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Korrupt bis auf die Nasenspitze. Gibt es darin Veränderung?

6. April 2023

Was ist das für eine Geschichte, die uns im Lukasevangelium erzählt wird? Veraltet und nicht aktuell für heute? Weit gefehlt, meine ich. Im Mittelpunkt steht ein Mensch namens Zachäus. Man sagt, er wäre klein gewesen und ein Betrüger. Er war Zöllner. Die waren in der damaligen Gesellschaft an einem Posten, den man sehr gut für sich ausnutzen konnte. Als Zöllner arbeitete Zachäus sich in die eigene Tasche. Korrupt bis auf die Nasenspitze. Davon können einige im Jugendvollzug heute ebenso erzählen.

Auf Pump Elektrofahrräder „einkaufen“ und für teuer Geld wieder verscherbeln. Einen Handyladen aufmachen und sich hochstaplerisch als Geschäftsmann ausgeben. Reich sein ist das Ziel. Schnelles Geld machen. Das geht so einfach, dass es niemand merkt. Davon erzählt mir ein Inhaftierter. Er kaufte Möbel und machte Verträge mit einem Mobildienstanbieter für „seinen“ eigenen Laden. Die Miete dafür zahlte er nicht. Er kann gut reden, überzeugt durch ehrlich dreinschauende Augen und gibt sich menschenzugewandt. Zachäus war sicher auch so einer. Er sagt den Leuten, was an Wegezoll notwendig ist. Er kassiert für seine Tasche und die der römischen Herrschaft. Zöllner waren keine gern gesehenen Behördenmenschen. Sie zogen einem das Geld aus der Tasche. Was will man auch dagegen machen, man ist abhängig. Vielleicht hat er genauso treuherzig geschaut und die Leute kauften ihm sein „Zollgeld“ ab. Hauptsache man kommt durch. Vielleicht verkaufte er seine Geschäfte als äußerst lukrativ, wie so manche Werbung in den Medien heute. „Nur heute gibt es den Rabatt, morgen nicht mehr“, lauten die Botschaften. Dass diese Angebote keine ehrlichen Angebote sind, können nur wenige durschauen.

Auf „Maulbeerfeigen-Baum“ steigen

Ausgerechnet zu diesem Menschen knüpft Jesus Kontakt. Aber das ging nicht so einfach vonstatten. Zachäus selbst stellt den Kontakt her, indem er sich erkenn- und bemerkbar macht. Er steigt auf einen Maulbeerfeigenbaum, um diesen angeblich charismatischen Mann aus Nazareth überhaupt zu sehen. Was wusste Zachäus über Jesus? Nichts, wahrscheinlich. Vielleicht, das man mit ihm unvoreingenommen sprechen konnte? Vielleicht war es Zufall, dass sich die beiden Blicke trafen. Intuitiv ruft Jesus dem Zöllner zu: „Komm schnell herunter. Ich muss heute in Deinem Haus bleiben“. Dableiben bei einem Kriminellen? Zurecht regen sich die Leute auf. Wie kommt er dazu bei diesem Verbrecher zu sein?

Im Jugendvollzug knüpfen die Gefängnisseelsorger einen Erstkontakt zu Untersuchungs-Häftlingen und Menschen im Jugendstrafvollzug. Will jemand einen weiteren Kontakt, können sie auf einen „Maulbeerfeigenbaum“ steigen, indem sie einen „Antrag“ stellen. Für alles muss man einen schriftlichen Antrag im Vollzug stellen. Das hat zum Ziel, dass die Initiative von jedem Einzelnen ausgeht. Als Gefängnisseelsorger wollen wir niemanden verändern. Bekehrung und Mission zum christlichen Glauben ist nicht das Ziel. Ebenso wenig die Entscheidung zu einer Konfession. Davon wissen die wenigsten, der jungen Leute. Sie können auswählen, mit wem sie reden, wen sie kennenlernen wollen und von wem sie Rückmeldung erhalten möchten.

Wichtig ist, „sie steigen auf einen Baum“, damit sie einen anderen Blickwinkel bekommen. Im Perspektivwechsel sieht man die Dinge oft anders als in der dichten Menge. Da entscheidet man vielleicht nach Sympathie, nach Intuition und nach Gefühl. Wie Jesus haben die Gefängnisseelsorger keinen Einfluss auf den weiteren Werdegang ihres Gesprächspartners. Das Gespräch mit dem Gefängnisseelsorger fordert keine Konsequenzen ein. Es hängt nichts davon ab. Und doch können Gespräche Veränderungen bewirken. Was im Haus von Zachäus passiert ist, wird nichts berichtet. Ich kann mir vorstellen, dass Jesus zuhört, ein Gegenüber ist, Rückmeldung gibt und gemeinsam mit Zachäus zu Abend gegessen hat. Das bewirkt, dass Zachäus eine andere Sicht einnimmt. Er will alles vierfach zurückzahlen. Was ist da passiert? Ich denke an die Jugendlichen, die aus tiefstem Herzen Einsicht zeigen. Doch die Umstände, in denen sie leben, lassen eine Veränderung nicht zu. Es gibt auch Menschen, die eine Erkenntnis gewinnen. Die Veränderung beginnt damit, dass ich mich überhaupt auf ein Gespräch einlasse. Gefängnisseelsorge hat nicht das Ziel jemanden verändern zu wollen. Das geschieht oder es geschieht nicht. Gefängnisseelsorge gehört zu den „Geheimnisträgern“ im Strafvollzug. Sie erzählen nichts weiter und schreiben nichts in den Beobachtungsbogen. Das ist ein Schatz, den die Gefangenen wie die Bediensteten schätzen.

Gefangene sind Menschen

„Es muss jemanden geben, der bei denen bleibt, die gescheitert sind.“ So hat es ein ehemaliger Gefängnisseelsorger einmal zu mir gesagt. „Gefangene“ sind Menschen, nicht nur allein Täter, schon gar nicht Monster, vor denen man Angst haben und davonlaufen muss. Manchmal von den Justizbediensteten meinen: „Der Gefängnisseelsorger trinkt doch nur Kaffee mit denen.“ „Ich will heute zu Gast sein bei Dir“, sagt Jesus zu dem Betrüger Zachäus. Mir hilft die Unterscheidung zwischen Täter und Tat. Mord und Mörder sind nicht das Gleiche. Betrug und Betrüger, Missbrauch und Missbraucher – auch das gilt es zu unterscheiden. Die Delikte eines Menschen sind nur ein Teil seiner Geschichte und seiner Persönlichkeit. Natürlich muss er dafür einstehen. Und natürlich ist er – sofern geistig und seelisch gesund – verantwortlich für seine Straftat und deren Folgen. Aber: Das Delikt, was und wie schlimm es auch sei, ist nie die ganze Wahrheit über ihn und seine Person. Jeder Gefangene ist mehr als seine Tat und mehr als seine Akte.

 

Gefangene sind Menschen wie ihr und ich: Leute mit sympathischen und mit abschreckenden Seiten. Viele haben weniger Glück gehabt als ich. Sie haben weniger Liebe erfahren, weniger Wohlwollen, weniger Förderung, weniger Chancen. Die inhaftierten Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 14 bis ca. 24 Jahren im Jugendvollzug kommen zum größten Teil aus unterschiedlichen Migrationshintergründen. Sie sind ihren kulturellen- und religiösen Verbindungen entwurzelt worden. Sie erinnern sich wenig oder nur durch Erzählungen anderer an ihre Wurzeln oder besinnen sich wieder neu durch ihre Inhaftierung auf ihre Herkunft. Manche haben in ihrer Kindheit ein Wechselspiel zwischen Großeltern, Stiefvater, der leiblichen Mutter, Aufenthalte in Kinderheimen oder Kinder- und Jugendpsychiatrien sowie Jugendhilfe-Maßnahmen im Ausland hinter sich.

Aus den Biografien der Jugendlichen und deren Delinquenzen wird deutlich, dass sie eine Unzahl an Entbehrungen und Benachteiligungen, Naivität und Sorglosigkeit, Aggressionen und Beeinflussungen ausgesetzt waren und sind. Mangelnde Zuwendung, zerrüttete Familien, Kulturschock, keine oder nur eine bruchstückhafte Schulbildung haben sie gelehrt, ihren Mangel durch zweifelhafte und schließlich kriminelle Strategien zu kompensieren. Jugendliche Täter sind oft selbst Opfer geworden. Es scheint ihnen vielleicht eine Möglichkeit zu sein, sich eine eigene Welt zu schaffen, sich denen zu entziehen, die mit ihren Schlüsseln Zugang zu den Türen haben. Auch die Gefängnisseelsorger gehören dazu. Ob die Schlüssel zum Zugang eines Jugendlichen mit Empathie und mit Sensibilität passen, erweist sich im konkreten Miteinander.

Die Welt retten können?

Und das passiert in der Geschichte mit Zachäus. Jesus und die Gefängnisseelsorge wollen die Geschehnisse nicht entschuldigen, klein reden oder wegradieren. Doch urteilen kann ich und will ich nicht, auch wenn ich manches Mal dazu neige. Jesu war nicht frei von Vorurteilen. Doch er hat sie immer wieder hinterfragt und darauf vertraut, „dass das Leben selbst Dir zeigt, wo es lang geht“. Als GefängnisseelsogerInnen lassen wir uns auf den Menschen mit seiner Geschichte, mit seinen bis jetzt gemachten guten wie negativen Erfahrungen und seinen Hintergründen ein. Sie sind ein Gegenüber mit all den eigenen Stärken und Schwächen, ohne die Opfer und Geschädigten von Straftaten auszublenden. Seelsorge ist die Sorge um den ganzen Menschen, der „mehr“ ist, als gängige Trends aussagen, gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegeln oder das zugängliche Bewusstsein eines Menschen zeigen. „Dieser Mann ist auch ein Sohn Abrahams“ sagt Jesus fast entschuldigend. Fast wie ein Lebensprogramm klingt: „Ich bin gekommen, um zu retten was verloren ist“, so Jesus.


Können wir die Welt retten, die Verlorenen auf den „rechten“ Weg bringen? Sicher nicht auf einen Knopfdruck wie am Computer. Aber: Anteil zu nehmen und jeden Menschen in seiner Würde anzunehmen trotz gewaltiger, widersprüchlicher und schockierender Lebensgeschichten, daraus kann etwas Neues in jedem Einzelnen von uns wachsen. Die Menschen damals haben sich aufgeregt: Wie kann ein solch gottesfürchtiger Mann wie Jesus mit dem kriminellen Zöllner nicht zur sprechen, sondern in sein Haus einkehren? Will Zachäus ihn einwickeln und beeinflussen, gar für seine Geschäfte gewinnen? So belächeln auch heute oft manche den Dienst der Gefängnisseelsorge in den staatlichen Einrichtungen.

Wo ist die Göttlichkeit?

Wozu gibt es Gefängnisseelsorge hinter den Mauern? Die MitarbeiterInnen in diesem Dienst werden oft kritisch betrachtet. Ich erhielt vor einigen Jahren einen anonymen Brief mit der Frage, wozu ich mich als Seelsorger der Kirche für die Täter engagiere? Ich solle am Grab des Opfers stehen. Man verglich meine Aussage, dass Strafe allein nichts nutzt, mit der eines Polizeipsychologen, der härtere Strafen einfordert. Ich denke, dass das Wegsperren allein nicht wirklich eine Hilfe zur Veränderung ist. Macht Strafe Sinn? Und wenn ja, welche und wie? Können sie Menschen verändern, Täter, die furchtbare Verbrechen begangen haben und die – jedenfalls nicht selten – selbst auch Opfer unsäglicher Verhältnisse und Prägungen sind? Was ist und was wird mit ihrer Schuld? Gibt es da Versöhnung und Neubeginn? Und wo ist die menschenbejahende Göttlichkeit?

Die Einkehr beim verhassten und „kriminellen“ Oberzöllner Zachäus (Lukas 19, 1-10) war für den Menschen Jesus kein Tabubruch, sondern Teil von Seelsorge. Er fragte ihn nicht zuerst nach seinen Taten, sondern er kehrte in sein Haus ein und aß mit ihm zu Abend. Auch wenn im schwierigen Alltag des heutigen Strafvollzugs vieles für sehr viel herausfordernder gehalten und nüchterner gesehen wird, so bleibt es doch bei diesem entscheidenden Impuls. Die Aktion geht von beiden aus. Zachäus, der auf einen Baum steigt und Jesus, der sich auf das Gespräch einlässt. Das ist heute genauso wie damals. Ich wünsche Ihnen und Euch, dass es solche Menschen im Leben geben mag, die uns zuhören, die mit Empathie Rückmeldung und Paroli geben sowie ein Stück Weg „trotz allem“ mit uns gehen.

Michael King

Autor

Michael King arbeitet seit mehr als 10 Jahren als Katholischer Gefängnisseelsorger des Erzbistums Paderborn im Jugendvollzug der Justizvollzugsanstalt (JVA) Herford in Nordrhein-Westfalen. Zuvor war er 6 ½ Jahre im Jugendvollzug der Jugendanstalt (JA) des Landes Sachsen-Anhalt im Osten Deutschlands im Bistum Magdeburg tätig.

Mehrere Jahre sammelte er Erfahrungen in der Entwicklungszusammenarbeit im südamerikanischen Tiefland Boliviens mit der Schweizer Organisation COMUNDO aus Luzern. Am Ende der Pherephie der Großstadt in den so genannten „Armenvierteln“ lernte er die Kultur und die Überlebenstratgie der indigenen Bevölkerung kennen. Gebürtig kommt King aus Baden-Württemberg.

 

Jugendvollzug | JVA Herford

Der christlich geprägte Gottesdienst im Jugendvollzug der JVA Herford am Sonntag ist nicht konfessionell bezogen. Er wird aber jeweils vom evangelischen wie katholischen Gefängnisseelsorger gestaltet. In den gottesdienstlichen Feiern sind muslimische, jesidische sowie überwiegend bekenntnisfreie oder „auf Papier“ christlich-getaufte Menschen die Mitfeiernden. Die Jugendlichen sind weit weg von kirchensozialisierter Prägung.

Die „Predigt“ in der gottesdienstlichen Zelebration ist keine Einbahnstraße, sondern stets im Dialog mit den Inhaftierten „auf Augenhöhe“ konzipiert. Sie kann je nach Dialogverlauf eine andere Wende wie ursprünglich geplant nehmen. Unterstützend dafür ist keine frontale Sitzordnung, sondern die kommunikative Ebene einer Ellipse oder die eines Kreises.

 

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