Das Zuchthaus Herford und seine Häftlinge 1934-1939 (Folge 30).
Informationen über das politische und gesellschaftliche Leben außerhalb der Strafanstaltsmauern zu erhalten, war in den Gefängnissen und Zuchthäusern des „3. Reiches” äußerst schwierig, auch wenn zum Beispiel die Möglichkeit bestand, von neu eingelieferten Häftlingen – unter Einhaltung aller Vorsichtsmaßnahmen (Spitzelgefahr!) – Informationen über die politische Situation draußen zu bekommen.
Selbst Zeitungsreste, die als Verpackungsmaterial oder Klopapier genutzt wurden, konnten eine Informationsquelle darstellen. Auch Kassiber, die in der Strafanstalt verbotenerweise unter den Häftlingen zirkulierten, konnten interessante Informationen liefern. In einigen Fällen ist überliefert, dass es Häftlingen gelungen war, über illegal beschaffte oder selbst gebastelte kleine Radiogeräte ausländische Nachrichtensender abzuhören und die erhaltenen Informationen an vertrauenswürdige Mitgefangene weiterzugeben.

Die Gefangenenzeitung 1936 mit dem Namen „Leuchtturm“, die der Indoktrination der Gefangenen diente. Quelle: Staatsbibliothek zu Berlin. Als pdf-Dokument…
„Der Leuchtturm“
Diese Beispiele zeigen jedoch eindrücklich, dass die Informationsbeschaffung für die Inhaftierten von Gefängnissen und Zuchthäusern nicht nur schwierig, sondern auch für die Beteiligten äußerst riskant war. Eine offiziell zugelassene Informationsquelle stellten hingegen die Gefangenenzeitungen dar, die es in Deutschland seit etwa 1900 gibt. Die Gefangenenzeitung „Der Leuchtturm”, 1925 in einer Auflage von 20.000 Exemplaren erstmals erschienen, war damals eine von mehreren verschiedenen Gefangenenzeitungen in Deutschland gewesen, bevor sie ab Mai 1935 zur einzigen zugelassenen Gefangenenzeitung im Deutschen Reich wurde. Die Auflage betrug Anfang 1935 20.000 und stieg im Laufe der Jahre auf 41.000 Exemplare pro Ausgabe (April 1939). Ab 1931 erschien „Der Leuchtturm” wöchentlich und zwar sonntags. Sein Umfang schwankte ebenso wie der Preis (10, 15 oder 20 Pfennig im Monat). „Die schnelle und weite Verbreitung des Leuchtturms in vielen Anstalten des Reiches und sogar darüber hinaus erklärt sich vor allem daraus, daß die Zeitung keine Konkurrenz hatte und ihre Verbreitung von der Vollzugsverwaltung gefördert wurde.” Es konnten zwar schon einige Häftlinge des Zuchthauses Herford ermittelt werden, die Leser des „Leuchtturms” waren, aber noch keine, die ihr Urteil zu dieser Gefangenenzeitung abgegeben haben. Aus diesem Grunde soll ersatzweise auf Einschätzungen von drei politischen Häftlingen des Zuchthauses Remscheid-Lüttringhausen zurückgegriffen werden.
Nazistische Presse
So berichtete etwa der politische Häftling Hans Müller: „Die einzige Zeitung, die wir zu lesen bekamen, war die Gefangenen-Wochenzeitung ‚Der Leuchtturm’, eine typische Mißgeburt nazistischer Presse. Wir nahmen uns soviel Zeit wie möglich, um diese ‚Nachrichten’ kritisch zu analysieren und kritisch einzuordnen.” Und der politische Gefangene Rudi Goguel in einem Brief vom 13. September 1936 an seine Lebensgefährtin: „[…] für uns ist die Lektüre des ‚Leuchtturm’ jedes Mal zu vergleichen mit dem Auflösen komplizierter Rätsel. Aus dem Wust sich widersprechender, einander aufhebender und lakonisch kurzer Meldungen, die an die Zeiten von 1917 erinnern, ist kaum noch ein Zurechtfinden […]” Und Dr. Joseph Cornelius Rossaint, der als Hauptangeklagter in einem vielbeachteten Schauprozess gegen katholische Jugendführer aus Düsseldorf am 28. April 1937 vom 2. Senat des Volksgerichtshof in Berlin „wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens unter erschwerenden Umständen” zu einer Zuchthausstrafe von elf Jahren und zu zehn Jahren Ehrverlust verurteilt worden war und diese Strafe vom 26. Mai 1937 bis zum 19. April 1945 im Zuchthaus Remscheid-Lüttringhausen verbüßen musste, berichtete nach 1945:
„Die Nachrichten, die wir trotz aller gegenteiligen Vorkehrungen erhielten (Gefangenenzeitung ‚Der Leuchtturm’, Mundpropaganda, zum Teil besorgte Radionachrichten, von Wachtmeistern erhaschte Zeitungsfetzen), wurden von uns in unserer Abgeschiedenheit, wo jede Ablenkung fehlte, in ihrer Bedeutung klarer aufgenommen. […]”
Franz Götschenberg
Verschiedene Quellen, die erst vor kurzem im Archiv der Justizvollzugsanstalt Herford entdeckt wurden, belegen, dass „Der Leuchtturm” auch von Häftlingen des Zuchthauses Herford gekauft und gelesen wurde; zu den „Leuchtturm”-Lesern zählten beispielsweise Willi Kleinschmidt (siehe Folge 29 der Serie „Das Zuchthaus Herford und seine Häftlinge 1934 – 1939”), Mathias Witte und Franz Götschenberg. Bei Götschenberg dürfte es sich um einen der wenigen kriminellen Häftlinge des Zuchthauses Herford handeln, über den seit einigen Jahren eine biographische Skizze vorliegt. Franz Götschenberg, von Beruf Maler, war am 14. März 1895 „als zehntes Kind der Eheleute Karl und Antonie Götschenberg in Düsseldorf zur Welt gekommen. Sechs seiner Geschwister waren im Säuglingsalter gestorben. Als Götschenberg 19 Jahre alt war, verstarb sein Vater. Ein Jahr später, im Juni 1915 – der junge Mann wohnte zwischenzeitlich in Köln -, wurde er zum ersten Mal wegen Zuhälterei festgenommen […]. Im Alter von 27 Jahren hatte er eine zehn Jahre ältere Frau geheiratet, die Ende der 1920er Jahre starb.” Da Götschenberg mehrfach mit den Gesetzen in Konflikt geraten war, war es „nicht verwunderlich, dass seine zweite Ehe im April 1933 vom Standesbeamten des Zuchthauses Remscheid-Lüttringhausen geschlossen wurde: Götschenberg hatte wieder einmal eine Strafe abzusitzen, und die Hochzeit mit der 1904 geborenen Agnes Schleip durfte nicht außerhalb des Zuchthauses stattfinden.”
Zu einem bisher unbekannten Zeitpunkt wurde Götschenberg in das Zuchthaus Herford eingeliefert. Nach Unterlagen im Archiv der heutigen JVA Herford war er dort im Jahre 1935 inhaftiert, aus der er vermutlich am 16. Februar 1937 entlassen wurde, um danach mit seiner Ehefrau wieder nach Düsseldorf zu ziehen. Nachdem Heinrich Himmler in einem Schnellbrief vom 23. Februar 1937 befohlen hatte, „an einem Tag ungefähr 2 000 ‚nicht in Arbeit befindliche[..] Berufs- und Gewohnheitsverbrecher’ im ganzen Reich zu verhaften und in Konzentrationslager zu bringen”, wurde auch Franz Götschenberg einige Zeit später festgenommen; am 9. März 1937 wurde er als „Berufsverbrecher” verhaftet und bereits am nächsten Tag zum KZ Sachsenburg (in Sachsen) überführt. Als dieses am 20. Juli 1937 aufgelöst wurde, wurde er in das entstehende KZ Buchenwald überstellt, wo er zusammen mit anderen Häftlingen an dessen Aufbau mitarbeiten musste. Götschenberg, der dort die Häftlingsnummer 171 erhielt und im Häftlings-Block 8 untergebracht war, starb bereits am 14. Dezember 1937 im Krankenrevier dieses Konzentrationslagers. Wie viele ehemalige Häftlinge des Zuchthauses Herford das „Dritte Reich” nicht überlebten, ist bis jetzt nicht bekannt.
Armin Breidenbach
Quellen und Literatur
Arolsen Archives, Online-Archiv: verschiedene Dokumente
Breidenbach, Armin: Antifaschistischer Widerstand im Zuchthaus Remscheid-Lüttringhausen 1933 – 1945/Der Massenmord in der Wenzelnbergschlucht am 13. April 1945, Hrsg.: Die Grünen, Kreisverband Remscheid, Selbstverlag Armin Breidenbach, Remscheid 1992
Eberhardt, Martin: Die Kriminalpolizei 1933 – 1939. Magisterarbeit, Universität Konstanz, Philosophische Fakultät, Konstanz 1999, S. 78, online einsehbar unter https://d-nb.info/1095110276/34
Bastian Fleermann (Hg.): Die Kommissare. Kriminalpolizei in Düsseldorf und im rheinisch-westfälischen Industriegebiet (1920-1950), Düsseldorf 2018
Goguel, Rudi: Es war ein langer Weg. Ein Bericht, hrsg. von der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, Düsseldorf 2007
Joerger, Gernot: Die deutsche Gefängnispresse in Vergangenheit und Gegenwart, Stuttgart 1971
Landesarchiv NRW, Abteilung Ostwestfalen-Lippe, Detmold: Schriftliche Auskunft vom 23.9.2025
Müller, Hans: „Führung gut – politisch unzuverlässig”. Lebensstationen eines Nazigegners aus O., hrsg. von Annemarie Stern, Oberhausen 1994
Neuschwander, Isabelle: Nach vier Jahren Haft im Zuchthaus Lüttringhausen zurück in die Freiheit. Ein Zeitzeugenbericht des französischen Widerstandskämpfers Louis Delabruyère, in: Armin Breidenbach und Jörg Becker (Hrsg.): Remscheid ’45, Remscheid 2020, S. 130 – 146
Remscheider General-Anzeiger vom 28. April 1937, S. 5, online einsehbar unter https://zeitpunkt.nrw/ulbbn/periodical/zoom/14501356
Rossaint, J. C.: Christlich und sozialistisch, in: Das Jahr 1945. Wege in die Freiheit: Erlebnisse und Ereignisse. Mit Dokumenten und einer Chronik 1945, hrsg. von Peter Altmann, Heinz Brüdigam und Max Oppenheimer, Frankfurt/M. 1980, S. 114 – 121
Artikelserie
1. Stolpersteine erinnern an ehem. Häftlinge des Zuchthauses
2. Über das Zuchthaus Herford ist bisher nur wenig bekannt
3. Widerstand gegen das NS-Regime führte zu hohen Zuchthausstrafen
4. Einlieferung von Häftlingen in das Zuchthaus Herford
5. Zeitungen im „Dritten Reich“ über Prozesse gegen Antifaschisten
6. Über Ort und Dauer der Inhaftierung keine Informationen
7. Der Direktor des Zuchthauses Herford: Dr. Josef Wüllner
8. Kommunistische Häftlinge im Zuchthaus Herford
9. Solinger Kommunisten als Strafgefangene im Zuchthaus Herford
10. Sozialdemokratische Häftlinge im Zuchthaus Herford
11. Sozialdemokrat Fritz Steinhoff im Zuchthaus Herford
12. Jüdische Widerstandskämpfer im Zuchthaus Herford (Teil I)
13. Jüdische Widerstandskämpfer im Zuchthaus Herford (Teil II)
14. Jüdische Widerstandskämpfer im Zuchthaus Herford (Teil III)
15. Jüdische Häftlinge im ehemaligen Zuchthaus Herford
16. Vor 80 Jahren: Ehem. Häftlinge im KZ Sachsenhausen erschossen
17. „Gewöhnliche“ kriminelle Häftlinge im Zuchthaus Herford
18. Ausländische und staatenlose Häftlinge im Zuchthaus Herford
19. Online-Archiv erleichtert die Suche nach Häftlingen
20. Häftlinge des Zuchthauses Herford im KZ Auschwitz ermordet
21. Homosexuell liebende Menschen als Häftlinge im Zuchthaus
22. Zur Zwangssterilisation nach Düsseldorf verlegt (Teil I)
23. Zur Zwangssterilisation nach Düsseldorf verlegt (Teil II)
24. Vom Gerichtsgefängnis Hamm ins Zuchthaus Herford
25. Katholische Arbeiter leisten Widerstand im NS-Regime (Teil I)
26. Katholische Arbeiter leisten Widerstand im NS-Regime (Teil II)
27. Katholische Arbeiter leisten Widerstand im NS-Regime (Teil III)
28. Alte Bücher geben Hinweise auf die Häftlingsgesellschaft
29. Einkaufsmöglichkeiten im ehemaligen Zuchthaus Herford
30. Im Zuchthaus Herford wurde „Der Leuchtturm“ gelesen
31. Folgt demnächst





