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Falsche Gnade? Dokumentation wird Wendeprozess nicht gerecht

23. Oktober 2023

Wenn sich der langjährige Gefängnisseelsorger Johannes Drews mit dem Thema Wendezeit befasst, dann werden viele Erinnerungen in ihm geweckt. Es war eine herausfordernde Zeit für ihn in seinen Anfängen in der Gefängnisseelsorge der Wendezeit. „Viel Neues, bis dahin Unbekanntes, völlig unvorbereitet, kam auf mich zu. Dieser Situation musste und durfte ich mich stellen“, erzählt Drews. Die Dokumentation mit dem Titel „Falsche Gnade? Justizversagen in der Wendenzeit“, attestiert ein Versagen, „was dem schwierigen Prozess insgesamt nicht gerecht wird“, kritisiert Drews. Es war ein Recht der damaligen Gefangenen, dass die überzogenen und politisch gefärbten Urteile korrigiert werden.

Die Journalisten der Dokumentation von 2019 kamen auf mich zu und baten um ein Interview. Im Vorgespräch äußerte ich große Bedenken: man könne nicht sagen, dass in der Wendezeit Schwerverbrecher einfach so freigelassen wurden. Das Versprechen der Journalisten objektiv zu berichten und das Vertrauen in die Reihe zdf-History, eine Reihe des öffentlich-rechtlichen Senders, trugen dazu bei, dass ich mich trotz Bedenken auf ein Interview eingelassen habe. Es dauerte etwa vier Stunden in guter Atmosphäre. Im Ergebnis trat ein, was ich befürchtet hatte. Die Aussagen des Profilers und Kriminalkommissars Stephan Harbort und die drastischen Fallbeispiele ließen meine Aussagen zur Notwendigkeit der Korrektur der Urteile und zu der Menschenwürde auch eines Straftäters erscheinen wie die eines Träumers, der völlig realitätsfremd sei. Für den Gedanken oder den Hinweis, dass viele der Entlassenen trotz widriger Bedingungen es geschafft haben ein straffreies Leben zu führen, war kein Platz. Ich war über die Geschichtsverzerrung durch Weglassen zornig und schrieb eine ausführliche Beschwerde. Es gab keine Reaktion seitens der Redakteure.

YouTube Die Dokumentation „Falsche Gnade? Justizversagen in der Wendenzeit“ von Saskia Weisheit und Verena Rendel für ZDFinfo.

Versagen wird schwierigem Prozess nicht gerecht

Durch einen Hinweis fand ich die neue Version der im Jahr 2019 ausgestrahlten Dokumentation, die nun in ZDFinfo gezeigt wurde. Diese ist ergänzt worden aus verschiedenen anderen Berichten und in einen geschichtlichen Rahmen gestellt worden. Aspekte wie die notwendige Korrektur der Urteile, die in der DDR gesprochen wurden, der politische Einfluss der Partei in der Rechtsprechung, die schwierige Situation der Angleichung bzw. Neuformulierung von vielen Gesetzen unter enormen Zeitdruck u.Ä. fanden jetzt einen Platz. Dennoch bleibt meine Kritik, der Titel: „Falsche Gnade? Justizversagen in der Wendenzeit“, attestiert ein Versagen, was dem schwierigen Prozess insgesamt nicht gerecht wird, selbst wenn im Einzelnen Fehler gemacht wurden. Bei aller beglückenden Euphorie war die „friedliche Revolution“ eine gewaltige Herausforderung für die Politik auch für den Umgang mit der Rechtsprechung in der DDR und mit den davon betroffenen Menschen.

Urteile politisch eingefärbt

Die DDR verstand sich selbst als „Diktatur des Proletariats“; zum „Klassenkampf“ wurde aufgerufen und ein „Feindbild“ propagiert. Der einzelne Mensch, die Person, wurde dem Programm der Partei untergeordnet; „die Partei hat immer recht“. Der Wert und die Würde des Menschen wurde danach bemessen in wie weit er den Zielen der Partei diente. Andersdenkende wurden benachteiligt. „Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit“ wurde in einem Programm Mitte der 60-ziger Jahre angeordnet, um in der Bildung des Klassenbewusstseins Fortschritte zu machen. Für den Strafvollzug bedeutete dies: jeder Straftäter ist ein Staatsfeind, weil er dem Aufbau des Sozialismus schadete. In der DDR wurden harte Urteile gesprochen. Ein überhöhtes Strafmaß war üblich. Selbst für kleinere Delikte wurde oft eine Freiheitsstrafe verhängt. Arbeitsbummelei, asoziales Verhalten, Boykotthetze u.Ä. waren Straftatbestände. Die Rechtsvertretung im Gerichtsverfahren war mangelhaft. Ein Rechtsanwalt wurde zugeordnet. Teilweise waren diese Mitarbeiter der Stasi. Geständnisse wurden erpresst. Alle Urteile waren politisch gefärbt. Der Aufbau der Strafvollzugseinrichtung orientierte sich an dem der Sowjetunion. Die Haftbedingungen waren menschenfeindlich: Unterbringung, harte Arbeit, mangelhafter eng überwachter Kontakt zu den Verwandten, außer der Zeitung „Neues Deutschland“ keine Presse, kein Radio – der Strafgefangene war quasi rechtlos. In der StVE (Strafvollzugseinrichtung) gab es eine eigene Abteilung der Stasi, die selbstständig arbeitete; auf die nicht einmal der Leiter der Anstalt Einfluss hatte.

In der Wendezeit beschloss die Regierung der DDR drei Amnestien

  1. Amnestie am 27. Oktober 1989 für versuchte Republikflucht. Staatsanwalt Plath veröffentlicht Zahlen: ca. 2000 Strafgefangene, 1000 Untersuchungshaft-Gefangene entlassen und 32.000 Ermittlungsverfahren eingestellt. Diese hohen Zahlen überraschen selbst mich.
  2. Amnestie am 6. Dezember 1989 viele Delikte sind ausgeschlossen: ca. 15.000 werden entlassen.
  3. Amnestie am 28. September 1990: Teilweiser Straferlass (für die in Brandenburg Einsitzenden brachte das nichts). Beschluss zur Überprüfung der Urteile durch eine Kommission.

Strafgefangene mit Vorgeschichten

Rückblickend muss ich sagen, dass es nach meiner Einschätzung in der DDR verhältnismäßig viele und schwere Straftaten gab. Darüber wurde die Öffentlichkeit nicht informiert, weil dies in einem sozialistischen Staat ja nicht so sein darf. Gründe für die vielen Straftaten sehe ich in der beschriebenen politischen Situation. Die Freiheit des Einzelnen wurde eingeschränkt und eine eigenverantwortliche Entscheidung weder gefördert noch gewollt. Für viele gab es eine Spaltung zwischen dem was man öffentlich sagte und dem was man dachte (Entfremdung). Familien waren oft mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert. Schwerer Alkoholismus und Gewalttaten waren verbreitet. „Schwierige“ Kinder wurden den Eltern entzogen und in Kinderheimen untergebracht. Bei weiteren Auffälligkeiten kamen die Heranwachsenden in Jugendwerkhöfe. Misshandlungen, militärischer Drill, Schläge, Entmündigung führten oft zu schweren Persönlichkeitsstörungen. Viele Strafgefangene hatten eine solche Vorgeschichte. Sie sagten: „diese Zeit machte mein Gesicht hart wie Kiesel“, In Gesprächen entdeckte ich ihren versteckten „guten Kern“.


Meine Kritik

Peter-Michael Diestel (* 1952 in Prora) war im Kabinett von Lothar de Maizière der letzte Minister des Innern der DDR (1990). Als solcher vertrat er die DDR bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag. Er kritisierte den DDR-Strafvollzug, aber die Justiz war in der DDR dem Innenministerium unterstellt. Damit trug er zumindest Mitverantwortung für die dort herrschenden Zustände. Als zuständiger Minister besuchte er nie eine Strafvollzugseinrichtung. Im StVG der DDR war freie Religionsausübung festgelegt. In der katholischen Kirche wurden die Pfarrer der Gemeinden, in denen sich die Einrichtung befand, mit der Seelsorge auch dort beauftragt. Ähnlich war es in der Regel auch in der evangelischen Kirche. In der Praxis sah dies so aus, dass die Pfarrer nur in die Anstalt gingen, wenn sie gerufen wurden. Das war sehr selten. Die Pfarrer wurden wie Besucher behandelt. Gespräche wurden mitgehört. In einigen wenigen Strafvollzugseinrichtungen waren regelmäßig Gottesdienste erlaubt.

Nach neun monatiger Überprüfung durch die Stasi wurde ich im Dezember 1988 als Gefängnisseelsorger für die StVE Brandenburg zugelassen. Dass dies trotz meiner Biographie und kritischen Einstellung zum Staat geschah, lag wohl in der Annahme, dass man mich für erpressbar hielt. Der evangelische Pfarrer E. Giebler, selbst Offizier der Stasi, was damals noch nicht offiziell bekannt war, sollte mich „führen“. Später wird er mir bescheinigen: „Pfarrer Drews ist unbelehrbar“. Gottesdienste durfte ich unter strengen nicht akzeptablen Auflagen und Überwachung durch Polizisten alle vier Wochen halten. Zu den Gefangenen durfte ich keinen Kontakt aufnehmen. Welche Gefangenen zum Gottesdienst zugeführt wurden und welchen es verboten wurde, darüber hatte ich keine Informationen. Diese mir gesetzten Grenzen habe ich immer mehr durchbrochen; Begrüßung mit Handschlag; Friedensgruß; Anrede mit Vornamen und am Schluss des Gottesdienstes einige Informationen von dem was draußen geschah, Montagsdemonstrationen usw. Die Gefangenen berichteten offen von dem was hinter den Gittern geschah: Unruhe, Arbeitsniederlegungen, Hungerstreik.

Sehr viele Gefangene bleiben in den Gefängnissen auch wegen der Verschärfung des politischen Strafrechtes in den 70 iger Jahren. Sabotage, staatsfeindliche Hetze u.Ä. wurden in das Strafgesetzbuch aufgenommen. Andersdenkende wurden kriminalisiert. Auch die Urteile der jetzt noch Einsitzenden waren von der administrativen Einflussnahme der Parteiführung geprägt. Das Aufbegehren in den Gefängnissen bezeichnet Distel als „Revolte“, andere sprechen von „Meuterei“. Dem widerspreche ich mit aller Schärfe: es war ein Hilfeschrei. Die verbliebenen Gefangenen wollten in diesen Zeiten der Veränderung nicht vergessen werden. Im Einigungsvertrag war festgeschrieben, dass die alten DDR-Urteile als rechtskräftige Urteile übernommen werden.

Menschenunwürdige Unterbringung

Entscheidende Veränderungen brachte der 5. Dezember 1989. Auf Druck der Gefangenen wurde eine Pressekonferenz zugelassen. Zum ersten Mal wurde öffentlich was hinter den Mauern geschah. Der Leiter der Abteilung Strafvollzug Generalmajor Lustik, der Leiter der Anstalt Oberleutnant Udo Jahn und andere Offiziere stellten sich den kritischen Fragen der vielen Journalisten aller Medien. Nach einer Mittagspause gab es Führungen durch die Anstalt. Auch ich konnte zum ersten Mal durch die Hafthäuser gehen, die menschenunwürdige Unterbringung in den Zellen und die maroden Arbeitsstätten sehen. Gegen 16 Uhr trugen die Sprecher der Gefangenen ihre Forderungen vor und stellten sich den Fragen der Journalisten im Kinosaal, der ehemaligen Kirche. Es waren etwa 100 Gefangenen anwesend. Ein Thema war auch die Seelsorge. Ab diesem Zeitpunkt durfte ich Einzelgespräche im Sondersprechraum durchführen und Gruppengespräche anbieten. Der Leiter der Anstalt Udo Jahn wurde mein Ansprechpartner. Damals waren in der StVE Brandenburg noch ca. 2400 Gefangene untergebracht davon etwa 240 mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe.

Dachbesetzung – eine spannende Zeit

Am Abend des 19. September 1990, wenige Tage vor der Wiedervereinigung, gelang es vier Gefangenen auf das hohe Dach des Verwaltungsgebäudes zu steigen. Sie forderten eine modifizierte Amnestie (teilweisen Straferlass) und die Überprüfung der Urteile. Wie wird die Anstaltsleitung reagieren: den Protest gewaltsam beenden? Im nahegelegenen Wald wurden mehrere Hundertschaften der schwer bewaffneten Bereitschaftspolizei positioniert. Aber die Anstaltsleitung war bemüht jede Eskalation zu vermeiden. Zwischen Anstaltsleitung und Dachbesetzern sollte ich vermitteln. Sicherheitsseile wurden den Gefangenen gebracht, um ein versehentliches Abrutschen zu vermeiden; auch Decken und Verpflegung. Die Dachbesetzer schickten die Botschaft in die Hafthäuser: „Bleibt ruhig! Wir protestieren für euch alle!“ Der Anstaltsleiter schickte ein Schreiben an die Volkskammer, in dem er sich mit den Forderungen der Gefangenen solidarisierte.

Die Presseerklärung der Volkskammer Präsidentin Bergmann-Pohl war sehr drastisch: „Das Präsidium der Volkskammer stellt mit Empörung fest, dass die Volkskammer von Vertretern des Justizministeriums, des Innenministeriums und der Staatsanwaltschaft unzureichend und zum Teil falsch informiert worden ist.“ Wenn der Gesetzgeber in eine dreiköpfige Kommission zu einer juristischen Überprüfung einen Seelsorger beruft, dann erhofft er sich davon, dass dadurch die Unabhängigkeit gestärkt wird und auch das Maß der Barmherzigkeit mit einfließt. So sehe ich das. Der Vorsitzende Richter (ad.) legte eine Geschäftsordnung fest, nach der ich den Gefangenen, über den zu entscheiden war, vor der Beratung nicht sprechen durfte um mir ein persönliches Bild zu machen. Allein auf die Einschätzung des Richters hin sollte ich ein altes DDR-Urteil unterschreiben mit bzw. ohne eine Empfehlung zur Veränderung.

Ich schrieb an das Justizministerium und bat um eine Veränderung der Geschäftsordnung. Mein Vorschlag war, dass ich vor der Beratung in der Kommission die Namen bekomme, über die wir sprechen wollten. Ich wollte diese Gefangenen aufsuchen und mit ihnen sprechen. Dies wurde abgelehnt. Aus Gewissensgründen habe ich die weitere Arbeit in der Kommission abgelehnt. Mein Nachfolger wurde ein evangelischer Gemeindepfarrer, den Pfarrer Giebler, ein ehemaliger Mitarbeiter der Stasi, angeworben hatte. In der StVE Brandenburg gab es eine eigene Abteilung der Stasi, auf die der Leiter der Einrichtung keinen Einfluss hatte; also gleichsam zwei Leitungsebenen. Im Herbst 1989 fuhren täglich Kleinbusse beladen mit Akten von dieser Abteilung in die Heizungsanlage der JVA. Dort wurden die Akten verbrannt. So berichtete es auf Anfrage der Leiter der Anstalt Udo Jahn auf der Pressekonferenz.

Mein Fazit

Falsche Gnade? Diese These wird begründet mit der ausführlichen Darstellung von schwersten Straftaten und den Menschen, die sie begangen haben. Nicht beachtet wird, dass es zu jeder Zeit in jedem gesellschaftlichen System grausame Straftaten gegeben hat und gibt; heute Amoklauf, Terrorismus, Beziehungstaten… Nicht beachtet wird die Tatsache, dass der überwiegende Teil der Täter zu einem straffreien Leben gefunden haben, selbst solche, denen wir es nur wenig zugetraut hätten. „Gnade“ ist nach meinem Verständnis ein freies unverdientes Geschenk. Es war aber ein Recht der Gefangenen, dass die harten, überzogenen und politisch gefärbten Urteile korrigiert werden.

Justizversagen: Unter den damaligen gesellschaftlichen Bedingungen, Zeit der Veränderung in fast allen Bereichen, ist das bestmögliche gelungen in dem Bemühen um Rechtsstaatlichkeit, selbst wenn dabei Fehler in die eine und die andere Richtung unterlaufen sind. Von Leichtfertigkeit kann keine Rede sein. Dem Justizversagen widerspreche ich und damit auch der zugrundeliegenden Aussage dieser Dokumentation.

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Johannes Drews | Fotos: Imago, Werner Schulze


Literatur

  • Doku: Hinter Gittern – Versuch der Annäherung an das Leben hinter Gittern; von Gunter Scholz 1990 – noch vor der Widervereinigung (abrufbar auf YouTube). Beachtenswert: Herr Scholz geht unvoreingenommen, nicht wertend und respektvoll auf die Gefangenen, die schwere Straftaten begangen haben zu; die Gefangenen formulieren sehr authentisch ihre Sicht auf ihre Person und Straftat; der Leiter der Anstalt U. Jahn äußert sich sehr kritisch zur Rechtsprechung in der DDR
  • Doku: Den Gefangenen die Freiheit zu verkünden – von A. Beckmann/R. Kusch. 1991 für RBB – wertvoller Beitrag zur Geschichte der Gefängnisseelsorge in der DDR – besonders auch der Wendezeit; Grundstein auch für nachfolgendes Buch
  • Andreas Beckmann/Regina Kusch, Gott in Bautzen, Gefängnisseelsorge in der DDR, Chr. Links Verlag Berlin 1994

  • Doku: Ich möchte mal wieder schwimmen gehen – von A. Beckmann/R. Kusch 1994. Interessantes Interview mit drei Gefangenen, die zu einer langen Haftstrafe verurteilt wurden.
  • Tobias Wunschik, Honeckers Zuchthaus – Brandenburg-Görden und der politische Strafvollzug der DDR 1946 – 1989, Göttingen 2017
  • Martin Fischer (Uni Erfurt, neuzeitliche Kirchengeschichte) in Vorbereitung, fast fertig, ein umfangreiches Buch zur Gefängnisseelsorge in der DDR. Die Herausgabe verzögert sich wegen Krankheit…
  • In den Jahren 1989 -1991 habe ich häufig Berichte zur Situation in der StVE Brandenburg an den Bischof geschickt. Diese befinden sich im Archiv der Deutschen Bischofskonferenz in Erfurt.

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