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Gefangenenwallfahrt: Entgegen Aussagen anderer „kein Assi…“

10. September 2023

Unter den vielen Premieren, die derzeit im Wallfahrtsort Werl angeboten werden, wie beispielsweise die Oldtimer-Wallfahrt oder die Großeltern-Enkel Wallfahrt, dürfte dies eine besondere gewesen sein: Erstmals pilgerten Inhaftierte aus Justizvollzugsanstalten auf dem Gebiet des Erzbistums zum Gnadenbild nach Werl, zur „Trösterin der Betrübten“ also. Seit Jahrhunderten steht die Madonna in Werl und grüßt die Menschen, die zu ihr kommen und Trost suchen.

Heute sind es ungefähr 80 – überwiegend Männer: Inhaftierte aus dem offenen, einige aus dem geschlossenen Vollzug, die von Justizbediensteten begleitet werden, dazu die GefängnisseelsorgerInnen aus dem Erzbistum Paderborn. Wer wer ist, kann man nicht unbedingt erkennen – und die Inhaftierten sollen auch unerkannt bleiben. Fotografiert werden dürfen sie nur von hinten, alle Namen in diesem Text sind geändert, außer die der Seelsorgenden. Dass die Wallfahrt überhaupt stattfinden konnte, erforderte Aktion auf höchster Ebene. Diözesanadministrator Michael Bredeck bat in einem Brief an das NRW-Justizministerium um diese Möglichkeit, von dort gab es einen Erlass, mit dem die Haftanstalten um Unterstützung gebeten wurden. Die örtlichen Gefängnisseelsorgenden luden per Plakat oder persönlicher Ansprache ein.

Inhaftierte aus den verschiedenen Haftanstalten in der Werler Wallfahrtsbasilika.

Hardcore-Katholisch

Und da tauchte dann gewissermaßen ein sprachliches Problem auf. „Ich wusste ehrlich gesagt nicht, wie ich im Jugendvollzug Wallfahren erklären sollte“, sagt Michael King, Seelsorger im Jugendvollzug in Herford. Seine Leute seien sehr weit weg von Kirche. Früher hätte man vermutlich gesagt, man müsse in solchen Fällen „niedrigschwellig“ vorgehen. Aber hier in Werl ist gar nichts niedrigschwellig, im Gegenteil, es wird ziemlich hardcore-katholisch inklusive Beichtangebot und Rosenkranzmeditation. „Habt Vertrauen – Ich bin es!“ ist in die Apsis der Wallfahrtsbasilika projeziert. Es ist das Leitmotiv dieses Wallfahrtsjahres. Vertrauen, das müssen viele, die heute hier sind, wieder neu lernen – auch Vertrauenswürdigkeit. Ein Gefängnisaufenthalt ist kein Urlaub und die, mit denen man redet, sind spürbar erschrocken oder fassungslos über den eigenen Weg. Sie sind mitgefahren, klar, weil das mal eine Abwechslung vom Haftalltag ist, aber spätestens bei der Rosenkranzmeditation von Ursula Altehenger hat wohl auch den Coolsten von allen die Botschaft erreicht, um die es geht: „Jeder von Ihnen ist willkommen“, sagt Altehenger, „wir unterscheiden heute nicht zwischen Gefangenen und Bediensteten.“

Stille keine Selbstverständlichkeit

Wann, so fragt man sich im Stillen, wann haben die Leute hier das mal gehört, dass sie willkommen sind? Und wann haben sie überhaupt mal in einem so großen Raum gesessen, in dem der Blick nicht nach drei Metern durch ein Gitter gebremst wird? „Hier spüren sie, es gibt noch mehr“, erzählt Mirko Wiedeking, Seelsorger in Hövelhof, wo Jugendliche einsitzen. Wenn er predige, rede dauernd einer dazwischen, erzählt er, das sei auch in Ordnung. In Werl ist es still, als Altehenger die Farben des bunten Fingerrosenkranzes erläutert, den sie alle geschenkt bekommen haben. Diese Stille sei keine Selbstverständlichkeit, sagt Wiedeking. Und einer habe ihm schon gesagt: „Boah, die Kirche ist echt schön!“ Auch das Beichtangebot wird angenommen.

Draußen im Garten erzählt ein junger Strafgefangener, Sebastian (zur Erinnerung: Er heißt anders), dass er schon ein paar Sorgen mitgebracht habe, die er loswerden wolle. Aber er wisse noch nicht so genau, wie er das machen soll. „Ich will auf jeden Fall beichten gehen“, sagt er, als Jan sich dazusetzt: „Ey, mach das!“, sagt der. Jan sieht ein bisschen so aus, wie abgehängte Jugendliche in diesen SOKO-Serien aussehen: schwarze Hose, schwarzes T-Shirt, Goldkette. Vorhin stand er vorm Beichtstuhl, als er reinging, wirkte es wie eine Mutprobe. Jetzt sitzt er da und erzählt. Ja, war unangenehm, aber auch befreiend, sich mal alles von der Seele zu reden. Und – wenn man das mal fragen darf: Was hat der Priester Ihnen gesagt? „Dass ich kein Assi bin.“ Das nämlich sagen die anderen, wenn er erzählt, dass er jemanden geschlagen habe.

Siehe: Friedliche und zufriedene Atmosphäre.

Gute Seelsorge erlebt

Was denkt die Gesellschaft über mich? Eine Frage, die auch Clemens aus Attendorn umtreibt. Er ist ein erwachsener Häftling, seit knapp einem Jahr im offenen Vollzug. Das heißt: Er verbringt nur noch die Nächte im Gefängnis, tagsüber und am Wochenende kann er raus – zu seiner Familie. Clemens ist verheiratet, hat Kinder und Enkelkinder. Denen hat er verboten, ihn im Gefängnis zu besuchen. Den Vater so zu erleben, das wollte er ihnen nicht zumuten. Er geht regelmäßig zum Gottesdienst, und – weil nicht katholisch – er hat noch nie eine Wallfahrt mitgemacht. Im Gottesdienst, sagt er, schöpfe er Kraft für die ganze Woche. Als er noch im geschlossenen Vollzug war, gab es einen Todesfall in der Familie. Da habe der Seelsorger ihn gut begleitet. Er sei auch vorher schon regelmäßig zum Gottesdienst gegangen. So etwas sagen manche, mit denen man spricht. Dass sie gläubig sind, dass sie katholisch geprägt sind oder sich bei Kirche auskennen. Na ja, fragt man sich für eine Sekunde, warum sie dann im Gefängnis gelandet sind. Eine Frage, die einem eigentlich nicht zusteht, die aber manche von ihnen hier umtreibt. Für die sie Trost brauchen – und hier bekommen.

Claudia Auffenberg | Der Dom Nr. 36, Fotos: Andreas Wiedenhaus

 

1 Rückmeldung

  1. Jetzt bin ich schon wieder drei Jahre lang d.D. in der Gefängnisseelsorge und mache meine Berufung in der Pfarrseelsorge. Ich möchte danken, dass ich immer noch die Infos erhalte. So manches Mal sehne ich mich zurück in die Zeit als Gefängnisseelsorger zunächst bei den Jugendlichen in Regis-Breitingen, dann bei den Frauen in Chemnitz. HaftLeben, deren Gefängniszeitschrift erhalte ich immer noch. So manchen Artikel hatte ich seither auch darin verfasst. Ich wünsche Dir und dem Team der GefängnisseelsorgerInnen weiterhin Gottes Segen.

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