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Welche Häftlinge in den Weihnachtsgottesdienst kommen

24. Dezember 2023

Nicht nur die Gefängnisseelsorge empfindet Weihnachten als besondere Zeit. Menschsein und zwar unter besonderen Bedingungen, nämlich im Gefängnis, ist für Inhaftierte nicht einfach auszuhalten. Wie das gelingen kann, gerade zur Weihnachtszeit, erzählt Michael Diezun im Interview des Kölner domradio. Diezun ist evangelischer Gefängnisseelsorger in der Justizvollzugsanstalt Remscheid.

Wer in den kommenden Tagen in den Weihnachtsgottesdienst gehen wird, wird einen ganz bestimmten Satz hören?

Ja, „Gott ist Mensch geworden“. Das ist die zentrale Botschaft, die wir von allen „Kanzeln“ an Heiligabend verkündigen, auch im Gefängnis. Wenn ich jetzt die Gelegenheit hätte, direkt mit Gott zu reden, würde ich ihn fragen: „Mensch, Gott, warum tust du dir das an, Mensch zu werden?“. Es gibt Krieg in der Ukraine, Menschen werden gefoltert, liegen unter von Bomben zerstörten Häusern und sterben einsam. Das ist eine Form von Menschsein. Will Gott das wirklich? Muss er das erleben?

Ein Gefangener schmückt seine Haftraumtür. Für diese Aktion hätte dieser fast eine Schadensmeldung bekommen. Die Bediensteten drücken aber ein Auge zu.

Sie sprechen gerade über die große Welt. Ist im Gefängnis die Welt „im Kleinen“ wiedergegeben?

Ja, genau. Da sind mit einem Mal alle an einem Tisch und sitzen zusammen, zum Beispiel wenn Bibelkreis ist oder beim Gottesdienst. Wenn wir im Gefängis Gottesdienst feiern, dann mit allen gemeinsam: mit Russen bzw. Menschen, die sich als Russen verstehen, mit Ukrainern, mit Menschen aus dem Libanon, aus dem Gazastreifen, mit Juden aus Israel… So setzt sich diese Gemeinschaft zusammen. Die Frage ist dann: Wie halten wir das aus, so zusammen zu sein? Und was macht das mit der Botschaft „Gott ist Mensch“ geworden?

Wie gehen Sie damit um?

Man muss die Frage beantworten, weshalb Gott Mensch werden muss. Wir kennen das von unseren Kindern: Wenn die anfangen, sich von uns zu emanzipieren, dann sagen uns die Kinder: „Du verstehst mich nicht“. So ist es bei uns auch mit Gott: Wir stecken hier in diesem ganzen Schlamassel und er versteht das gar nicht. Wie soll Gott darauf reagieren?

Die einzige Chance ist, dass er Mensch wird. Dass er unser Leben, so wie wir es leben, kennenlernt und weiß, wie wir uns fühlen, wie wir versuchen, uns durchzuschlagen und versuchen, das Bessere zu tun, wenn uns das Gute nicht gelingt. Wenn Gott tatsächlich Mensch wird, so wie wir Mensch sind, dann hat das eine große Konsequenz: Die Ausrede, dass wir etwas nicht besser machen können, funktioniert nicht mehr. Denn wenn Gott jetzt Mensch geworden ist, dann weiß er nicht nur, was wir nicht können, sondern er weiß noch viel mehr, was wir können. Er weiß durch die Menschwerdung, was in uns steckt und dass wir die Kraft haben, tatsächlich das Gute zu tun.

Aber wie reagieren Ihre Inhaftierten  darauf? Ist der Wille da, in dem Fall Gottes Wunsch zu befolgen?

Der Wille ist da. Das glaube ich schon. Es kommt keiner in den Gottesdienst, der im Gefängnis schon plant, wie er draußen seine kriminelle Karriere weitermacht. Die, die da sind, wollen und würden gerne. Aber sie wissen auch nach all dem Scheitern und was sie bisher in ihrem Leben erfahren haben, dass es nicht leicht ist und sind deshalb pessimistisch und misstrauisch sich selbst gegenüber. Deshalb ist es so wichtig, ihnen zu sagen, dass wir nicht auf dieser Seite des Misstrauens bleiben. Sie sind diejenigen, die Gott gewählt hat, weil sie das Gute machen können, weil sie das Richtige tun.

Funktioniert das in den Weihnachtstagen besser oder schlechter?

Ein entschiedenes Ja und Nein. Erstens ist es leichter, weil die Stimmung wie draußen in der Stadt oder auf dem Dorf auch viel sensibler und empfindsamer ist. Deshalb ist es leichter, die Gefangenen darauf anzusprechen. Und gleichzeitig ist es viel schwerer. Jeder, der im Gottesdienst außerhalb seiner Zelle sitzt, weiß, dass wenn der Gottesdienst vorbei, der Segen gesprochen ist, dann geht es wieder zurück. Dann beginnt an Heiligabend der Einschluss bis zum nächsten Morgen und der Lebendkontrolle. Insofern ist es einerseits leichter. Genau wie draußen sind die Menschen empfänglich und möchten auch was Positives hören. Sie möchten gesagt bekommen: „Ich kann ein besseres Leben führen.“ Und gleichzeitig ist die Realität in dem Moment schon drastisch anders.

Das Interview führte Bernd Hamer | domradio.de

 

1 Rückmeldung

  1. 📚Bernd M. sagt:

    Lk 1, 26-38

    Die Deutsche Telekom erzählt in ihrem diesjährigen internationalen Weihnachtsfilm – ein Spot von einer Minute – die Geschichte eines Mannes, der beim Weihnachtsfest von den hartnäckigen Fragen seiner Familie malträtiert wird. Die Idee für den Film stammt aus der Slowakei. Ein junger Mann kommt zum Weihnachtsfest nach Hause zu seiner Familie. Statt Wiedersehensfreude prasseln Fragen auf ihn ein: „Wie steht`s um Deinen Masterabschluss? Bist Du endlich verliebt? Wir sehnen uns doch nach Enkelkindern…!“ Die Stimmung gerät ins Wanken – bis seine Großmutter ihn rettet. Sie stellt ihm die wohl relevanteste Frage: „Bist Du glücklich?“

    Wie Menschen gesehen oder angesprochen werden, macht etwas mit ihnen. Wenn mich jemand Zuhörer nennt, rückt die Eigenschaft des Hörens in den Vordergrund. Nennt mich jemand Kunde, ist meine Kaufkraft gefragt. Manchmal werden „Halter des Wagens“ gesucht. Ein junges Dokument aus dem Vatikan spricht von Menschen in „irregulären Beziehungen“. Es wird kategorisiert. Jeder Anrede liegt ein Bild zugrunde, was von uns erwartet wird oder wie wir gesehen werden. Anreden oder Kategorisierungen können verletzen, wenn sie nie den ganzen Menschen sehen.

    Anreden können Türen öffnen und Türen schließen. Ich kann mich angesprochen oder missbraucht fühlen. Ich kann denken: da meint ja jemand mich – und ich kann denken: da kennt dich jemand gar nicht, und es besteht in Wirklichkeit an dir kein Interesse, allenfalls an deiner Leistung, an einer Eigenschaft. Du bist nur wie eine Kuh, die Milch geben soll – andere wollen sich an dir nähren. Maria erschrickt bei der Anrede des Engels Gabriel. „Sei gegrüßt, du Begnadete“. Sie wird nicht unter einem bestimmten Blickwinkel gesehen, dass sie etwas leisten oder kaufen soll, sie wird nicht auf eine ihrer Eigenschaften angesprochen oder reduziert. Begnadet ist passiv, fällt dem Menschen zu – begnadet drückt Gottes Handeln aus. Diese Anrede ist der göttliche Blick auf Maria, auf Menschen, denen Gott etwas zutraut – und wem traut er nichts zu?

    Maria erschrickt. So werde ich gesehen? Wer weiß, ob nicht diese Anrede sie wachsen und erstarken ließ, ihr die Kraft gab, sich auf all das einzulassen, was da noch kam. Jedenfalls lässt diese Anrede Maria die Tür öffnen, sie macht nicht dicht, sondern schenkt den Worten des Engels Gehör und nimmt sie auf. Anreden bewirken etwas. Sie können zerstören oder aufbauen, Leben zur Entfaltung bringen oder verkümmern lassen. Wie sehen wir einander, welch einen Blickwinkel nehmen wir ein? Können Menschen sich öffnen in unserer Gegenwart wie Maria sich in der Gegenwart des Engels öffnen konnte oder verschließen sie sich?

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