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Jüdische Widerstandskämpfer im Zuchthaus Herford (Teil III)

1. September 2024

Das Zuchthaus Herford und seine Häftlinge 1934 – 1939 (Folge 14).

Nach derzeitigem Forschungsstand saßen im Zeitraum von 1934 bis 1939 mindestens 32 jüdische Häftlinge im damaligen Zuchthaus Herford ein, von denen 16 in der auszugsweise im Online-Archiv der Arolsen Archives einsehbaren Häftlingspersonalakte von Paul Bloch genannt werden. Außer diesen 16 Juden, die aus politischen Gründen im Zuchthaus Herford ihre Strafen verbüßen mussten, gab es damals noch mindestens acht weitere jüdische Häftlinge, die wegen ihrer aktiven Gegnerschaft zum NS-Regime in Herford eingesperrt waren; ihr Verfolgungsschicksal soll im Folgenden skizziert werden.

Foto: Armin Breidenbach

Adolf und Arnold Freireich

Unter anderem über vier Mitglieder der aus Ungarn stammenden jüdischen Familie Freireich hat der Wuppertaler Historiker Armin Schulte biographische Skizzen veröffentlicht, von denen zwei für die vorliegende Untersuchung von besonderem Interesse sind, da sowohl Adolf Freireich als auch Arnold Freireich als politische Gefangene unter anderem auch im Zuchthaus Herford einsaßen. Schultes biographische Skizzen enthalten allerdings keinerlei Hinweise auf die dortige Haft von Adolf und Arnold Freireich. Der Bürstenmacher Adolf Freireich, der am 13. oder 23. Dezember 1868 in Böszörmény/Ungarn geboren wurde, hatte 1891 Gisela Brodi geheiratet. Die Kinder von beiden, Frieda und Arnold, waren ebenfalls in Ungarn geboren worden. Sowohl Adolf Freireich als auch sein Sohn Arnold, der am 9. Januar 1896 in Böszörmény/Ungarn geboren wurde, kämpften im Ersten Weltkrieg für Österreich-Ungarn. 1919 zog die Familie Freireich erneut nach Solingen, wohin sie bereits 1899 erstmals ausgewandert war. Dort betrieben Adolf und Arnold Freireich ein Bürstengeschäft. Während Adolf Freireich 1920 Mitglied der KPD geworden war, sympathisierte sein Sohn Arnold mit dieser Partei, wahrscheinlich ohne deren Mitglied gewesen zu sein. Bereits 1933 befand er sich von März bis Juli in “Schutzhaft”. Aufgrund einer Denunziation wurde die gesamte Familie Freireich am 16. März 1936 festgenommen und in das Polizeigefängnis Düsseldorf überführt, wo sie in “Schutzhaft” genommen wurde.

Häftlingskarteikarten zufolge wurde Adolf Freireich am 4. Mai 1936 in das Gefängnis Düsseldorf-Derendorf eingeliefert, während Arnold Freireich bereits am 31. März 1936 in das Bezirkskrankenhaus dieses Gefängnisses überstellt worden war. Der Aufenthalt in jenem Krankenhaus dürfte ein Indiz dafür sein, dass er bei den Verhören schwer misshandelt worden war. Am 10. Dezember 1936 wurden Adolf und Arnold Freireich in das Gerichtsgefängnis Hamm eingeliefert. Sieben Tage später wurden vor dem Oberlandesgericht Hamm die Urteile gegen Arnold Freireich und sieben weitere Angeklagte wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens verkündet (Aktenzeichen: 6 O Js. 200/36): Arnold Freireich wurde als Hauptangeklagter wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu einer Zuchthausstrafe von sechs Jahren und fünf Jahren Ehrverlust verurteilt. Adolf Freireich erhielt eine Zuchthausstrafe von drei Jahren, Gisela Freireich eine von zweieinhalb Jahren. Während Adolf Freireich am 21. Dezember 1936 vom Gefängnis Hamm aus in das Zuchthaus Herford überführt wurde, wurde sein Sohn Arnold am selben Tag von Hamm aus in das Zuchthaus Münster überstellt. Gisela Freireich wurde ebenfalls am 21. Dezember 1936 von Hamm überführt, und zwar in das Frauenzuchthaus Ziegenhain. Adolf Freireich wurde am 31. März 1939 aus der Haft entlassen. Zusammen mit seiner Ehefrau Gisela, die sich seit dem 23. November 1938 wieder in Freiheit befand, zog er am 5. Juni 1939 in das Haus Pfaffenberger Weg 190 in Solingen. Armin Schulte zufolge wurde Adolf Freireich noch vor dem 13. Juli 1941, als dieses Haus nachts von betrunkenen Nationalsozialisten überfallen wurde, nach Köln in das Israelitische Asyl für Kranke und Altersschwache verlegt. Am 4. März 1942 starb er im Pflegeheim Ottostraße 85.

Nach Armin Schulte war Arnold Freireich 1937 im Zuchthaus Münster inhaftiert; vermutlich war er nach der Verurteilung von Hamm aus dorthin überstellt worden. Und Armin Schulte weiter: “Arnold Freireich erhielt während seiner Haft im Zuchthaus Münster den Bescheid, dass er aus dem Gebiet des Deutschen Reiches ausgewiesen worden ist, was jedoch erst nach der Haftentlassung geschehen kann.” Vom Zuchthaus Münster aus wurde Arnold Freireich zu einem bisher unbekannten Zeitpunkt in das Zuchthaus Herford überführt und von dort aus im Rahmen der bevorstehenden Umwandlung dieses Zuchthauses in ein Jugendgefängnis am 20. Juni 1939 in das Zuchthaus Siegburg eingeliefert. Während seiner dortigen Haft beschwerte er sich im Dezember 1939 in einem Schreiben an den Königlichen Ungarischen Generalkonsul über die Methoden der Geheimen Staatspolizei, denen er ausgesetzt war. Nachdem er am 16. Oktober 1942 seine Strafe in Siegburg restlos verbüßt hatte, wurde er noch am selben Tag von dort in das Gefängnis Düsseldorf-Derendorf überführt, wo er sich in “Schutzhaft” befand, bis er am 21. Dezember 1942 zum KZ Auschwitz weitergeleitet wurde. Der Transport dorthin dauerte insgesamt sieben Tage, wie ein Schreiben der Auschwitz-Kommandantur an die Geheime Staatspolizei(leit)stelle Düsseldorf, datiert vom 7. Januar 1943, dokumentiert. Noch keine vier Wochen später, am 21. Januar 1943, starb Arnold Freireich um 9.30 Uhr im Häftlingskrankenbau des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, angeblich an einer Nierenentzündung.

Utensilien aus dem Zuchthaus Herford in der Ausstellung des Zellentraktes im Rathaus Herford.

Etwa ein halbes Jahr nach Kriegsende wandte sich Arnold Freireichs Sohn mit der Bitte an die Vereinigung ehemaliger Konzentrationäre und politisch Inhaftierter (VVN), den Verbleib seines Vaters zu ermitteln. In dem Schreiben der Solinger VVN vom 21. November 1945 an die Zuchthausverwaltung Siegburg, wurde irrtümlicherweise davon ausgegangen, dass Arnold Freireich “zuletzt nachweisbar im Jahre 1943” im Zuchthaus Siegburg inhaftiert war. Wie bereits dargestellt, war Arnold Freireich aber bereits am 16. Oktober 1942 vom Zuchthaus Siegburg aus in das Polizeigefängnis Düsseldorf überführt worden. Adol Freireich wird im Gegensatz zu seinem Sohn Arnold weder im 2006 vom Bundesarchiv herausgegebenen „Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945“, noch in der Online-Version dieses Gedenkbuchs erwähnt. In Solingen, Kirchplatz, erinnern seit 2004 “Stolpersteine gegen das Vergessen” an Adolf, Arnold, Gisela und Frieda Freireich. Die Inschriften auf diesen vier “Stolpersteinen” sind teilweise fehlerhaft, was die Dauer der “Gestapohaft” anbelangt. Außerdem ist das für Adolf Freireich angegebene Todesdatum falsch: er starb nicht 1941, sondern erst am 4. März 1942.

Rudolf Frenkel

In einem Internetbeitrag über jüdische Schüler im Widerstand wird darauf hingewiesen, dass jüdische Widerstandskämpfer “vor allem in den Reihen der SPD und KPD sowie bei den linken politischen Kleinorganisationen zwischen und neben den beiden großen Blöcken der Arbeiterbewegung dem Nationalsozialismus entgegen[traten]. Diese jüdischen Widerstandskämpfer hatten sich allerdings oft vom Judentum zugunsten ihrer politischen Ideologie getrennt. In der jüdischen Bevölkerung stellten solche Anhänger der politischen Linken eine kleine Minderheit dar, da das assimilierte Judentum in Deutschland mit der überwiegend (klein)bürgerlichen Schichtzugehörigkeit eher dem unpolitischen oder nationalen und bestenfalls liberalen Mainstream folgte. Die so genannten Ostjuden waren eher unpolitisch und vorwiegend religiös orientiert.”

Unter weiter heißt es in diesem Beitrag: “In der kleinen Gruppe der “Links-Opposition” wurden frühzeitig die Gefahren des Nationalsozialismus erkannt und schon 1932 Vorbereitungen für Flucht und Untergrund getroffen. Im Verhältnis zu ihrer geringen Größe wurde die Gruppe im Widerstand ausgesprochen aktiv. Bis zur Zerschlagung 1935/36 hielt sie umfangreiche Verbindungen in Deutschland und zu den benachbarten Staaten aufrecht, organisierte illegale Zeitungen und informierte über die Verbrechen des Nationalsozialismus.” Der Jude Rudolf Frenkel, am 19. September 1914 in Gelsenkirchen geboren, hatte 1932/33 begonnen, Nationalökonomie zu studieren, musste jedoch dieses Studium abbrechen. Über alte Freundschaften zu Mitgliedern des Jüdischen Schülerbundes kam er zur “Links-Opposition” (LO). Nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 war er nach Frankfurt am Main gezogen, wo er Arbeit fand. Als er dort arbeitslos wurde, kehrte er zu seinen Eltern ins Ruhrgebiet zurück. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 beteiligte er sich an der Verbreitung von illegalen Schriften der LO und den dort geführten politischen Diskussionen.

Frenkel, der 1934 in Essen den Internationalen Kommunisten Deutschlands (IKD) angehörte, unternahm im Rahmen seiner Widerstandstätigkeit auch Kurierfahrten ins Ausland. Im Zusammenhang mit der Zerschlagung der Gruppe durch die Geheime Staatspolizei (Gestapo) wurde er am 22. Januar 1936 festgenommen. Am 24. Juli 1936 wurde er vor dem OLG Hamm in einem Prozess gegen Mitglieder der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) und der „Linksopposition“ der KPD (LO) (“Prozess gegen Ludwig Rouette und andere”) zu einer Zuchthausstrafe von zwei Jahren verurteilt. In diesem Prozess, der auch in dem bereits 1969 veröffentlichten Buch von Karl Schabrod über den “Widerstand an Rhein und Ruhr 1933 – 1945” erwähnt wird, wurden unter anderem auch die Solinger Paul de Groote, Eugen Pulvermacher, Ernst Walsken und der jüdische Widerstandskämpfer Werner Goldschmidt zu Zuchthausstrafen verurteilt, die sie ebenfalls zumindest zeitweise im Zuchthaus Herford verbüßen mussten. Rudolf Frenkel musste seine Strafe bis zum 24. Januar 1938 im Zuchthaus Herford absitzen. Nach Strafverbüßung wurde er am 5. Februar 1938 als „Schutzhäftling“ in das KZ Dachau deportiert, wo er die Häftlingsnummer 13464 erhielt. Von Dachau aus wurde er am 23. September 1938 in das KZ Buchenwald eingeliefert; dort bekam er die Häftlingsnummer 8091 zugeteilt. Am 9. Februar 1939 wurde er von dort zu seinen in Essen lebenden Eltern entlassen; der Grund dafür dürfte vermutlich Rudolf Frenkels Visum nach Palästina gewesen sein, da das NS-Regime auf diese Weise einen Juden “loswerden” konnte. Später gelangte er über Triest nach Haifa. Am 11. Juli 1939 wurde Rudolf Frenkel “ausgebürgert”, das heißt, ihm wurde die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt. Die Eltern von Rudolf Frenkel fielen später dem Holocaust zum Opfer.

Holzhocker aus den 40er Jahren des Zuchthauses Herford in der Ausstellung des Zellentraktes im Rathaus Herford.

Werner Goldschmidt

In dem bereits erwähnten Internetbeitrag über jüdische Schüler im Widerstand wird auch auf den Autoklempner Werner Goldschmidt, der am 1. März 1909 in Bad Orb geboren wurde, näher eingegangen. Dieser war kurz vor dem Ersten Weltkrieg mit seinen Eltern nach Gelsenkirchen gezogen und trennte sich bereits als Jugendlicher vom Judentum. Nicht über den Schülerbund (wie etwa der bereits erwähnte Rudolf Frenkel), sondern über längeres politisches Engagement beim “Touristenverein – Die Naturfreunde”, einer Freizeitorganisation der Arbeiterkulturbewegung, war er zu der Widerstandsgruppe der „Linksopposition“ der KPD (LO) gestoßen. In Gelsenkirchen war der “Touristenverein – Die Naturfreunde” vor allem auch zu einem Sammelbecken derjenigen Anhänger der Arbeiterbewegung geworden, die den beiden großen Arbeiterparteien SPD und KPD kritisch gegenüberstanden. Bei seinen Widerstandsaktivitäten besorgte Werner Goldschmidt Material für die Gelsenkirchener Widerstandsgruppe. Auch reiste er zu Besprechungen ins Ausland und besuchte emigrierte Gruppen-Mitglieder. Als die Widerstandsgruppe aufgedeckt wurde, wurde auch Goldschmidt am 3. Dezember 1935 festgenommen.

Die über Werner Goldschmidt angelegte Gestapo-Akte belegt, dass er eine Woche nach seiner Festnahme in Düsseldorf erkennungsdienstlich behandelt wurde, das heißt, es wurden von ihm Polizeifotos hergestellt; außerdem wurde über ihn eine Gestapo-Personalakte angelegt. Am 24. Juli 1936 wurde er – unter anderem mit dem bereits erwähnten Rudolf Frenkel – vor dem OLG Hamm im “Prozess gegen Ludwig Rouette und andere” zu einer Zuchthausstrafe von sechs Jahren und fünf Jahren Ehrverlust verurteilt; geplantes Strafende war der 24. Dezember 1941. Diese Strafe musste er zunächst im Zuchthaus Münster und später im Zuchthaus Herford verbüßen. 1995 berichtete Werner Goldschmidt über seine Festnahme und spätere Strafhaft unter anderem: “1933, als Hitler an die Macht kam, war ich Mitglied der Widerstandsbewegung. Am 3. Dezember 1935 wurde unsere Gruppe von der Gestapo verhaftet. Die Gestapo folterte die Gefangenen, um ein Geständnis zu bekommen. […] Am 24. Juli 1936 war unsere Gerichtsverhandlung vor dem Oberlandesgericht in Hamm. Anklage: ‘Vorbereitung zum Hochverrat.’ Ich wurde zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Ich war sechs Jahre in Einzelhaft, eine schmale Zelle mit einem Klappbett, mit einer Strohmatratze, ein schmaler Klapptisch, ein Wasserkrug und ein irdener Kübel als Toilette. Es war eine schwere Zeit, aber es hat mich stärker gemacht. […].”

Den Rest der Strafe musste er im Zuchthaus Siegburg absitzen, wie ein nach 1945 von der damaligen Militärregierung erstellter „Fragebogen für Insassen der Konzentrationslager“ dokumentiert. In dem Internetbeitrag über jüdische Schüler im Widerstand heißt es weiter: “Kurz vor Verbüßung der Strafe wurde Werner Goldschmidt am 19. Dezember 1941 aus dem Zuchthaus in das Gelsenkirchener Polizeigefängnis überstellt. Von dort sollte er mit seinen Eltern, die Gelsenkirchen trotz der Aufforderungen ihres Sohnes nicht ohne ihn hatten verlassen wollen, nach Osten ‘abgeschoben’ werden.” Nach einer schriftlichen Mitteilung seiner in den USA lebenden Schwester Else wurde er im Januar 1942 von Gelsenkirchen aus in das Ghetto Riga deportiert. Nach einer Häftlings-Personal-Karte des Konzentrationslagers Buchenwald wurde er am 7. Januar 1942 in das Ghetto Riga eingeliefert; nach eigenen Angaben wurde er jedoch erst am 27. Januar 1942 dort eingeliefert. Während Werner Goldschmidt die mehr als zwei Jahre dauernde Haft überlebte, kamen seine Eltern, Moritz und Hedwig Goldschmidt, in diesem Ghetto um. Vom Ghetto Riga aus wurde Werner Goldschmidt am 9. August 1944 dem KZ Stutthof überstellt, um bereits eine Woche später in das KZ Buchenwald eingeliefert zu werden, wo er die Häftlingsnummer 82713 erhielt. Nach Peter Berens wurde Werner Goldschmidt im August 1944 “als Zwangsarbeiter über Danzig und das KZ Buchenwald zu einer Munitionsfabrik in Bochum verfrachtet. Das Ende des Krieges erlebte er wiederum in Buchenwald.” Anfang April 1945 wurde Goldschmidt im KZ Buchenwald durch die US-Armee befreit. Später trennte er das Stück Stoff mit seiner Buchenwalder Häftlingsnummer von seiner KZ-Kleidung ab, um es aufzubewahren. Mit Hilfe seiner Schwester wanderte Werner Goldschmidt 1947 in die USA aus. An Werner Goldschmidt erinnert in Gelsenkirchen, Augustastraße 4, ein “Stolperstein gegen das Vergessen”.

Stolperstein Izchok Gerszt (Creative-Commons-Lizenz Wikipedia).

Izchock Gerszt

Der jüdische Schneider Izchock Gerszt aus Wuppertal-Elberfeld, der am 16. Oktober 1901 in Brzeziny bei Lodz geboren wurde und in Polen im sozialistisch-jüdischen “Bund” organisiert gewesen war, wanderte 1920 nach Deutschland aus, weil er sich in seinem Heimatland dem Wehrdienst entziehen wollte. In Deutschland arbeitete er zunächst in der Landwirtschaft und später in seinem erlernten Beruf als Schneider. Gerszt, der 1925 ein eigenes Schneidergeschäft eröffnet hatte, trat zusammen mit seiner Ehefrau Rita der KPD bei und war im jüdischen Arbeiterkulturverein aktiv. Zusammen mit Jukiel Jakob Gilberg übernahm er die Finanzierung des geheimen Nachrichtendienstes der KPD (AM-Apparat) in Wuppertal. Gerszt und Gilberg gelang es bis zu ihrer Verhaftung, durch Geldsammlungen bei antifaschistisch eingestellten Geschäftsleuten und Angestellten die illegale Arbeit des Wuppertaler AM-Apparats sicherzustellen. Wegen dieser Aktivitäten wurde Gerszt am 30. Juni 1936 festgenommen und am 6. März 1937 vom 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm in einem Massenprozess mit insgesamt 74 Angeklagten (Prozess Bruckner und andere) zu einer Zuchthausstrafe von vier Jahren verurteilt, die er im Zuchthaus Herford verbüßen musste. Am 3. August 1937 wurde er von dort wegen eines Termins als Zeuge in das Gerichtsgefängnis Hamm eingeliefert und am 12. August 1937 wieder in das Zuchthaus Herford zurückgeschickt.

Später war Gerszt im Zuchthaus Siegburg inhaftiert, in das er vermutlich wegen der bevorstehenden Umwandlung des Zuchthauses Herford in ein Jugendgefängnis im Juni 1939 eingeliefert worden war. Am 30. Juni 1939 bat Gerszts Ehefrau Rita in einem Gnadengesuch an den Generalstaatsanwalt in Hamm, ihrem Mann den letzten Rest seiner Strafe zu erlassen, damit sie mit ihm und dem Kind in die USA auswandern könne. Dieses Gnadengesuch wurde jedoch trotz der guten Führung von Izchok Gerszt im Zuchthaus Herford abgelehnt: “G. ist staatenloser Jude: er hat noch mehr als 1 Jahr Strafe zu verbüßen.” Nach Strafverbüßung wurde er in „Schutzhaft“ genommen und zunächst in das KZ Sachsenhausen transportiert; von dort wurde er in das KZ Auschwitz eingeliefert. Am 13. Januar 1945, wenige Tage vor der Befreiung dieses Konzentrationslagers durch die Rote Armee, wurde Gerszt vermutlich auf dem Todesmarsch erschossen. Gerszts Ehefrau Rita war bereits am 29. Mai 1942 in der Vergasungsanstalt Bernburg ermordet worden. Die Tochter, Stephanie Gerszt, überlebte das “Dritte Reich” und konnte 1948 in die USA auswandern. In Wuppertal-Elberfeld, Reiterstraße 3, erinnern „Stolpersteine gegen das Vergessen“ an Izchok und Rita Gerszt.


Aron Mozes Kater

Der jüdische Händler Aron Mozes Kater, geboren am 23. November 1893 in Amsterdam und um 1920 mit seiner Familie nach Essen verzogen, wurde am 21. Dezember 1934 wegen Verdachts auf Vorbereitung zum Hochverrat als Untersuchungshäftling in das Straf- und Gerichtsgefängnis Essen eingeliefert. Auf seiner Häftlingskartekarte wurde vermerkt, dass es sich bei ihm um einen Holländer handelt. Am 2. September 1935 wurde er von dort in das Untersuchungsgefängnis in Berlin-Alt-Moabit überführt. Am 28. September 1935 wurde er vom Volksgerichtshof wegen Landesverrats in Tateinheit mit Vorbereitung zum Hochverrat zu einer Zuchthausstrafe von 12 Jahren verurteilt (Aktenzeichen: 14 J 114/34). Er musste seine Strafe zunächst im Zuchthaus Herford verbüßen, bevor er 1938 oder 1939 in das Zuchthaus Münster und am 25. März 1940 von dort in das Zuchthaus Butzbach verlegt wurde. Später wurde er in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz deportiert, wo er am 14. Februar 1943 umkam bzw. ermordet wurde. Seine Ehefrau und seine vier Kinder wurden ebenfalls in Auschwitz ermordet.

Albert Katz

Der Jude Albert Katz, der am 13. September 1871 in Bornheim bei Bonn geboren wurde, war von Beruf zunächst Kaufmann und später Bergmann. Er wohnte in Mülheim/Ruhr, Moers und ab Ende 1935 in Duisburg. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten war er im Widerstand gegen das NS-Regime aktiv und wurde wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu einer Freiheitsstrafe verurteilt (Aktenzeichen: O.Js 140/34). Seine Strafzeit dauerte vom 4. Mai 1934 bis zum 4. November 1935. Zunächst war Katz wahrscheinlich im Zuchthaus Münster inhaftiert. Zusammen mit 21 anderen Strafgefangenen jüdischen Glaubens wurde er am 21. September 1935 von dort zur weiteren Strafverbüßung in das Zuchthaus Herford verlegt. Am 25. Juli 1942 wurde Albert Katz von Düsseldorf aus in das Ghetto Theresienstadt deportiert, wo er am 7. April 1943 umkam.

Paul (Scoal, Szoel) Strycewski

Nach dem 1980 von der Stadt Essen herausgegebenen “Gedenkbuch für die jüdischen Mitbürger der Stadt Essen” wurde der jüdische Schneidermeister Szoel Stryzewski am 17. September 1894 in Lodz/Polen geboren. In den über ihn gefundenen Quellen wird sein Name unterschiedlich geschrieben. Eine ihn betreffende Meldekarte konnte im Essener Stadtarchiv nicht ermittelt werden, zumal die dortige Ausländerkartei im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört worden war. Ein Eintrag über einen Paul Stryzewski findet sich erstmals im Essener Adressbuch von 1932. In dem genannten Gedenkbuch wird zwar unter anderem erwähnt, dass Stryzewski wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden war und nach Verbüßung dieser Strafe nach Polen abgeschoben wurde; in welchen Strafanstalten er die verhängte Strafe verbüßen musste, ist dem Gedenkbuch jedoch nicht zu entnehmen.

Knappe Hinweise über die Einbindung Stryzewskis in den Widerstand gegen das NS-Regime lassen sich dem Buch von Hermann Bogdal über den Widerstandskämpfer Paul Langer entnehmen. So lässt sich in einem Bericht der Dortmunder Gestapo vom 30. April 1936 ein Hinweis auf Paul Strycewski finden, ohne dass dieser namentlich genannt wird; in diesem Bericht heißt es unter anderem: “In Essen ist die Grete (es handelte sich hier um Grete R., die Verbindungskurierin der KPD-Bezirksleitung Ruhrgebiet; A. B.) mit einem Gebietsfunktionär, der unter dem Decknamen „Franz“ auftauchte, bei einem Schneidermeister in Essen, Frohnhauserstr. Nr. ?, angelaufen.” Bei dem erwähnten Schneidermeister handelte es sich eindeutig um Paul Strycewski, der, wie seine Häftlingskarteikarte des Gefängnisses Hamm belegt, mit seiner Familie in Essen, Frohnhauserstraße 13, wohnte. Auch in dem Verhör, das die Dortmunder Gestapo am 5. Mai 1936 mit dem kommunistischen, in der Illegalität lebenden Funktionär Paul Langer führte, wurde Paul Strycewski genannt:


“Wie bereits erwähnt, bekam ich durch A. mit N. Verbindung. N. führte mich dann im Sommer 1934 bei einem Schneidermeister, Name unbekannt, Essen, Frohnhauserstraße wohnhaft, ein, dessen Wohnung ich dann bis zum Frühjahr 1935 als Anlaufstelle benutzt habe. Kurz vor meiner Festnahme, 7.4.1935, war ich noch einmal dort und habe ich meinen Koffer mit Mantel, Anzug und Wäsche, dort zurückgelassen. Die Grete R. habe ich ebenfalls dort im Frühjahr 1935 ebenfalls eingeführt.” Wann der Essener Schneidermeister festgenommen wurde, konnte bis jetzt noch nicht ermittelt werden. Fest steht aber Folgendes: Vom Gerichtsgefängnis Essen aus wurde er am 7. September 1936 in das Gerichtsgefängnis Hamm eingeliefert, um vor dem Oberlandesgericht Hamm in einem Prozess mit insgesamt vier Angeklagten wegen Vorbereitung zum Hochverrat (Unterstützung kommunistischer Funktionäre) zu einer Zuchthausstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt zu werden (Aktenzeichen: 5 O Js 224/36); das geplante Strafende wurde auf den 5. Januar 1939 festgelegt. Am 5. November 1936 wurde er von Hamm aus in das Zuchthaus Herford überführt. Dem “Gedenkbuch für die jüdischen Mitbürger der Stadt Essen” zufolge wurde er nach Strafverbüßung nach Polen abgeschoben und “am 8.5.1945 für tot erklärt”. Beide Töchter von Paul Stryzewski emigrierten zu einem unbekannten Zeitpunkt nach Frankreich; während die ältere Tochter den Holocaust überlebte, wurde die jüngere von Drancy nach Auschwitz deportiert und nach dem Zweiten Weltkrieg für tot erklärt.

Armin Breidenbach

Quellen und Literatur

  • Albel, Ursula und Schott, Christian: Verfolgt, Angeklagt, Verurteilt. Politischer Widerstand und oppositionelles Verhalten in Wuppertal 1933 – 1945. Dokumentation biografischer Daten, Verfahren und Anklagen, Bocholt und Breedevoort 2001
  • Arolsen Archives, Online-Archiv: Verschiedene Dokumente
  • Berens, Peter: Trotzkisten gegen Hitler, Köln 2007
  • Bogdal, Hermann: „Was ist wichtig?“ Leben, Kampf und Schicksal des Kommunisten Paul Langer, Bremen 1997
  • Die Ausbürgerung deutscher Staatsangehöriger 1933 – 45 nach den im Reichsanzeiger veröffentlichten Listen, hrsg. von Michael Hepp, München, New York, London und Paris 1985, Bd. 1
  • Haus der Essener Geschichte / Stadtarchiv, Essen: Schriftliche Mitteilungen vom 27.4.2021 und 9.2.2024 
  • Landesarchiv NRW, Abteilung Westfalen, Münster: Schriftliche Auskunft vom 28.2.2024
  • Landesarchiv NRW, Abteilung Ostwestfalen-Lippe, Detmold: Schriftliche Auskunft vom 24.7.2023
  • Schabrod, Karl: Widerstand an Rhein und Ruhr 1933 – 1945, Hrsg.: Landesvorstand der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1969
  • Schröter, Hermann: Geschichte und Schicksal der Essener Juden. Gedenkbuch für die jüdischen Mitbürger der Stadt Essen, hrsg. von der Stadt Essen, Essen 1980
  • Schulte, Armin: „Man soll mich nur nicht vergessen!“ Stolpersteine in Solingen – Schicksale 1933 – 1945, hrsg. vom Stadtarchiv Solingen, Remscheid 2020
  • Stadtarchiv Moers: Schriftliche Auskunft vom 26.3.2024 und Meldekarte des Einwohner-Meldeamts der Stadt Moers für Albert Katz
  • Sterbebücher von Auschwitz. Fragmente. Namensverzeichnis A-L, hrsg. vom Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, München, New Providence, London und Paris 1995, Bd. 1
  • Stracke, Stephan: Die Wuppertaler Gewerkschaftsprozesse. Gewerkschaftlicher Widerstand und internationale Solidarität, Bremen und Wuppertal 2012
  • Wever, Dieter: Schriftliche Mitteilungen vom 30.7.2016, 10.2.2021 und 21.2.2021
  • NS-Gedenkstätte  | Bundesarchiv 1 2 3 | Stolpersteine | Duisburg | Spuren
  • Rede von Werner Goldschmidt 1995 in Gelsenkirchen

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  • Stolpersteine erinnern an ehem. Häftlinge des Zuchthauses – Folge 1
  • Über das Zuchthaus Herford ist bisher nur wenig bekannt – Folge 2
  • Widerstand gegen das NS-Regime führte zu hohen Zuchthausstrafen – Folge 3
  • Einlieferung von Häftlingen in das Zuchthaus Herford – Folge 4
  • Zeitungen im „Dritten Reich“ über Prozesse gegen Antifaschisten – Folge 5
  • Über Ort und Dauer der Inhaftierung keine Informationen – Folge 6
  • Der Direktor des Zuchthauses Herford: Dr. Josef Wüllner – Folge 7
  • Kommunistische Häftlinge im Zuchthaus Herford – Folge 8
  • Solinger Kommunisten als Strafgefangene im Zuchthaus Herford – Folge 9
  • Sozialdemokratische Häftlinge im Zuchthaus Herford – Folge 10
  • Sozialdemokrat Fritz Steinhoff im Zuchthaus Herford – Folge 11
  • Jüdische Widerstandskämpfer im Zuchthaus Herford (Teil I) – Folge 12
  • Jüdische Widerstandskämpfer im Zuchthaus Herford (Teil II) – Folge 13
  • Jüdische Widerstandskämpfer im Zuchthaus Herford (Teil III) – Folge 14

 

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