Im Lukasevangelium klingt es wenig einladend, eher nach Selbsterniedrigung und Selbstkasteiung, wenn Jesus zu den Menschen sagt: „Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ Doch wovon Jesus da spricht, hat mit Erniedrigung nichts zu tun und ist auch kein außergewöhnlicher Kraftakt, es geht schlicht um den Alltag, den es zu leben gilt. Nachfolge, so die Botschaft Jesu, führt nicht zu höheren Weihen, sondern durch die Niederungen alltäglichen Lebens. Da gibt es genug, das zum eigenen Kreuz werden kann.
Alltägliche „Kreuze“
Das sich Einlassen in eine Arbeit, der im Moment nicht anzusehen ist, ob sie erfolgreich sein wird. Das einander begegnen in Freundlichkeit, auch wenn vieles an Unfreundlichkeit die Beziehung belastet hat. Das sich Trauen trotz erfahrener Rückschritte. Die kleine oder große Enttäuschung zwischendurch, eine gefühlte Hilflosigkeit und all die Erfahrungen in Ängstlichkeit, Schmerz, Krankheit und Trauer. Das sind alltägliche Kreuze, die, von Mensch zu Mensch unterschiedlich schwer, getragen werden. Diese auf sich zu nehmen bedeutet, bewusst und achtsam zu leben. So sind Jesu Worte eine Einladung ins Leben: geh deinen Weg, gehe ihn, wie er sich dir öffnet, weiche den Hindernissen nicht aus und lass dich nicht erschrecken, nimm sie an und vertraue darauf, dass du weitergehen kannst.
Von sich selbst lossagen
Ermöglicht wird diese Weise, dem Leben und darin den eigenen Möglichkeiten zu trauen, durch das, was in der Rede Jesu vor dem Kreuztragen benannt ist: das sich selbst verleugnen. Dicht am Urtext übersetzte Fridolin Stier diese Stelle mit „sich von sich selbst lossagen“. Es geht nicht um Selbsterniedrigung, sondern um ein sich lossagen, eine Befreiung vom Selbst. Mir sind diese Worte erst aufgrund ihrer Nähe zur alten Weisheit des Buddhismus klarer und auch wichtiger geworden. Von dort kommt die Erkenntnis, dass Leid durch Anhaftung entsteht. Es ist das Habenwollen, die Gier, letztlich ein groß gesetztes ICH, das Leid erzeugt. Einmal davon in den Griff genommen begrenze ich mich in eigener Selbstsucht und verliere Freiheit, Lebendigkeit und Verbundenheit. Der Buddhismus lehrt einen Weg aus dem Leid, es ist der Weg des Loslassens eines alles regierenden ICHs. Und er lehrt das sich Einlassen in die Wirklichkeit des Lebens, in der bereits ist, was es braucht, darin zu sein.
Aufbruch aus dem, was zurückhält
Wenn Jesus sagt, es gehe darum, sich von sich selbst loszusagen, dann klingt darin eben diese alte spirituelle Weisheit des Buddhismus. Ist doch das Selbst aus dem geworden, was sich im Lauf des Lebens angesammelt hat an Gewohnheiten und Ansprüchen, wie ich zu sein habe, wie die anderen zu sein haben, wie das Leben an sich zu sein hat – und wie Gott zu sein hat. Darin aber bleibt für unfassbar Neues, entgegenkommendes Glück, Glaube an Unerklärliches, Hoffnung auf Unvorhergesehenes, überraschende Liebe – kurz gesagt: für Gott – kaum Platz. Wenn einer hinter mir hergehen will, sage er sich von sich selbst los, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach – Jesu Worte laden ein, den Alltag des Lebens zu leben, befreit zum Aufbruch aus allem, was fest- und zurückhält, um in jedem Moment zu leben, was im Evangelium Gott genannt wird: die Liebe. Das Wunderbare der Botschaft ist, dass schon jeder noch so kleine Schritt in diesem Zutrauen erfüllt ist vom Entgegenkommen Gottes, sogar dann, wenn der Schritt sich als Rückschritt herausstellt. Nie ist es zu spät, neu zu beginnen.
Christoph Kunz | Lukas 9, 18-24