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Gefangenenwallfahrt: Friedliche und zufriedene Atmosphäre…

31. August 2023

Der Parkplatz an der Pilgerstätte Werl in Nordrhein-Westfalen ist an dem Donnerstagmorgen nahezu leer. Rot weiße Leitkegel und Flatterband sperren ihn ab. Der Wallfahrtsort erwartet wie so oft Pilgergruppen, die zur „Trösterin der Betrübten“ wandern. Ungewöhnlich ist, dass die heute ankommenden Menschen mit einem Gefangenentransportwagen (GTW) aus dem offenen und geschlossenen Vollzug mit der Aufschrift „Justiz“ anreisen. Die 1. Gefangenenwallfahrt nach Werl aus der Region des Erzbistums Paderborn beginnt.

 

Nicht unterscheidbar wer Gefangene/r ist

Die ersten fahren mit dem blau-weißen Bully von der JVA Bielefeld-Senne an. Ältere Herren mit Rollator, ebenfalls aus einer JVA kommend, steigen freudig aus und schauen sich um. Langsam füllt sich der Platz. „Die JVA Hövelhof ist da“, ruft der Gefängnisseelsorger Mirko Wiedeking, der mit acht jugendlichen Inhaftierten sich dazugesellt. Als Gruppe stehen sie zusammen und zücken ihre Zigarette. Die 1. Gefangenenwallfahrt führt nahezu 90 Menschen aus den weiteren JVAen Attendorn, Bielefeld-Senne, Bielefeld-Brackwede, Castrop-Rauxel, Iserlohn, Schwerte und der JVA vor Ort, Werl, zusammen. „Die meisten kommen aus dem offenen Vollzug“, sagt Gefängnisseelsorger Michael King von der JVA Herford. „Doch es sind auch sechs Inhaftierte aus dem geschlossenen Vollzug in begleitender Ausführung hier“, fügt er hinzu. „Es ist äußerst schwer, eine Ausführung aus dem geschlossenen Vollzug genehmigt zu bekommen“, meint der Gefängnisseelsorger aus dem Jugendvollzug. Alle werden sie von Bediensteten des Allgemeinen Vollzugsdienstes (AVD) und MitarbeiterInnen der sozial-psychologischen Dienste begleitet. Von außen kann man nicht unterscheiden, wer inhaftiert ist und wer nicht. Die Bediensteten sind in ziviler Kleidung.

Christlich wie muslimisch geprägt

Ursula Altehenger vom Wallfahrtsteam in Werl greift zum Mikrofon und begrüßt. Die Wallfahrtsbasilika Mariä Heimsuchung, ein neuromanisches Gebäude, bildet zusammen mit der barocken Wallfahrtskirche von 1904 die Kulisse. Zu Fuß machen sich die pilgernden Menschen zur Kapelle auf dem Gänsvöhde auf. An der Ampel staut sich der Pilgerzug. Die Einheimischen haben sich an Menschenmassen in der Wallfahrtsstadt gewöhnt. An der Kapelle gibt es einen spirituellen Impuls. Wie viele Lebensgeschichten verbergen sich in dieser versammelten Gruppe? Einer der Gefangenen erzählt auf dem Weg, er wäre bereits 14 Jahre in verschiedenen Justizvollzugsanstalten inhaftiert. Da staunen die jungen Erwachsenen aus der JVA Castrop-Rauxel. Eine inhaftierte Frau aus der JVA Iserlohn sagt auf die Frage, warum sie sich für diese Veranstaltung angemeldet hat: „Ich bin christlich wie muslimisch geprägt. Nächste Woche werde ich entlassen und jetzt habe ich davor diese Ausführung bekommen“, sagt sie.

Zufriedene Atmosphäre?

Diese Veranstaltung ist eine Zusammenkunft verschiedener Menschen mit ihren Biografien und Geschichten. Am Klosterort zeigen sich die Menschen auf Augenhöhe: Beim Imbiss und Kaffee in der Pilgerstube wie im Begehen der ehemaligen Franziskanerkirche. Es wird still, als der bunte Mini-Rosenkranz in einem Körben durch die Reihen geht. Altehenger spielt die Musik aus dem Film „Ziemlich beste Freunde“ im Hintergrund ein. Zu jeder Farbe und jeder Perle gibt sie meditative Impulse. „In welcher Situation haben Sie sich so richtig gefreut? Wo wurden meine Lebenspläne durchkreuzt?“ Anschließend kann jeder und jede die Wallfahrtsbasilika erkunden. „Über allem liegt eine friedliche und zufriedene Atmosphäre“, so drückt es ein Gefangener aus der JVA Bielefeld-Senne aus. Der Wallfahrtsseelsorger winkt mit seinem Handy: „Hierher komme ich signalisiert, ob jemand das Beichtangebot mit dem Betätigen der Klingel als anonyme Beichte oder im Gesprächsraum annehmen möchte“, wirbt er. Ob das jemand von den Inhaftierten zu schätzen weiß? Noch leuchtet die grüne Lampe dort. Nach der Gulaschsuppe zum Mittagessen, feiert die so gegensätzliche und scheinbar doch verbundene Pilgergruppe den Gottesdienst.

Es treffen Welten aufeinander

Wie es am Marienwallfahrtsort Werl üblich ist, wird der Gottesdienst in Form der Eucharistie gefeiert. Sorgevoll fragt eine evangelische Gefängnisseelsorgerin, ob sie bei der Kommunion nicht ausgeschlossen werden könne. Dem ist nicht so. Im Gegenteil: Im Gottesdienst entzünden alle Anwesenden Kerzen in andächtiger Form. Einer meint nur leise in der Kirchenbank, ob die Kerzen nach dem Weggang der Gefangenen schnell wieder gelöscht werden. Und ob er „auch so ein Plättchen bekommen könne“. Es treffen Welten aufeinander bei dieser 1. Gefangenenwallfahrt. Sowohl spirituell als auch von den unterschiedlichen Lebensgeschichten der Menschen hergesehen. Letztlich verabschieden sich alle Beteiligten nach Kaffee und Kuchen schon fast herzlich. Und: Alle Gefangenen kommen wieder vollzählig und pünktlich an ihren Justizvollzugsanstalten an.

Konstruktiv-kritisches Fazit

„Gibt es etwas, das ich an Jesus ganz wichtig finde, das in meinem Leben Platz hat?“, diese Frage verhallt. Der größte Teil der teilnehmenden Gefangenen hat, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keinen christlich-kirchlichen Hintergrund. Jesus ist ein abstraktes Wort für einen Menschen, den die meisten der Gefangenen wie auch der Bediensteten nicht kennen. Die Tradition der Kirche(n) ist ihnen fremd, ebenso deren Sprache und Riten. Der Rosenkranz hat höchstens noch einen Symbolcharakter, als dass er gebetet wird. Maria wird nicht als Trösterin wahrgenommen. Dies jedenfalls trifft auf einen Großteil der Menschen draußen wie „drinnen“ zu. Nach dem Lebens-Mut der Teilnehmenden zu fragen sowie nach deren persönlichen Lebensabbrüchen, kann ohne den Dialog mit den Teilnehmenden keine Resonanz finden. Bestimmt gibt es bei einigen eine Art Faszination des Althergebrachten. Das Entzünden der Kerzen ist Hinweis auf eine andere mögliche Lebens-Liturgie. So gesehen könnte die Feier des Gottesdienstes für die Realität dieser „Gefangenenwallfahrt“ Hoffnung vermitteln…

Michael King

Siehe: Entgegen Aussagen anderer „kein Assi…“


Was ist eine „Wallfahrt“?

Das Wort „Wallfahrt“ stammt vom Wort „wallen“ ab und bedeutet in eine bestimmte Richtung zu ziehen oder unterwegs zu sein. Durch das lateinische Wort „Peregrinatio religiosa“ meint es einen Besuch einer Pilgerstätte mit dem Zurücklegen eines Pilgerwegs. Hier steht das Ziel einer Wallfahrt im Vordergrund, weniger der Weg. Es sind Orte, von denen eine Kraft ausgeht oder an dem jemand besonders verehrt wird.

Pilgern

Das Pilgern auf dem Jakobsweg ist daneben wieder modern geworden. Menschen fühlen sich an besonderen Orten und Stätten nahe: in Israel/Palästina, an Gräbern von Aposteln in Rom, bei Franziskus in Assisi, an Marienwallfahrtsorten wie Lourdes, Loreto, Fatima, Altötting, Kevelaer, Mariazell in Österreich, Telgte oder eben auch Werl. Für gläubige Muslime gehört die Wallfahrt nach Mekka zu den fünf Säulen des Islam.

3 Rückmeldungen

  1. Maren Dean sagt:

    Die erste Oldtimer-Wallfahrt des Marienwallfahrtortes Werl war am Wochenende. Wallfahrtsseelsorger Stephan Mockenhaupt erklärt, was die oft begehrten Segensplaketten ausmachen und welche außergewöhnlichen Wallfahrten Werl noch so zu bieten hat. „Wir rechnen damit, dass sich viele OldtimerfreundInnen mit ihren historischen Mobilen auf den Weg nach Werl machen, um dort damit dann auch die Altstadt zu fluten“, sagt Mockenhaupt.

    Alles wird gesegnet, nur…?
    Alles und jenes: Tiere, Motorräder und jetzt noch Oldtimer können bei einer „Wallfahrt“ gesegnet werden. Was ist mit Menschen, die gleichgeschlechtlich lieben, was mit Geschiedenen und Wiederverheiraten, Priestern, die sich für ihre Partnerschaft engagieren oder Menschen, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch äußern? Das Leben ist oft nicht so klar, wie es im Katechismus steht. Hauptsache systemerhaltend arbeiten. Die Riten und die festgezurrte katholische Liturgie mit „Beichtgelegenheit“ werden hoch gehalten. Derweil müssten die Verantwortlichen dieser Kirche selbst beichten. Für einen neuen Glanz soll das Wallfahrtsteam sorgen, um die Katholische Kirche mit angeblich menschennahen Ideen neu zu gewinnen. Ob das gelingt? Ich mag das bezweifeln…

    Konservieren wie ein Oldtimer
    Alle Versuche täuschen nicht darüber hinweg, dass eine gefühlte große Anzahl zölibats-lebender Kleriker mit dem Skandal des sexuellen Missbrauchs und deren Vertuschung nach und nach vom Sockel fallen. Die Kirchenaustritte können auch eine Oldtimer-Wallfahrt nicht aufhalten. Konservieren wie ein Oldtimer, das ist genau das Bild für die gegenwärtige Lage der Katholischen Kirche.

  2. Andreas Brands sagt:

    Schön, als Franziskaner der Tagungsstätte Georgsmarienhütte bei Osnabrück von Werl zu hören und zu lesen. Die Gefängnisseelsorge-Zeitung „AndersOrt“ bekomme ich regelmäßig. Ich finde a) den Text der Gefangenenwallfahrt sehr gelungen, wertschätzend, theologisch, präzise und b) diese Aktion der Wallfahrt von besonderer Art, zumal ja viele keinen christlichen Background haben und dennoch mit der Symbolik etwas anfangen können. Tolle Idee. Gelungen. Und der Schreibstil gefällt mir sehr.

  3. Leo Baumann sagt:

    Man muss sich fragen, welche Art Begeisterung das bei solch einer (Gefangenen) Wallfahrt ist. Das ist genauso, wenn Menschen, die mit Kirche nichts zu tun haben, nach ihrer Romreise vom Papst schwärmen! Sie haben wenig reflektiert, so wie manche pastorale MitarbeiterInnen aus beruflichen Gründen. Glaube und Kirche interessiert die besagten Menschen nicht im wirklichen Leben! Ohne dieses Gepäck, das pastorale Leute kennen, lässt es sich gut begeistert sein… Es ist allerdings oberflächlich und einer Abwechslung des Alltags sowie etwas, das man mal aus der Ferne toll finden kann geschuldet! Ein für sie exotisches Event? Die Beobachtungen im Artikel gehen eine Stufe tiefer. Die Leserschaft wird das verstehen oder auch nicht…

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