„Liebt eure Feinde“ – das Gebot schlechthin von Jesus kommt ausgerechnet am Wahlsonntag zum neuen Bundestag im Evangelium. Wo es doch in diesen aufgeheizten Tagen so wichtig scheint, mit aller Macht auf bewährte Freund-Feind-Aufteilungen zu pochen, um die je eigene Weltsicht zu untermauern. Schließlich ist das einander Aufteilen in Freund und Feind das Ordnungsprinzip zur Sicherung der je eigenen Position seit Menschen Gedenken.

Zwei Engel gegenüber von der Holzbildhauerin Marion Jochner.
Jesu Aufruf, die Feinde zu lieben erscheint da als absolut weltfremd. Ja, es wäre sogar gefährlich, das Freund-Feind-Schema zu überwinden, die gewohnte und mit viel Macht und Geld gesicherte Weltordnung würde durcheinandergeraten. Trotzdem hat es immer wieder Menschen gegeben, die genau das lebten. Und es gibt sie immer noch. Vielleicht braucht es das Gebot der Feindesliebe als eine subversive Unterbrechung der Gewohnheit, ein neues Hinschauen, als einen neuen Beginn.
Der erste Feind bin ich selbst
„Liebt eure Feinde“ – es beginnt mit dem Wort, das uns an eine Kraft erinnert, die bereits in uns ist: die Liebe. Völlig kostenlos, ohne irgendeine moralische Kraftanstrengung und ohne irgendwelche Bedingungen kann sie jederzeit wirksam werden, einfach, indem ich mein Herz öffne. Liebe ist ein Geschenk, einmal losgelassen entfacht sie ihre Kraft, ganz natürlich. Ein Baby aus dem Gazastreifen spielt selbstverständlich mit einem Baby aus Israel – dass auch Feindschaft möglich ist und Krieg, wird dann erlernt. Ein Kind, das die liebevolle Zuneigung der Eltern nur bekommt, wenn es brav ist, lernt, dass Liebe Dank ist für gefälliges Verhalten. Und der Teufelskreislauf beginnt: umso mehr es geliebt werden möchte, umso stärker muss es unterdrücken, was nicht passt. Dasselbe kann in der Schule geschehen, in der Gesellschaft und in der Religion. Genährt wird dabei das Gegenteil von Liebe, die Feindschaft. Es ist verrückt: um geliebt zu werden, lernen wir manchmal schon ganz früh, in Feindschaft zu sein. Der erste Feind dabei sind immer wir selbst. Das Unpassende in uns selbst, weswegen wir nicht geliebt sind, muss beseitigt, mindestens aber unterdrückt werden, damit wir wieder ins System passen. Und wir lernen uns selbst dafür zu verurteilen. Feindschaft beginnt immer in uns und gegen uns selbst. „Was aber aus dem Mund herauskommt, das kommt aus dem Herzen, und das macht den Menschen unrein“, hatte Jesus gesagt. Da, in uns, im Herzen beginnen Abwertung, Ausgrenzung und Hass – deshalb ist das eigene Herz auch der Ort, an dem ich beginnen kann, mich und mein Handeln zu verändern.
Mitgefühl lässt mich lieben
So beginnt die Verwirklichung der Feindesliebe im eigenen Herzen: in der Versöhnung mit mir selbst. Vielleicht muss dafür einiges an Schutt aus vielen Lebensjahren beiseite geräumt werden, um zu jener Quelle zu kommen, die tief in uns Menschen sprudelt, zur Quelle des Mitgefühls. Mitgefühl lässt mich annehmen und lieben, was in mir vielleicht schon lang nicht sein durfte, all die dunklen, unpassenden Wirklichkeiten. Mit Selbstmitgefühl beginne ich sie zu integrieren, in liebevoller Annahme muss ich in ihnen nicht mehr verloren gehen. Aus dem Selbstmitgefühl erwächst das Mitgefühl für andere, beide sind ein und dieselbe Dynamik in der Kraft der Verbundenheit.
„Liebt eure Feinde“ – das ist keine übergroße Moralanstrengung, es ist die Erlaubnis sich selbst und den anderen gegenüber menschlich zu sein. Ich muss weder alles in mir noch in anderen gutheißen, aber ich kann annehmen, dass da ein Herz pocht, das zur Liebe fähig ist. In Zeiten großer Krisen und Spaltungen tut es Not, sich daran zu erinnern. Damit sind die Probleme noch nicht überwunden, aber wir können wenigstens beginnen sie zu lösen, ganz konkret, hier und jetzt.
Christoph Kunz | Lukas 6, 27–38