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„Ik ga naar huis“ – Vom Theologen zum Seelsorger

14. März 2024

„Ik ga naar huis“ – die letzten Worte von Petrus Ceelen, klar und deutlich ausgesprochen – und dann war das auch so. Er ist heim gegangen. Letzten Sonntag, morgens gegen 8 Uhr, durfte Petrus das erfahren, worauf er neugierig war, wie es ist zu sterben. Das kann er uns aber nicht mehr erzählen. Jedenfalls war ihm klar, wohin die Reise geht: nach Hause.

Angefangen hat alles am 11. Februar 1943 in Belgien, in Lommel. Der große Krieg sollte noch über zwei Jahre dauern. Da kam der kleine Petrus zur Welt. Eigentlich sollte er aber Paul heißen – Pol auf flämisch. Die Geschichte von der Namensverwechslung seines Vaters hat Petrus oft erzählt. Bei euch in Belgien, liebe Verwandte, ist er bis heute der Pol. Seht es uns nach, wenn wir ihn Petrus nennen. Bei den Familienurlauben in Spanien war er der Pedro. Und dann hieß er ja auch noch Henricus Mathieu. Außer den vielen Namen hatte der Junge auch viele Berufswünsche: Schriftsteller, Journalist, Schauspieler und Priester. Nichts davon ist er geworden, und doch von jedem etwas.

Anfangs keine einfache Sache

Seine Choupette hat er in Ostende kennengelernt. Da hat er in einem Hotel gekellnert und sollte einer jungen Dame die Koffer ins Zimmer hoch tragen. Da hat´s bei beiden gefunkt. Es gab aber Hindernisse: Sie war in einer Beziehung, er war Priesteramtskandidat. Bekanntlich kamen die beiden trotzdem zusammen und gingen nach Berlin. Jung und ohne Geld, in einem Zimmer von der Caritas, direkt an der Mauer. Auch die Möbel kamen von der Caritas. In der fremden Stadt, in der es damals heiß herging hatte Petrus Sorge um seine junge Choupette, die noch wenig deutsch konnte und schloss sie kurzerhand im Zimmer ein. Die ließ sich das natürlich nicht bieten. Irgendwie kam das Paar dann aber wohl miteinander klar. Nebenher studierte Petrus Erziehungswissenschaften. Theologie hatte er schon fertig studiert in Belgien, Maastricht und Mainz. Priester werden konnte er nun nicht mehr und den Beruf Pastoralreferent gab es damals noch nicht. Also verdiente Petrus den Lebensunterhalt als Religionslehrer, als Vertretungslehrer in Wedding und Kreuzberg. Keine einfache Sache in den sozialen Brennpunkten.

Petrus Ceelen stellt sein neues Buch in Murrhardt 2019 mit dem Titel: „Ja, aber nein doch – das Leben in Kurzfassung“ vor. Foto: Jörg Fiedler

„Laien“-Theologe als Pastoralreferent

Da erfuhr er, dass Pfarrer Walter Stöffelmaier in Schwieberdingen einen Laientheologen suchte. Das war im Jahr 1971. Das Paar zog nach Möglingen. Der Same zum Beruf des Pastoralreferenten war gelegt. Und wir können heute sagen, dass Petrus der erste Pastoralreferent in unserer Diözese war und damit ein Wegbereiter für unseren Beruf. Bald nach dem Wechsel ins Schwäbische kamen Anne und Katrin zur Welt und man war plötzlich eine Familie. Petrus entwickelte sich zum Familienmenschen. Es machte ihm unendlich Spaß, mit den Kindern zu spielen und rumzubalgen. Sonntags, nach dem Gottesdienst auf dem Hohenasperg ging´s oft zum Schwimmen oder zum Ponyreiten und danach gab´s zur Freude der Kinder Hähnchen mit Pommes zum Essen. Trotz seiner Arbeit, seinen Vorträgen, seinen Büchern, war es ihm wichtig, dass die Familie nicht zu kurz kam. Dazu gehörten auch die Urlaube in Spanien oder in Südtirol und natürlich auch in der belgischen Heimat am Meer. Den Kontakt zur Familie in Belgien hat er stets gepflegt. Auch später hat er die Ferien oft mit den Familien von Anne und Katrin in Belgien verbracht. Für die 3 Enkel war das immer ein Erlebnis, besonders, wenn sie mit dem Opa basteln oder zimmern durften, oder Fußballspielen und Petrus dabei den Sportreporter mimte.

Vom Theologen zum Seelsorger

Nach vier Jahren Gemeindeseelsorge in Schwieberdingen wurde Petrus Knastseelsorger auf dem Hohenasperg, die Familie zog nach Tamm. Als Gefängnisseelsorger auf dem Hohenasperg wurde Petrus vom Theologen zum Seelsorger. Ihm wurde bewusst, dass auch er selber hätte zum Täter werden können. Er hat einfach nur Glück im Leben gehabt. Bei der Lebensgeschichte von vielen Gefangenen hätte es ihn gewundert, wenn sie nicht straffällig geworden wären. Er blickte in dunkelste menschliche Abgründe und war doch dankbar für das Vertrauen, das die Gefangenen in ihn hatten. Sie vertrauten ihm Dinge an, die wegen der Schweigepflicht natürlich bei ihm bleiben mussten. Das war oft eine Last, an der er schwer zu tragen hatte. Manchmal musste die Familie es aushalten, wenn der Beruf des Gefängnisseelsorgers sich bis ins Familienleben auswirkte. Da stand doch tatsächlich einmal an Weihnachten ein Gefangener samt Gepäck vor der Haustür. Er war einfach auf die Straße entlassen worden. Natürlich war er Gast über Weihnachten. Petrus´ Mutter war darüber nicht sehr erfreut, weil ihr der Knacki im Haus schon etwas Furcht einflößte. Ein anderes Mal hat die kleine Tochter eines Gefangenen einige Zeit in der Familie Ceelen gelebt.

Hinter Gitter beten

Bei der Begegnung mit Gefangenen merkte Petrus bald, dass er sie mit der Kirchensprache nicht erreichen konnte. Erst recht nicht im Gottesdienst. Er musste also eine neue Sprache entwickeln. So entstand sein erstes Buch „Hinter Gittern beten“. In den Gebeten und Texten konnten die Gefangenen sich wiederfinden und fühlten sich verstanden. Gestern rief mich einer von damals zuhause an, weil er von Petrus Tod gehört hatte. Dieser Mann fühlt sich auch nach Jahrzehnten mit Petrus verbunden und sein Tod geht ihm zu Herzen. Dem ersten Buch folgten noch viele weitere. Von vielen Texten und Gedanken profitierten auch wir Kollegen, weil wir dadurch brauchbare Texte für die Gefängnisgottesdienste hatten. Vielen Gefangenen, die vorher schon mal auf dem Tränenberg waren, tat das gut, weil sie Petrus dort kennen gelernt hatten und schätzten. Petrus sagte immer, er habe einen Zug nach unten. Deshalb sei er auf dem Hohenasperg an der richtigen Stelle. Dann kam die Zeit von HIV und AIDS und er merkte, dass es Menschen gab, die noch weiter unten waren als krank und im Gefängnis. Petrus verhandelte mit den Verantwortlichen im Bischöflichen Ordinariat und konnte sie davon überzeugen, dass die Kirche auch bei diesen Kranken sein musste. So wurde er nach 16 Jahren Gefängnisseelsorge auf dem Hohenasperg zum ersten Aidsseelsorger Deutschlands. Das war 1992.

Erster Aids-Seelsorger

Er war in Stuttgart und weit darüber hinaus tätig. Mit vielen Ehrenamtlichen gründete er die „Brücke“, die ihn in der Seelsorge unterstützten, auch mit dem Einsammeln von Spenden. Dadurch wurden konkrete Hilfen möglich, auch Freizeiten mit Familien, die sich vorher noch nie einen Urlaub leisten konnten. Natürlich schrieb Petrus weiter jedes Jahr ein Buch und konnte dadurch das Tabuthema AIDS unter die Leute bringen. Er warb für Verständnis und Akzeptanz für die Infizierten. Die waren tatsächlich damals die Ausgestoßenen. Eltern ließen ihre Kinder nicht mehr in den Kindergarten gehen, wenn bekannt wurde, dass dort ein Kind von jemandem infizierten war. Oder Positive holten ihre AIDS-Medikamente in einer anderen Stadt, damit ihre Infektion an ihrem Wohnort ja nicht bekannt wurde. Es war eine schlimme Zeit damals.

Anfangs hatten Infizierte nicht mehr lange zu leben und Petrus hatte manchmal drei oder vir Beerdigungen in der Woche. Petrus nahm jede Gelegenheit wahr, um über AIDS aufzuklären. Er wurde nicht nur von Kirchengemeinden zu Lesungen eingeladen, sondern von vielen anderen Einrichtungen. So entstand auch der enge Kontakt mit dem Hospiz Maria Frieden in Oberharmersbach. Mit der Zeit war Petrus im ganzen Land und darüber hinaus bekannt. Durch seine segensreiche Arbeit hatte ich es leicht, in Schwäbisch Hall eine Seelsorgestelle für HIV/AIDS und Drogenabhängige von Rottenburg genehmigt zu bekommen. Ich wurde der zweite AIDS und Drogenseelsorger in unserer Diözese. Dann erkrankte seine Choupette an Leukämie und Petrus ging mit 63 in Rente um mehr für seine Frau da sein zu können. Sie verbrachten viel Zeit in Belgien am Meer, weil ihr das Klima dort gut tat.

Gewissenkonflikte mit seiner Kirche

Petrus hörte aber nicht auf zu schreiben. Er brauchte das. Weiterhin veröffentlichte er jedes Jahr ein Buch und machte Lesungen. Außerdem hielt er Beerdigungen. Selbst in der Zeit seiner Krebserkrankung waren es unglaublich viele. Auch das brauchte er. Mit seinen Büchern und den Beerdigungen machte er den Menschen Lebensmut. Er hatte die Gabe, dass sich die Menschen persönlich angesprochen und verstanden fühlten. Seine Sprache war direkt und schnörkellos. Er jonglierte direkt mit den Wörtern und stellte damit Beziehungen her, die einem vorher gar nicht aufgefallen sind. Viele hatten das Gefühl, dass sie selber gemeint sind. In den letzten Jahren sahen wir uns öfter. Wir machten lange Spaziergänge oder fuhren sogar Rad. Dabei sprachen wir oft über den Sinn des Lebens und über die Kirche. Die Kirche mit ihrer Verweigerungen sich zu verändern, machte ihm zunehmend zu schaffen. Er sah die Menschen, die darunter leiden oder sich ganz abwenden. Er stürzte in Gewissenskonflikte, weil er immer noch zu einer Kirche stand, für die Schwule und Lesben Sünder sind. Für ihn war es unvereinbar mit dem Glauben an Gott, der die Liebe ist.

Drei letzte Bücher

Als Theologen diskutierten wir hin und her und kamen immer wieder zum selben Ergebnis: der Sinn des Lebens und des Glaubens liegt in der Liebe. Und in diese Richtung müsste sich die Kirche verändern, um den Menschen heute weiterhin ein glaubwürdiger Zeuge dieses Jesus von Nazareth zu sein. Zur Liebe gehört aber auch das Leid. Wenn wir beides annehmen können, machen wir heilende Erfahrung und werden „mitfühlender, gütiger und menschlicher“, wie er einmal geschrieben hat. Nun, die letzten Jahre seines Lebens waren für Petrus sehr leidvoll. Erst starb vor drei Jahren seine Choupette, dann erkrankte er selber an Lungenkrebs. Metastasen im ganzen Körper und viele Schmerzen. Trotzdem gab er sich nicht auf. Mit bewundernswerter Kraft und Disziplin schrieb er weiter. Drei letzte Bücher wurden es noch und er machte weiterhin kleine Radtouren um Tamm herum. Und er machte Beerdigungen. Sein Lebenswillen blieb ungebrochen, obwohl er vor dem Tod keine Angst hatte, neugierig war er sogar auf das Sterben. Neugierig und aufgeschlossen blieb er für alles Neue im Leben. Wie freute ich mich, als er mir von seinen Schmetterlingen Bauch schrieb. Eine neue Liebe trotz Alter und Krankheit. Verantwortlich dafür war Marianne. Und die beiden lebten ihre Liebe und kümmerten sich nicht darum, ob die Leute um sie herum das gut oder schlecht fanden.

Neugierig auf das was kommt

Seinen 81. Geburtstag am 11. Februar feierte er mit vielen Freunden noch in Marbach, kegelte mit uns, aß mit uns und trank nachmittags mit uns Kaffee. Ein Tag voller Freude. Im Nachhinein war es sein Abschiedsfest. Das bleibt in unser aller guter Erinnerung. Dann am Sonntag die traurige Nachricht, dass Petrus heim gegangen ist. Obwohl wir damit rechnen mussten, gab es einen Stich ins Herz. Wie er gelebt hat, so ist Petrus auch gestorben: Neugierig auf das, was kommt, vollkommen klar und bewusst. Er ließ seine Familie nicht im Unklaren, dass er jetzt geht und wohin er geht: Ik gaa nar huis. Das ist tröstlich. Petrus ist nicht einfach im NICHTS verschwunden. Er ist heim gegangen. Er ist nicht weg, sondern daheim. Entsprechend ist unsere Verbindung zu ihm nicht einfach gekappt, sie verändert sich, sie wird neu. So wie Ihr auf dem Liedblatt einen Satz des Propheten Jesaja zitiert: „Denkt nicht mehr an das was früher war, auf das was vergangen ist, sollt ihr nicht achten. Seht her, nun mache ich etwas NEUES. Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es nicht.“ (Jes. 43,18-19) Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

Wolfram Kaier | Ansprache bei der Trauerfeier am Donnerstag, 14. März 2024 um 13 Uhr in der Evangelischen Michaelskirche in Asperg. Wolfram Kaier ist Pastoralreferent in Rente und ein Freund von Petrus.
Er war von 1985 bis 2000 Gefängnisseelsorger in der JVA Schwäbisch Hall. Von 2000 bis 2017 arbeitete er als Aids- und Drogenseelsorger in den Dekanaten Schwäbisch Hall und der Ostalb

 

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