Die Erfahrungen, die ich im Knast gemacht habe, gehören trotz mancher Ernüchterung wahrscheinlich zum Besten, was mir auf meinem beruflichen Weg begegnet ist. Ich hätte es mir als Pastoralreferent in einer weitgehend verbürgerlichten Kirche nicht träumen lassen: die vielen ausgesprochen dichten und unmittelbaren Begegnungen mit Menschen, deren Lebensart mir bisher eher fremd gewesen war; die Irrungen und Wirrungen von Männern, die aus welchen Gründen auch immer irgendwann in den Sog der Kriminalität geraten sind; die Abgründe, die Ausweglosigkeiten, die Schuld und die Scham, aber auch die Hoffnungen und Träume, die sie mir offenbart und anvertraut haben; das Leben hinter Mauern und Gittern, das wir dort zumindest ein Stück weit geteilt und gestaltet haben und das keineswegs immer schwer war und öde, sondern nicht selten von einer bemerkenswerten Spritzigkeit und Originalität.
Mit dem Knast und mit dem Justizvollzug kann man keine großen Blumentöpfe gewinnen. Für den Staat und die Gesellschaft sind das eher lästige Pflichtaufgaben. Irgendwo müssen sie ja hin – die Bösewichte und die Looser. Sie haben kaum eine Lobby. Abgesehen von bestimmten Spezialisten interessieren sich eigentlich nur wenige Menschen für das, was wirklich und alltäglich hinter Mauern und Gittern gelebt, erlitten und erhofft wird. Als Kirche kommen wir um die Gefangenen irgendwie nicht herum. Wir haben zwar in unseren verbürgerlichten Gemeinden weitgehend den Kontakt mit solchen Menschen und deren Milieus verloren. Und in Krisenzeiten wie diesen kreisen wir in hohem Maße um uns selbst und um Fragen unserer institutionellen Zukunftssicherung.
Dennoch hören und spüren wir – auch heute – die geistliche und pastorale Herausforderung von Matthäus 25, 36: „Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.“ Und so lange der Staat refinanziert, und so lange der gesellschaftliche Konsens über den kirchlichen Dienst in solchen Einrichtungen noch hält… (Wie lange noch?) sind wir als Kirche(n) im Gefängnis. Ich gehe einen Schritt weiter und formuliere eine erfahrungsgesättigte Einsicht: Straftäter und Knast konfrontieren uns mit den Kehrseiten unserer Gesellschaft, mit den abgründigen und entsetzlichen Möglichkeiten menschlicher Freiheit.
Straffällige unter der Gnade Gottes?
Der innerste Kern des Evangeliums heißt GNADE. Dieses alte, für viele Zeitgenossen sperrig und fremd gewordene Wort meint nichts anderes als die heilsame und v.a. unverdiente Zuwendung Gottes zu uns Menschen. Von Dietrich Bonhoeffer haben wir gelernt, dass diese Gnade keine billige ist. Unsere Schuld wird also nicht klein geredet. Gott vergibt, aber er befreit nicht von den Folgen der Verbrechen. Er lässt Menschen leben und lässt sie neu anfangen, beladen mit der Last ihrer Untat. Natürlich hat eine Gesellschaft das Recht, sich vor Straftätern zu schützen. Aber immer gilt: Auch im Strafvollzug stehen Menschen unter der Gnade Gottes. Die kann nicht erst gedacht werden für den Fall, dass ein Täter nicht mehr als Risiko für die Gesellschaft eingeschätzt wird. Gnade muss von dem Tag an mitgedacht werden, an dem ein Täter dingfest gemacht und ins Gefängnis gesteckt wird.
Dabei hat mir stets die Unterscheidung zwischen Täter und Tat geholfen. Mord und Mörder sind nicht das Gleiche. Betrug und Betrüger, Missbrauch und Missbraucher – auch das gilt es zu unterscheiden.
„Es muss auch einen geben, der bei denen bleibt, die gescheitert sind.“ So hat es ein Kollege einmal gesagt. Und so habe ich versucht, Gefangene als Menschen zu sehen, nicht nur als Täter, schon gar nicht als Monster, vor denen man Angst haben und davonlaufen muss. Als Seelsorger habe ich viele von ihnen besucht und begleitet. Und das nicht einfach nur so… Manchmal meinten Justizbedienstete „Der trinkt doch nur Kaffee mit denen.“ Nein: Ich habe diesen Dienst getan vom Evangelium Jesu Christi her, im Auftrag und mit dem Rückhalt unserer Kirche.
Dabei hat mir stets die Unterscheidung zwischen Täter und Tat geholfen. Mord und Mörder sind nicht das Gleiche. Betrug und Betrüger, Missbrauch und Missbraucher – auch das gilt es zu unterscheiden. Die Delikte eines Menschen sind ein Teil seiner Geschichte und seiner Persönlichkeit. Natürlich muss er dafür einstehen. Und natürlich ist er – sofern geistig und seelisch gesund – verantwortlich für seine Straftat und deren Folgen. Aber: Das Delikt, was und wie schlimm es auch sei, ist nie die ganze Wahrheit über ihn und seine Person. Jeder Gefangene ist mehr als seine Tat und mehr als seine Akte. – Das zu verstehen und zu entdecken und mit dieser Grundeinstellung zu arbeiten ist eine ganz wesentliche seelsorgliche Aufgabe im Gefängnis.
Straftäter sind ein Spiegel unserer Gesellschaft
Gefangene sind Menschen wie Sie und ich: Leute mit sympathischen und mit abschreckenden Seiten. Viele von ihnen haben weniger Glück gehabt als ich. Sie haben weniger Liebe erfahren, weniger Wohlwollen, weniger Förderung, weniger Chancen. – Straftäter sind oft beschädigte und zu kurz gekommene Menschen. Nicht selten habe ich sie als anstrengend erlebt, manchmal auch nervig. Oft waren sie mir fremd und es machte Mühe, sie und ihre Geschichten zu verstehen. Viele Gefangene sind phantasievolle und trickreiche Lebenskünstler. Fast immer sind es Leute, die nach Aufmerksamkeit und nach Zuwendung gieren, auch wenn sie oft anders auftreten.
Im Gefängnis habe ich Leute getroffen, die draußen kaum einer sehen will. Manchmal habe ich Männer erlebt, die ihr eigener Zorn überwältigt hat, ihre Ohnmacht und Wut auf sich selbst und auf ihr Leben. Ich bin Männern begegnet, die sich selbst, ihren Liebsten und auch uns als Gesellschaft abhandengekommen sind, entstellt und entglitten in manchmal schier unglaublichen Taten. Ich habe versucht, in ihnen den Menschen zu sehen mit seiner Not, seinen Verletzungen, seiner Geschichte. Ich lies mich verstricken in ihre Widersprüche, in Niederlagen, in Lügen und Illusionen. Nicht selten berührte oder schockierte mich eine fremde, manchmal unheimliche Wucht aus Gemeinheit und Brutalität, Verwahrlosung und auch Verzweiflung. – Welche Abgründe! Welche Tragödien! Wie viel beschädigtes und zerbrochenes Leben!
Dabei hat mir stets die Unterscheidung zwischen Täter und Tat geholfen. Mord und Mörder sind nicht das Gleiche. Betrug und Betrüger, Missbrauch und Missbraucher – auch das gilt es zu unterscheiden.
Mein größtes Kapital war Zeit: Zeit, die ich zur Verfügung stellen konnte… Und dann ein Herz, das wohlwollend gestimmt ist; ein Ohr, das zuhören kann, und – wenn es geht – ein Wort, eine Geste. – Das Gesprächszimmer der Seelsorge und unser Andachtsraum sind Orte des Wohlwollens und der Bewahrung. Dort darf alles sein. Dort kann und darf man sich aussprechen oder auch schweigen. Dort darf man sich schämen, klagen und schimpfen. Und dort kann man auch weinen, wenn es grad dran ist und über einen kommt. Am Sonntag und an den großen christlichen Feiertagen stellen wir uns im Gottesdienst unter Gottes Gnade. Nicht wir, sondern mehr Gott dient uns – und schenkt uns ein Ansehen, das uns nichts und niemand nehmen kann. Gottesdienst im Knast: Das ist eine der großen seelsorglichen Herausforderungen; eine ständige Gratwanderung zwischen einer Art „offenem Treff“ und lebensnaher Liturgie. – Wie oft war ich beeindruckt, was da alles geht… Und welch beglückende Erfahrung, wenn es gelingt, das Leben im Knast in Wort und Zeichen zur Sprache und damit vor Gott zu bringen.
Ein weiteres, nicht zu unterschätzendes Kapital war und ist unsere Stellung als Seelsorger. Als solche gehören wir nicht zur Justizhierarchie. Wir sind Männer und Frauen der Kirche, die ihren Dienst in einer staatlichen Einrichtung tun. Diese uns zugemutete Freiheit und Unabhängigkeit schafft einen großen Vertrauensvorschuss. Gefangene rechnen mit der Gewissheit, dass wir über alles seelsorglich Gehörte und Erlebte striktes Stillschweigen wahren. Unsere Schweigepflicht ermöglicht vielen uns gegenüber eine Offenheit, die sie gegenüber anderen Bediensteten nie wagen würden. Wer mit Straftätern arbeitet, muss auch bereit sein, mit ihren Widersprüchen zu leben. Er muss Ungereimtheiten und Zwielichtigkeiten aushalten. Und er muss einen eigenen Standpunkt haben. Er braucht Klarheit über seinen Auftrag und seine Rolle. Er muss seine Möglichkeiten kennen und erst Recht seine Grenzen.
Mitleid und Sozialromantik sind da nicht besonders hilfreich. Gefangene brauchen nicht nur Wohlwollen und Vertrauen. Sie wachsen auch am Widerspruch und an der Herausforderung zur Auseinandersetzung mit ihren Schattenseiten. Deshalb habe ich stets darauf geachtet, nicht zum Helfershelfer unreifer Illusionen zu werden oder zum Komplizen destruktiver Machenschaften.
Mit Ohnmacht konstruktiv umgehen
Seelsorge ist kein Bauchladen, der alle möglichen Wünsche und Bedürfnisse erfüllt. GefängnisseelsorgerInnen sind keine Entertainer, die willig die Lücken eines oft destruktiven und in vieler Hinsicht defizitären Vollzugs füllen. Als Seelsorger muss ich nicht ständig von Gott und vom Glauben reden. Ich muss aber sehr wohl ein Gespür haben für die großen Lebensfragen, für die Dramen und Abgründe, die Hoffnungen und Wünsche, die oft in einem sehr alltäglichen Gewand mit der Gottesfrage und mit einer religiösen Verwurzelung zu tun haben. Ich hab immer versucht, da wachsam zu sein und hab mich nicht gescheut, solche Zusammenhänge zur Sprache zu bringen. Oft war ich verblüfft über die offene und direkte Art, in der da gesprochen wird, erstaunt auch über das Vertrauen, das mir geschenkt wurde. Und noch öfter war ich sprachlos und ratlos angesichts der Schuldgeschichten, der verirrten Lebenswege, der entstellten und beschädigten Persönlichkeiten, die da bei mir saßen mit ihren Fragen und Nöten, ihren Hoffnungen und Ängsten. Mit Manchem konnte ich „nur“ aushalten und ausharren am Rand seiner Abgründe. Standhalten und Dabeibleiben: da, wo andere eher davonlaufen.
Mit solcher Ohnmacht konstruktiv umzugehen, menschlich, geistlich und pastoral – praktisch, das scheint mir eine der großen professionellen Herausforderungen im Dienst eines Gefängnisseelsorgers zu sein. Ich jedenfalls hab eine Ahnung bekommen, was das wohl meint, wenn Paulus im 2. Korintherbrief bezeugt, dass ihm gerade in seiner Schwachheit Stärke widerfahren ist. Wenn Männer im Knast sitzen, sind fast immer Andere mitbetroffen von der oft jahrelangen Inhaftierung: Frauen und Kinder, Väter und Mütter, Angehörige und Freunde. Alle diese Beziehungen sind schwersten Belastungen ausgesetzt. Sie laufen Gefahr auszutrocknen und zu veröden. Viele brechen ab oder werden beendet, oft schon mit dem Haftbeginn oder später im Laufe zermürbender Jahre. „Ich war im Gefängnis – und Du hast mich besucht.“ – Ich bin an dieser Zumutung gewachsen und gereift: menschlich und geistlich. Und, ich sage es noch einmal, ich bin dankbar für die Erfahrungen, die ich in diesem besonderen Feld kirchlicher Seelsorge sammeln durfte.
Dietmar Jordan | Vortrag Netzwerk Theologie und Beruf, Münster