Das Zuchthaus Herford und seine Häftlinge in den Jahren 1934-1939. Teil I (Folge 22).
Bereits in Folge siebzehn der Serie über das Zuchthaus Herford und seine Häftlinge wurde auf den Fall eines dort inhaftierten kriminellen Häftlings (Adolf W.) hingewiesen, der 1936 zwecks Zwangssterilisation vorübergehend in das Bezirkskrankenhaus des Gefängnisses Düsseldorf-Derendorf verlegt wurde. Wie die Auswertung von Häftlingskarteikarten des Gefängnisses Düsseldorf-Derendorf ergab, war Adolf W. aber nicht der einzige Häftling aus dem Zuchthaus Herford, der sich diesem operativen Eingriff unterziehen musste. Aus diesem Grunde soll in der vorliegenden Folge näher auf die Zwangssterilisation von Häftlingen des Zuchthauses Herford eingegangen werden.
In der Zeit des Nationalsozialismus wurden im Rahmen des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ nicht nur Strafgefangene, sondern schätzungsweise insgesamt 350.000 bis 400.000 Menschen in Deutschland zwangsweise sterilisiert. Wenn auch die wenigsten der im „Dritten Reich” Zwangssterilisierten Insassen von Strafanstalten waren, so ist doch hervorzuheben, dass Inhaftierte offensichtlich besonders leicht Opfer dieser Zwangsmaßnahme werden konnten.
5262 inhaftierte Männer und 677 Frauen sterilisiert
Diese Erfahrung musste auch der Widerstandskämpfer Friedrich Büker machen, der am 15. November 1900 in Heidenoldendorf bei Detmold geboren wurde und am 13. September 1934 in einem Massenprozess mit insgesamt 67 Angeklagten wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden war. Büker musste diese ab dem 10. November 1934 im Zuchthaus Herford verbüßen, das kurze Zeit vorher von einem Zellengefängnis in ein Zuchthaus umgewandelt worden war. Von dort wurde er am 27. September 1935 aufgrund einer Namensverwechslung irrtümlich in das Gefängnis Düsseldorf-Derendorf eingeliefert. Der Irrtum fiel rechtzeitig auf, sodass er von der Zwangssterilisation verschont blieb und am 7. Oktober 1935 von Düsseldorf wieder nach Herford überführt wurde. Das Verfolgungsschicksal von Friedrich Büker, der 1944 im KZ Sachsenhausen erschossen wurde, wurde in Folge 16 ausführlich dargestellt.
Auf die besondere Situation von Strafgefangenen geht Vera Tüchler in ihrer Diplomarbeit über den „Strafvollzug in der NS-Zeit unter besonderer Berücksichtigung der Justizanstalt Garsten“ (Österreich) ein:
„Nach § 3 ‚Erbgesundheitsgesetz‘ waren die Anstaltsleiter von Strafanstalten dazu befugt Anträge auf Unfruchtbarmachung bei bestimmten Krankheiten von Insassen (Schwachsinn, Schizophrenie, erblicher Blindheit, erblicher Taubheit etc) zu stellen. Zur Entscheidung befugt war das Erbgesundheitsgericht, das einem Amtsgericht anzugliedern war. Lag nach diesem Gesetz ein rechtskräftiger Beschluss des Gerichtes zur Unfruchtbarmachung vor, war die Sterilisation auch gegen den Willen des davon Betroffenen durchzuführen, wenn er nicht selbst den Antrag gestellt hatte. Die Anwendung unmittelbaren physischen Zwanges war in diesem Zusammenhang ausdrücklich durch das Gesetz gedeckt. Ob für jemanden seitens der Gefängnisleitung ein solcher Antrag auf Sterilisierung gestellt wurde, hing einerseits von den Gefängnisbeamten und in weiterer Folge von den Gefängnisärzten, die ihre Zustimmung erteilen mussten, ab. Da viele Gefängnisärzte Anhänger der Idee der Rassenhygiene waren, kam es zu einer beträchtlichen Anzahl von Zwangssterilisationen, eine diesbezügliche Gefahr war jedenfalls für Insassen von Strafanstalten erheblich größer als in der Allgemeinbevölkerung. Zwischen 1934 und 1940 wurden insgesamt 5262 inhaftierte Männer und 677 Frauen sterilisiert. Auch Todesfälle nach dem operativen Eingriff kamen vor.“
Ins Bezirkskrankenhaus verlegt
Die Zwangssterilisation und Kastration von Häftlingen wurde nicht vor Ort vorgenommen, sondern in dafür entsprechend ausgestatteten Krankenhäusern, wie zum Beispiel dem „Bezirkskrankenhaus des Gefängnisses Düsseldorf-Derendorf“, das vor allem für Häftlinge aus dem Oberlandesgerichtsbezirk Düsseldorf zuständig war. Aber auch Häftlinge aus anderen Oberlandesgerichtsbezirken wurden dort eingeliefert. Die Überführung dieser Häftlinge erfolgte in der Regel per Sammeltransport mit den Gefängniswagen der Deutschen Reichsbahn. Im Zeitraum vom 1. April 1936 bis zum 31. März 1937 wurden in diesem Bezirkskrankenhaus unter anderem 332 Sterilisationen und 60 „Entmannungen“ (Kastrationen) durchgeführt. Nach Bastian Fleermann „wurde die Krankenabteilung (im Derendorfer Bezirkskrankenhaus; A. B.) während der NS-Zeit zu einem wahren Zentrum für Medizinverbrechen an Häftlingen aus dem gesamten Umland: Massenhaft wurden im dortigen OP-Bereich ab Anfang des Jahres 1934 Zwangssterilisationen und ‚Entmannungen’ (Kastrationen) durchgeführt.“
„Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchs“
Grundlage für diese operativen Eingriffe waren zwei Gesetze: das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 und das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ vom 24. November 1933. Den „Materialien zu den Ausstellungen” der „Gedenkstätte Zellentrakt” in Herford zufolge wurden im Zeitraum von 1934 bis 1944 mindestens 170 Strafgefangene der Strafanstalt Herford zwangssterilisiert. Da die Strafanstalt in Herford im genannten Zeitraum zeitweilig Zellengefängnis, Zuchthaus oder Jugendgefängnis gewesen war, konnte bisher noch nicht geklärt werden, wie viele der zwangssterilisierten Strafgefangenen jeweils dem dortigen Zellengefängnis, Zuchthaus oder Jugendgefängnis zuzurechnen sind. Anhand von Häftlingskarteikarten des Gefängnisses Düsseldorf-Derendorf, die im Online-Archiv der Arolsen Archives einsehbar sind, konnten insgesamt 28 zwangssterilisierte Häftlinge des Zuchthauses Herford ermittelt werden. Auf einen dieser Häftlinge soll im Folgenden näher eingegangen werden.
Wilhelm R.
Wilhelm R., der am 2. September 1901 in Düsseldorf geboren wurde und dort später auch noch wohnhaft war, war gelernter Bauarbeiter, arbeitete später jedoch als Kutscher. Er geriet mehrmals mit dem Gesetz in Konflikt. So wurde er etwa am 27. Juli 1928 wegen Unterschlagung pp. zu einer Gesamtstrafe von drei Jahren Zuchthaus (unter Anrechnung der Untersuchungshaft) und zu fünf Jahren Ehrverlust verurteilt. Außerdem wurde für ihn die anschließende Polizeiaufsicht angeordnet. Als Beginn der Strafhaft wurde der 2. Oktober 1928 bestimmt, das geplante Strafende wurde auf den 14. September 1931 festgelegt. Am 3. Oktober 1928 wurde er von Düsseldorf in die Strafanstalt Lüttringhausen eingeliefert.
Am 6. Juni 1934 wurde der Düsseldorfer erneut zu einer Zuchthausstrafe verurteilt, die er ab dem 14. November 1934 im Zuchthaus Herford verbüßen musste, das kurze Zeit vorher von einem Zellengefängnis in ein Zuchthaus umgewandelt worden war. Nachdem das Erbgesundheitsgericht Bielefeld am 7. März 1935 die „Unfruchtbarmachung” für Wilhelm R. angeordnet hatte, wurde er am 17. Mai 1935 vom Zuchthaus Herford aus in das Bezirkskrankenhaus des Gefängnisses Düsseldorf-Derendorf eingeliefert. Dort wurde die Zwangssterilisation acht Tage später durchgeführt; am 6. Juni 1935 wurde R. wieder nach Herford überstellt. 14 Tage später wurde er von dort per Einzeltransport erneut in das Düsseldorfer Bezirkskrankenhaus eingeliefert und am 7. November 1935 von dort wieder zum Zuchthaus Herford überführt.
Wann er in die Anstalt in Werl verlegt wurde, die ab dem 1. Januar 1937 ausschließlich für den Vollzug der Sicherungsverwahrung aus den Oberlandesgerichtsbezirken Hamm, Düsseldorf, Celle, Oldenburg und Braunschweig bestimmt war, ist bis jetzt nicht bekannt. Von der Sicherungsanstalt Werl aus wurde er am 8. Juli 1937 zunächst erneut in das Düsseldorfer Bezirkskrankenhaus und am 16. Oktober 1937 von dort in die Städtischen Krankenanstalten in Düsseldorf eingeliefert. Am 25. Oktober 1937 wurde er in das Bezirkskrankenhaus zurückverlegt und von dort am 13. Juni 1938 erneut nach Werl überstellt.
Später war er im Zuchthaus Schwäbisch Hall inhaftiert, von wo aus er am 25. November 1943 zwecks Sicherungsverwahrung in das berüchtigte KZ Mauthausen eingewiesen wurde, das in Häftlingskreisen „Mordhausen” genannt wurde. In Mauthausen wurde ihm die Häftlingsnummer 40041 zugeteilt. Ab 12. April 1944 wurde er als Capo in der Häftlingsküche von „Zement”, das war einer der Tarnnamen für die KZ-Anlagen in der österreichischen Ortschaft Ebensee, eingesetzt. Kurz vor Kriegsende wurde er von dort in das KZ-Außenlager Wels II, das vom 24. März bis zum 13. April 1945 bestand, überführt. Als dieses aufgelöst wurde, wurden die Häftlinge in einem Todesmarsch in das KZ-Außenlager Ebensee getrieben. Wilhelm R., der die KZ-Haft in Mauthausen und auch diesen Todesmarsch überlebte, starb am 22. Dezember 1947 in Düsseldorf.
Armin Breidenbach
Quellen und Literatur
- Fleermann, Bastian: Ulmer Höh’. Das Gefängnis Düsseldorf-Derendorf im Nationalsozialismus, Düsseldorf 2021
- KZ-Gedenkstätte Mauthausen: Datenbankauszug zu Wilhelm R. (Stand: 26.8.2024)
- Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland, Duisburg: Gerichte Rep. 0331 Nr. 6: Gefangenenkarteikarte
- Piechatzek, Jana: Die Auswirkungen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses an der Universitäts-Frauenklinik Kiel in der Zeit von 1932 bis 1940, Diss. Universität Kiel, online einsehbar hier…
- Stadtarchiv Düsseldorf: Schriftliche Auskunft vom 24.3.2025
- Tüchler, Vera: Der Strafvollzug in der NS-Zeit unter besonderer Berücksichtigung der Justizanstalt Garsten, Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Magistra der Rechtswissenschaften im Diplomstudium Rechtswissenschaften, Institut für Kanonistik, Europäische Rechtsgeschichte und Religionsrecht, Universität Linz 2019, online einsehbar hier…
- Zellentrakt Herford | Mauthausen Guide
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- Zeitungen im „Dritten Reich“ über Prozesse gegen Antifaschisten – Folge 5
- Über Ort und Dauer der Inhaftierung keine Informationen – Folge 6
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