Rozette Kats überlebte die nationalsozialistische Zeit als Pflegekind in einer nichtjüdischen Familie. Ihre Eltern und ihr Bruder wurden in Auschwitz ermordet. Lange kannte die heutige 83-jährige agile Frau ihre Biografie gar nicht. Erst spät habe sie ihre Identität finden können. Jetzt erzählt sie ihre Geschichte vor jungen Leuten im Jugendvollzug.

Die stellvertretende Anstaltsleiterin, Martina Schuchert, überreicht Rozette Kats einen Blumenstrauß.

Fotos der Kindheit von Rozette Kats und ihrer leiblichen Familie.

Den gelben Davidstern sehen manche der jugendlichen Inhaftierten zum ersten Mal.
Inhaftierte Jugendliche und junge Erwachsene sitzen in der Anstaltskirche der Justizvollzugsanstalt Herford und hören der Frau zu, die einiges zu erzählen hat. Rita van der Weg hieß sie ursprünglich. Ihre Eltern haben sie als Baby in eine nicht jüdische Familie gegeben. Als es im Geschichtsunterricht um den Zweiten Weltkrieg ging, flüchtete sie auf die Toilette. Bei diesem Thema bekam sie immer massive Bauchschmerzen. Drei Jahre vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist sie in Amsterdam geboren. In ihrer Kindheit- und Jugendzeit weicht sie unbewusst und konsequent allem aus, was mit Krieg zu tun hat.
Es wird nicht darüber gesprochen
„An die ersten Jahre als King kann man sich nicht unbedingt an alles erinnern“, sagt sie klar. Ihr Leben sei geprägt durch die Suche nach der eigenen Identität. Dass man am Jüdischsein sterben konnte, das wusste sie seit ihrem sechsten Geburtstag. An diesem Tag, den 27. Mai 1948, sollte sie das erste Mal in die Grundschule gehen. Ihr Pflegevater hat ihr an diesem Tag gesagt, dass er nicht ihr Vater und seine Frau nicht ihre leibliche Mutter ist. „Du hast einen anderen Namen: Rozette Kats und Du bist jüdisch.“ Als Kats acht Monate alt war, ist sie ins Dorf zu diesen Menschen gebracht worden. Ab ihrem Schulbeginn wird nicht weiter darüber gesprochen. Ihr Pflegevater hat auch später niemals mehr ihren richtigen Namen ausgesprochen. Ihren „Rettern“ spielt Rozette das fröhliche, angepasste Kind vor, doch es plagten sie Ängste und mit zunehmendem Alter Fragen über das Leben und Sterben ihrer Eltern. „Ich hatte einen Eimer im Bauch, den habe ich mit all den Dingen gefüllt, die ich nicht verstand“. Der Eimer sei immer voller geworden, bis sie die Last nicht mehr habe tragen können und sie schließlich zusammenbrach.
Inhaftierte kennen Pflegefamilie
Manche der Inhaftierte kennen das nur zu gut: die Verdrängung. Einige sind ebenfalls in Pflegefamilien aufgewachsen. Manche kennen ihre leiblichen Eltern gar nicht oder haben keinen Kontakt zu ihnen. Die Gefangenen hören gespannt zu und nachdenkliche Gesichter schauen die Frau an, die ihren gefälschten Pass und den gelben Judenstern in Klarsichtfolien mit dabei hat. „Kann ich das einmal näher anschauen?“, fragt einer der muslimisch geprägten jungen Männer. Die Zeit, von der Kats berichtet, kennen die Jugendlichen nicht. Und doch verbinden sie sich mit den Erzählungen mit Blick auf ihre eigene Geschichte. „Wie kann man denn einen Pass fälschen und damit durchkommen?“, so fragen sich bestimmt einige der über 20 Gefangenen aus der Strafhaft der JVA Herford und die 5 Jugendlichen aus dem offenen Vollzug der JVA Hövelhof.
Ritas „Guckloch“ in ihre Persönlichkeit war ihr Onkel, Erwin Eliasar, der Bruder ihrer leiblichen Mutter. Er lebte in Vaals an der deutschen Grenze, wenige Kilometer vor Aachen, und war mit einer nichtjüdischen Frau verheiratet. Was Rita nicht wusste: Auf einer Odyssee quer durch die Niederlande hatten ihre Eltern, Emanuel Louis Kats und Henderina Eliasar, dort versucht, ein Versteck für sich und ihren Säugling zu finden. Doch als den Nachbarn auffiel, dass Windeln im Garten trockneten, mussten sie weiterziehen. Die Windel als ein Baumwolltuch hat Kats mit dabei. Ihre „echten“ Eltern, so erfuhr sie später als Erwachsene, waren ins Durchgangslager Westerbork gebracht worden und hatten noch einen kleinen Sohn bekommen, Robert. Gemeinsam mit ihm wurden sie nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Nach dem Krieg entschied ein Richter, dass Rita van der Weg bei ihren Pflegeeltern bleiben soll. Der Onkel, der in Vaals einen Laden betrieb, wurde ihr Vormund. Jedes Jahr verbrachte sie in den Ferien zwei Wochen bei ihm.
Langsam die eigene Identität entdeckt
Mit etwa 14 Jahren fragt sie ihren Onkel nach ihrem Ursprung und ihren leiblichen Eltern. Doch sie bekommt keine Antwort. „Er hatte dann plötzlich etwas anderes zu erledigen“, erzählt Kats und lächelt. In den Jahren gibt es immer wieder versuche, etwas herauszufinden. Um zu studieren fehlte den einfachen Pflegeeltern das Geld. So arbeitet sie in einer Werbeagentur und machte eine Ausbildung zur Sekretärin. Dass ihre Pflegemutter ihr zum 18. Geburtstag zwei goldene Ringe ihrer leiblichen Eltern und die zerbeulte Uhr der Mutter schenkte, verunsicherte Rita noch mehr. „Was soll ich mit dieser kaputten Uhr“, sagt sie laut. Rita ließ einen der Ringe zu einem Davidstern schmelzen und die Uhr reparieren. Den kleinen Davidstern zeigt die Rednerin den Inhaftierten. Sie trägt ihn bis heute an einer Kette um den Hals. Mit Anfang 40 besuchte sie den inzwischen schwerkranken Onkel. Dieses Mal überreichte er ihr ein Hochzeitsfoto ihrer Eltern. Mehr nicht. Sie begab sich in psychotherapeutische Begleitung, um sich selbst auf die Spur zu kommen. 1992 nahm sie in Amsterdam an einer Konferenz „untergetauchter Kinder“ aus der nationalsozialistischer Zeit teil. Das war ihr Anlass auf- und einzutauchen in ihre Geschichte. Aus Rita konnte langsam wieder Rozette werden.
„Meine wahre Identität musste ich mir erst aneignen. Ich bin zwar Jüdin, aber nicht religiös“, führt Kats aus. Über die Großtante ihres ehemaligen Mannes, die im niederländischen Widerstand aktiv gewesen war, knüpfte Rozette Kats Kontakte nach Deutschland und begann, als Zeitzeugin in Schulen aufzutreten. Am Ende der über zweistündigen Veranstaltung sagt ein Gefangener, „dass sich die Pflegeeltern selbst in Gefahr brachten, als sie dort als Baby aufgenommen wurden.“ Kats schildert wie schwer es war Lebensmittel zu besorgen oder ihre Stoffwindeln zu trocknen. Ihre Identität musste Rozette Kats im Laufe ihres Lebens neu suchen und für sich integrieren. Für die jungen Menschen mit ihren strafrechtlichen Geschichten dürfte dies ebenfalls eine Lebensaufgabe sein.
Michael King
Hintergrund
Die Gruppe der Inhaftierten wurde im Vorfeld im Rahmen eines Workshops von Zweitzeugen e.V. auf die Veranstaltung mit Rozette Kats vorbereitet. Mitbegründerin Katharina Müller-Spirawski führte im Rahmen einer Tagesveranstaltung die Gefangenen in die Thematik anhand der Lebensgeschichte von der verstorbenen Erna De Vries ein. Nachbereitend werden in der JVA Herford Workshoptage unter der Leitung der Künstler Raphaela Kula und Fritz Bornemeyer sowie dem erziehungswissenschaftlichen Dienst stattfinden. Hier erhalten die Inhaftierten die Möglichkeit sich weitergehend mit der Thematik auseinanderzusetzen. Gefördert wurde die Abendveranstaltung von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ).