Ob die Welt in den 1950er Jahren in Ordnung war? Sicher nicht. Noch viele Jahre nach Kriegsende, bis heute, sind alte und eingefahrene gesellschaftliche wie kirchliche Haltungen deutlich spürbar. Trotzdem wurde auch damals das Weihnachtsfest hinter den Mauern würdig gefeiert: Jedoch mit Rücken zur Gemeinde und einer Kanzel von oben herab predigend, bestenfalls eine andere Realität verkörpernd, die wohltuend gewesen sein mag. Zeitlose Rituale wie Kerzen-entzünden berühren damalige Inhaftierte, wie die von heute. Veränderungen im gottesdienstlichen Feiern sind wichtig und zeitgemäß.

Keiner ist vergessen. Der Gemeindeposaunenchor spielt im Jahr 1950 den Jugendgefangenen „im Spiegel“ der JVA Herford Weihnachtslieder.

Ein Bäckergeselle übergibt unter Aufsicht des Bediensteten dem Mitgefangenen einen Christstollen.

Zwei Häftlinge bereiten die Krippenfiguren für die Aufführung im Weihnachts-Gottesdienst vor.
Die beschriebenen Bilder aus der Zeit von 1950 sprechen leider immer noch Botschaften aus, die auch heute recht vertraut erscheinen. Man könnte fast meinen, sie wären heute aufgenommen worden. Selbst wenn die Trennung zwischen Inhaftierten und Klerikern im Kirchenraum damals noch sehr ausgeprägt war. Formen der Ökumene gab es nicht, alles war abgrenzend in evangelisch und katholisch ausgerichtet. Die geistliche „Züchtigung“ in der Zeit bestand darin, dass die „Frohe Botschaft“ den „bösen“ Menschen als Programm verkündet wurde. Das hat sich im Laufe der Geschichte „Gott-sei Dank“ gewandelt. Die Realität des Lebens fordert dazu auf, die Botschaft des Evangeliums immer wieder neu zu lesen und auf das eigene Leben hin zu reflektieren. Befreiend könnte und sollte die Botschaft sein. Es gibt nicht die eine Wahrheit und auch nicht den goldenen Königsweg. Es geht um den konkreten Menschen mit seiner Biografie und seinen göttlichen Spuren. Angesichts der aktuellen Gefahr des geistlichen Missbrauchs und schräger Weltanschauungen mit nationalsozialistischer Tendenzen, darf dieses Denken nicht wieder den Vorrang bekommen.
Weihnachtsgeschichte ist nicht so heilig
Im Jahr 2023 sind inhaftierte Jugendliche und junge Inhaftierte nicht kirchen-sozialisiert. Den Eltern oder Pflegeeltern ist die christliche Tradition nicht mehr bewusst. Dementsprechend kann man nicht voraussetzen, dass die Botschaft des Weihnachtsfestes und deren Riten und Lieder bekannt sind. Eher das Gegenteil ist der Fall. Sang man in den 50er Jahren noch inbrünstig Weihnachtslieder mit, ist dies heute weitgehend nicht möglich. Das bedeutet aber nicht, dass der Inhalt der Botschaft und die Umstände der Geburt Jesu Jahrtausende danach nicht Lebensinhalte heutiger Menschen sind. Da gäbe es Anknüpfungsmöglichkeiten. Wie beispielsweise wenn die „Heilige Familie“ gar nicht so heilig war, wie immer beschrieben. Und das Josef nicht der leibliche Vater, sondern der Pflegevater Jesu war. Auch die Herbergssuche bietet Beschreibungen, die den Inhaftierten vertraut sind: eine existentielle Suche nach einem sicheren Ort.
Sich in formalistischen Riten verstecken
Formalistische Antworten sind im Heute nicht angesagt, ebenso nicht eingefahrene liturgische Riten, die niemand nachvollziehen kann. „Wir haben doch einen großen gottesdienstlichen Schatz, der aus sich heraus wirkt“, sagt ein Kollege. Doch wem hilft das im Alltag, wenn die Menschen die Botschaft und den Sinn dahinter nicht mit ihrem Leben „updaten“ können, weil alles zu theologisch und kirchenpolitisch ausgedrückt wird. Bestenfalls würde alles zu einer faszinierenden Theater-Darstellung, von der man vielleicht insgeheim begeistert wäre. Doch mit dem eigenen Leben hätte dies nichts zu tun. Die Kirche ist längst nicht mehr ein großer Player für spirituelle Erfahrungen. Die macht man im Stadion beim Fußball oder bei „geilen“ Konzerten auf großer Bühne.
Im Kontext der Menschen
Am Fest Weih-Nachten könnte ein kleines Licht oder eine andere barmherzige Sicht auf die jeweilige Wirklichkeit einen hoffnungsfrohen und befreienden Inhalt auf das Leben schenken. „Das ganze Jahr sollte Weihnachten sein“, sagte ein Gefängnisseelsorger. Neugeburten gibt es minütlich weltweit. Jeder Tag ist ein Neuanfang und eine Chance gelebt und gemeistert zu werden. In jedem Moment kann ein Licht neu entzündet und eine neue Erkenntnis geboren werden. Ohne Abgrenzungen und ohne jemanden zu moralisieren, darf das LEBEN gefeiert werden. Damals wie heute gilt es, die Botschaft bodenständig zu vermitteln, ohne in alte Gepflogenheiten zu verfallen und womöglich eigene gemachte Erfahrungen auf andere zu übertragen. Kirche und Liturgie sind im Wandel und reformbedürftig auch in der heutigen Zeit. Das heißt nicht, Traditionen in Abrede zu stellen, sondern neu im jeweiligen Kontext der Menschen zu überdenken, um Befreiung im Alltäglichen zu ermöglichen.
Michael King | Fotos: Imago

Einer der drei Könige richtet seine gebastelte Krone an einem echten Spiegel der Sakristei zurecht.

Ein Häftling liegt in seinem Haftraum-Bett im Jahr 1950 zur Weihnachtszeit und liest einen Brief.

Ein Gefangener auf der Leiter schmückt den Weihnachtsbaum. Die Kirche war damals noch im Stil eines „Kinosaales“.

Zwei Inhaftierte tragen die Krippenfiguren der Heiligen drei Könige. Eine davon gibt es heute noch in der Anstaltskirche.