Der Gottesdienst ist eine zentrale Aufgabe in der Gefängnisseelsorge. Er ist gleichzeitig aber ein Fremdkörper in einer totalen Institution und muss es wohl auch sein. Gefängnisseelsorgerlnnen sind mit vielen Fragen konfrontiert: Wie kann Gottes Wort in dieser ganz eigenen Welt hinter Mauern und Gittern zur Sprache kommen? Wie kann spürbar werden, dass die Zusage seiner Gegenwart letztlich über allen Systemen und Institutionen, über Gesetz und Sicherheit steht, dass Göttlichkeit Liebe und Freiheit ist?

„Lieber in den Gottesdienst als auf der Zelle hocken“, sagen manche Bedienstete, wenn Gefangene in den Gottesdienst gehen wollen. Kann Gottesdienst in der Justizvollzugsanstalt die unterschiedlichen Motivationen und Befindlichkeiten von Gefangenen integrieren? Was braucht er an Profil, an Klarheit und Stil? Wie kann er Freiräume eröffnen zum Aufatmen, zum Schweigen, zum Klagen, zum Bitten und Danken, zur Solidarität? Wie können Gefangene aktiv miteinbezogen werden? Wie kann Gottesdienst mit Bekenntnisfreien, mit Menschen anderer Kultur und Religion gelingen?

Außensicht eines Bediensteten

Als Beamter des Allgemeinen Vollzugsdienstes (AVD) verrichte ich regelmäßig Wochenenddienste. Das Wochenende ist für den lnhaftierten außer vom „Umschluss“ und der „Freistunde“ vornehmlich von Langeweile, Fernsehen und dem „Rumhängen“ geprägt. Samstags, sonntags und an besonderen Feiertagen gibt es den Gottesdienst, der von vielen inhaftierten gerne wahrgenommen wird. Meiner Einschätzung nach bietet der Gottesdienst eine Oase der Ruhe, Besinnung und Reflektion. Und er soll Zuversicht geben für die Zukunft.

Ruhe

Mit Ruhe meine ich nicht das Alleinsein auf dem Haftraum. Der Gottesdienst verbreitet eine besondere Aura. Hier wird jedem auf persönliche Art und Weise gezeigt, das die höchste, letzte Instanz uns allen vergibt und dass wir vor Gott letztendlich alle gleich sind. Gleich, ob mit blauer Uniform oder dem Einheitsbeige des Pullovers der Inhaftierten. Diese Erkenntnis kann innere Ruhe und Gelassenheit bewirken.

Besinnung

Weg vom Fernseher und weg von Oberflächlichkeit. Es ist doch sehr einfach heutzutage: Berieselung durch die Allgegenwärtigkeit der Medien. Fernsehen rund um die Uhr, DVD`s, Hochglanzmagazine und vieles mehr. Dabei verdrängt man gerne das eigene Drama, die eigene Vergänglichkeit. Man beschäftigt sich nicht mehr mit seinen Nächsten und sich selbst, man driftet schnell ab in die Traumwelten, die uns von den Medien vorgegaukelt werden. Besinnung findet man in den eindringlichen Worten der Bibel. Im Gottesdienst fehlt das Glamouröse, das Pompöse. Hier wird der Blick frei gemacht für das Wesentliche.

Nachdenken

Nachdenken über den bisherigen Weg und Zuversicht finden für die Zukunft. Gewiss bedeutet das Wort Zukunft für manchen Inhaftierten die hoffnungslose Erkenntnis, wohl möglich nie wieder auf freien Fuß zu kommen. Diese Perspektivlosigkeit nimmt in meinen Augen vielen  Betroffenen ein großes Stück Würde weg. Im Gottesdienst werden die Opfer von Straftaten thematisiert, alles andere wäre zu einseitig. Und ich bemerke, dass selbst der „schlimmste Straftäter“ ruhig wird und in sich geht. Dieses Verhalten deute ich als Reflektion, als Nachdenken über sich und die Umstände für den bisherigen Lebenswandel.

Kommunikation

Gewiss nutzen einige Inhaftierte die gottesdienstliche Feier als Forum für den Informationsaustausch, und ich glaube, keiner der Aufsichtspersonen und auch kein Geistlicher ist so naiv, dies zu verdrängen. Im Gegenteil: das weiß jeder, und Kommunikation ist meiner Ansicht nach doch ein fundamentaler Bestandteil des Miteinander. Natürlich kommt es vor, dass bei grober Störung des Gottesdienstes schon mal ein Inhaftierter des Raumes verwiesen wird. Auffällig dabei ist, dass eine solche Störung bei den anderen Inhaftierten auf wenig Verständnis stößt…

Udo Kasper | Justizvollzugsbeamter in der JVA Aachen

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