Vor wenigen Tagen starb in der Klinik ein junger Mann mit 20 Jahren, der Krebs hatte seinen Kampf ums Überleben zunichte gemacht. Seine Mutter war tief bestürzt und fassungslos, sie klammerte sich verzweifelt an ihren toten Sohn. Auch die anderen, der Vater mit einer eher stummen Trauer, die Großeltern mit ihrer weinenden Klage, der Onkel, der die Mutter im Arm hielt, und weitere Angehörige waren versammelt in dem Krankenzimmer, das zu einem Ort der Verzweiflung geworden war, gefüllt mit Tod, Klage, Wut und Trauer. Ein Ereignis, das alle Beteiligten radikal in die Frage führt, die keine Antwort kennt: warum?
So reißt uns das Leben aus unseren Vorstellungen, wie es sein solle, aus unseren Gewissheiten und Hoffnungen heraus, um uns unweigerlich in die Brüchigkeit und Verletztheit des Lebens führen. Bei aller Sprachlosigkeit in solchen Momenten und mit den begleitenden Gefühlen von Klage und Wut, Hilflosigkeit und tiefer Verunsicherung, kommen wir mit dem in Berührung, was Leben wesentlich ist: ein Werden und Vergehen, das sich immer neu in Verwundungen, durch Leid und Krisen und schließlich auch im Sterben vollzieht. „An sein eigenes, tiefstes Geheimnis rührt man immer nur um den Preis, in der Unversehrtheit beschädigt zu werden. Ohne die Wunde, die Würde verleiht, gibt es kein Geheimnis, keine Größe, keine Seele“, schreibt der amerikanische spirituelle Lehrer Richard Rohr.
Bestehen des Leids?
Nur wer in leidvollen Momenten verbunden im Mitgefühl, mit Respekt und in Ehrfurcht da sein kann, gerät hier nicht in Zynismus und muss nicht verdrängen, sondern ahnt jenes kostbare Geheimnis, das sich hier auftut. Es ist mehr eine Ahnung als eine Gewissheit, und sie kann nur klingen, wo die Stille nicht sofort gefüllt wird mit erklärenden, bewertenden oder vermeintlich tröstenden Worten, wo also die Frage, die sich auftut, sein darf, ohne von einer Antwort erledigt zu werden. Das Sein können mit dieser Frage, das Halten und Bestehen des Leides mitten im Leben, meint die Würde, die die Wunde verleiht. Aufgrund meiner Erfahrungen aus der Begleitung von Menschen in Krisensituationen bin ich zutiefst davon überzeugt – und sehr dankbar dafür – dass wir alle dieses Zutrauen zu sein auch und gerade im Leid in uns haben. Dafür bedarf es keines religiösen Bekenntnisses, es ist in uns allen grundgelegt.
Zutrauen ins Leben
Am Anfang des Johannesevangeliums wird diese menschliche, geheimnisvolle Kraft im Sein können als eine göttliche gedeutet: „Das Wort ist Fleisch geworden“, heißt es da. Im Verständnis dieses Evangeliums ist das Wort die göttliche Wirkkraft, das „Es-werde“ vom Anfang der Schöpfung – ein Wort, in dem sich Gott total und bedingungslos verschenkt, und in dem die schöpferische Kraft weiter wirken will. Diese göttliche Wirkkraft ist Fleisch geworden, ist ein für alle Mal eingegangen in alles Werden und Vergehen. Das Evangelium nennt dieses Ereignis beim Namen: Jesus von Nazareth. Auf seinem Weg der Hingabe, konsequent bis in den Tod hinein, sagt Jesus: Ich gehe, um einen Platz für euch vorzubereiten, und ich werde euch holen, damit auch ihr dort seid, wo ich bin.
Vor aller Jenseitigkeit höre ich in diesen Worten die tiefe Gewissheit, schon jetzt aufgehoben zu sein in der Gegenwart Gottes, der alles, was gerade geschieht mit durchlebt und erleidet, und aufatmen lässt – um sich aufzumachen für das, was es jetzt braucht. Dann ist das Ertragen jener Frage ohne Antwort zur Antwort geworden: Gott selbst ist darin und entfacht tief im Menschen ein Zutrauen in dieses Leben wie vor aller Zeit, als er sagte: es werde Licht – und es ward Licht! Das nenne ich Erlösung mitten im Leben.
Christoph Kunz