Was würde ich jetzt sonst machen?“, sagt ein hagerer Mann, der sich die nächste Rutsche Nudelsalat auffüllt. „Ich säße auf der Zelle rum. Und so was wie jetzt, das gibt es sonst nie“, sagt er und blickt in die Mehrzweckhalle, wo sich Gespräche entspinnen. Über das Wetter, das Spiel und das, was ein Häftling am meisten vermisst: den Gang in den Supermarkt. Die beiden dienstältesten Inhaftierten kennen das schon und scheinen die wenigsten Berührungsängste zu haben. Einer von ihnen sitzt seit 20 Jahren hinter Gittern.

Tadellose Vollzugsakte

Sportübungsleiter Rusgar Yusuf könnte fünf Fußballmannschaften füllen. An die 60 Insassen haben Interesse angemeldet. Zweimal die Woche ist Training. „Die sind alle sehr motiviert, das ist schön zu sehen.“ Wer gegen externe Teams antreten will, muss sich das Privileg erwerben, ohne eine tadellose Vollzugsakte wird es schwierig. Aber auch aus einem weiteren Grund ist die Spielerzahl begrenzt, sagt Vollzugsmitarbeiter Yusuf. Manch ein Häftling dürfte mitkicken – kann sich aber keine eigenen Fußballschuhe leisten. Aus Spenden verfügt die JVA über wenige Paare Leihschuhe. „Aber das reicht selten“, erzählt Yusuf. Sechs Spiele hat das Team JVA in diesem Jahr absolviert. Das Match gegen Staatsanwälte, Richter und Juristen war für Häftlinge aber ein spezielles. „Das war seit Wochen Thema“, erzählt Sportübungsleiter Yusuf. Auch wegen dem anschließenden Grillen. Vor allem zwei Fragen hätten seinen Schützlingen unter den Nägeln gebrannt: „Waren Sie schonmal in einem Gefängnis, bevor Sie Ihr erstes Urteil gesprochen haben? Wissen Sie, wie es im Knast ist?“ Nach einer Stunde endet die Plauderei. „Wer noch duschen will, muss das jetzt tun“, ruft Vollzugsmitarbeiterin Katja Lehmköster resolut. Beide Teams packen Geschirr und Besteck ordentlich weg und verabschieden sich. Die einen treten kurz danach den Heimweg an. Die anderen den Weg zurück in die Zelle. „Bis zum nächsten Mal“, sagt ein Jurist. „Hoffentlich nicht“, ist die trockene Antwort.

Erik Westermann | Mit freundlicher Genehmigung: Goslarsche Zeitung

 

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