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Die Suche nach einem Ort des Aufgehobenseins

13. Januar 2024

Die Holzkunst von Marion Jochner ist überraschend anders als die traditionelle im bayerischen Oberammergau. So führen ihre Werke wie die kleinen Engel mit Hörnern oder der vom Kreuz herabsteigende Christus immer wieder zu anregenden Gesprächen. „Ich kann nicht an einen Gott glauben, der seinen Sohn opfert“, sagte eine Besucherin.

Und eine andere erzählte von Missbrauchserfahrungen in der Kirche, jene anklagend, die im Zeichen des Kreuzes Macht ausüben, statt heilend bei den Ausgesetzten zu sein. In der Betrachtung des irritierend anders gestalteten Kreuzes bricht Festgewordenes auf, und neues Suchen und Fragen beginnt. Wo aber unser Fragen sich über die Grenzen des Gewohnten hinaus traut, entsteht ein Freiraum, der das Geheimnis des Lebens offenbart: die unfassbare Weite Gottes. So kann eine Holzwerkstatt plötzlich zu einem heiligen Raum werden.

Spiegelbild des Schaufensters der Holzwerkstatt Marion Jochner’s in Oberammergau.

Orte, an denen Leben sprudelt

Begegnungen dieser Art können an gewöhnlichen wie ungewöhnlichen Orten geschehen, sie lassen aus tiefen und womöglich lang verschütteten Schichten eine menschliche Sehnsucht nach Heilsein und Aufgehobensein auftauchen und ermutigen, diese zu teilen. Ob zuhause beim Abendessen mit Gästen oder in der Einsamkeit eines Krankenhauszimmers, beim Betrachten eines Bildes im Museum oder auf dem Weg über einen Friedhof: Menschen begegnen einander und öffnen sich im Gespräch, teilen Erfahrungen in herzlichem Mitgefühl. Sie bekommen zu spüren, dass sich in ihnen etwas auftut und weitet. Das geschieht, wo Wertschätzung ist statt Berechnung und gegenseitiges Beurteilen. Es ist wie bei jener Begegnung Jesu mit der Frau am Brunnen, von der das Johannesevangelium berichtet.

Zulassen der Leere

Sie war mit mehreren Männern nacheinander verheiratet worden und doch nie wirklich angenommen. Und Jesus sagte zu ihr: in dir ist die Quelle, die sprudelt zu unendlichem Leben. Wesentlich in solchen Begegnungen ist das Zulassen der Leere: selbst keine Antwort zu haben, und nicht zu wissen, wie es weitergeht. Nur wo der Mut ist, sich einzulassen in diese Leere, ohne sie selbst zu füllen, kann sie erfüllt werden von Gott. Dann wird wahr, was das Johannesevangelium schon im Prolog sagt: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“. Genauer übersetzt heißt es: Gott hat gezeltet unter uns. Jenseits der machtvoll in Naturrecht einbetonierten Herrschaftssysteme religiöser Führer taucht die Wirklichkeit Gottes überraschend auf den Pilgerwegen unseres Lebens auf, wie ein Zelt an einer Oase mitten in der Wüste.

Sehen, wo ich wohne

Für Jesus muss es eine Gewissheit gewesen sein, dass menschliche Begegnungen sich so zu heiligen Räumen öffnen können. Das Johannesevangelium erzählt, dass einige Leute ihn fragten: „Wo wohnst du?“ Er antwortete ihnen: „Kommt und seht“. Und so blieben sie an jenem Tag bei ihm. Hier wird weniger von einer vorübergehenden Wohnung des Wanderpredigers aus Nazareth berichtet, als vor allem von seiner Einladung, das Zelt Gottes in der Begegnung der Menschen zu entdecken. Die Frage „Wo wohnst du“ bedeutet die Suche nach einem Ort des Aufgehobenseins, wo die Seele zuhause und das Zerrissene versöhnt sein kann. So wird das „Kommt und seht“ zur Einladung, an diesem Ort zu verweilen – wie in einem heiligen Raum. Möge uns auf den Wegen in diesem neuen Jahr immer wieder gewahr werden, dass Gott zelten will in unseren Begegnungen, auf dass wir uns einander voller Wertschätzung öffnen!

Christoph Kunz  | Johannes 1, 35-42
Titelfoto: Ludger Hinse | Menschenkreuze in St. Peter, Oldenburg

 

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