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Situation Strafgefangener in der ehemaligen DDR 1990

3. Oktober 2023

“Nordost, ehemalige DDR” – unter dieser Bezeichnung fassten 1990 GefängnisseelsorgerInnen aus den neuen Ländern zunächst vorläufig die Anliegen und die Arbeit der Gefängnisseelsorge auf dem ehemaligen DDR-Gebiet zusammen. Pfarrer Johannes Drews, katholischer Seelsorger in der Strafvollzugseinrichtung (StvE) Brandenburg, war der erste Sprecher dieser Region. Zur Situation und zu den Erwartungen der Strafgefangenen und des Strafvollzugs Brandenburgs, trug Drews dem Präsidium der Volkskammer am 24.9.1990 seine Sicht der Situation in den Strafvollzugseinrichtungen der ehemaligen DDR vor.

Die Lage in den Strafvollzugsanstalten der DDR ist sehr ernst. Es geht hier um das Leben von Menschen. ln Brandenburg waren heute am 24.9.1990 um 14.30 Uhr 20 Strafgefangene auf den Dächern. Es können jeden Augenblick mehr sein. 98 Strafgefangene sind im Hungerstreik. Gestern wurden mir drei Testamente mit dem Hinweis auf Selbstmordabsicht übergeben. ln dieser ernsten Situation für unser Land darf ich als Vertrauensperson der Gefangenen und autorisiert durch den Leiter der Strafvollzugseinrichtung (StvE) Brandenburg, Oberrat Udo Jahn, zu ihnen sprechen. Bis Dezember 1989 durfte ich als katholischer Seelsorger in der StvE Brandenburg beauftragt durch Bischof Dr. Meisner und zugelassen durch das Ministerium des Innern nicht mit den Gefangenen sprechen. Das widersprach selbst unserem Strafvollzugsgesetz, in dem Seelsorge zugesichert ist, unter der aber mehr verstanden werden muss, als 4-wöchentlich unter Aufsicht Gottesdienst halten zu dürfen.

6. Strafrechtsänderung brachte nur zwei Gefangenen die Freiheit

Eine Wende ist eingetreten, aber die Altlasten schleppen wir in hohem Maße mit und es gilt, jedem Menschen, auch den Strafgefangenen, die mit am härtesten betroffen sind, Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Die Ausführungen des amtierenden Ministers für Justiz am 22.9.1990 in der “Aktuellen Kamera” haben viel Zündstoff für Proteste und Konflikte bei den Gefangenen und den Strafvollzugsbediensteten ausgelöst. Ihm wird mit Recht fehlende Nähe zu den Problemen im Strafvollzug oder härter Unkenntnis der Lage vorgeworfen. Stichwort: Keine politischen Gefangenen. Er selbst hat heute morgen im Rundfunk RlAS diese absolute Behauptung dahingehend eingeschränkt, dass es sogenannte Mischdelikte gibt. Heute Mittag hat er sich noch weiter zurückgenommen, indem er auch politisch motivierte Rechtsprechung zustand. Wir lebten in einer vom absoluten Machtanspruch der SED geprägten Gesellschaft. Diese war beherrscht durch das korrupte flächendeckende Stasi-System. Jeder, der sich dem nicht beugte, kam mehr oder weniger in Konflikt mit dem Gesetz.

Ein Beispiel dafür, wie ein politisch motivierter Fall in ein kriminelles Delikt gewandelt wurde: Der Vorsatz des Täters war ein Grenzdurchbruch (§ 213). Die Anklage formulierte: Wenn ich in die BRD flüchten will, muss ich mit dem Widerstand eines Grenzpostens rechnen. Da dies nicht von der Hand zu weisen war, wurde die Anklage auf Vorbereitung zum Mord und des Terrors erhoben. Diese beiden letzten Punkte wurden einfach unterstellt und somit das politische Motiv zu einem kriminellen gemacht. Stichwort: Erpressung durch die protestierenden Strafgefangenen. Davon kann keine Rede sein. Der normale gesetzliche Instanzenweg wurde von den Gefangenen und von der Leitung der StvE in den letzten Monaten genutzt, leider ohne Resonanz.

  • Versprochene Aktenüberprüfungen waren eine Farce.
  • Anträge auf Urteilsüberprüfung wurden an die Instanz zurückgewiesen, wo sie verhandelt wurden (gleiche Richter und Staatsanwälte).
  • Bei Gnadengesuchen wurde der Eingang bestätigt und nicht weiterbearbeitet; wurde der Eingang nicht einmal bestätigt oder in selbst für die StvE-Leitung unverständlicher Weise abgelehnt.
  • Die 6. Strafrechtsänderung brachte in Brandenburg bei über 1000 Gefangenen nur für 2 Gefangene die ersehnte Freiheit.
  • Besonders sei auch hingewiesen auf die Eingabe des Leiters der StvE Brandenburg an die Volkskammer mit der Bitte um eine modifizierte Amnestie. Auch diese wurde unbefriedigend beantwortet.

Dachbesetzungen als letzte Möglichkeit

Die Proteste jetzt sind lange angestauter Unwille und werden durch Hungerstreik und Dachbesetzungen als letzte Möglichkeit bekräftigt. Von Erpressung kann also keine Rede sein. Stichwort: Revolte bzw. Meuterei in den Haftanstalten der DDR. Im Gegenteil sind das disziplinierte Verhalten, das Bemühen, um Besonnenheit und die Gesprächsbereitschaft der Gefangenen zu loben, ebenso die weitgehendst solidarische Haltung der Strafvollzugsleitung.

Es geht nicht um Jubel-Gnade

Dem bezeugten Anliegen der gewaltfreien Protestaktion schaden unüberlegte Äußerungen, wie die des Herrn Minister Walther. Stichwort: Jubelamnestie. Dieser Begriff wurde geprägt von der bayrischen Justizministerin, nicht von den Strafgefangenen der DDR. lm Eigentlichen geht es nicht um eine Jubel-Gnade, sondern um das Recht auf Gerechtigkeit für jeden. Deshalb bitten wir, unverzüglich politisch verantwortlich zu prüfen und zu entscheiden für den Erlass einer modifizierten Amnestie.


Gefängnis Rüdersdorf bei Berlin 1990 mit Inhaftierten auf ihren Betten. Fotos: Imago

Eine Amnestie soll umfassen:

  1. Herabsetzung der lebenslänglichen Strafen auf eine Zeitstrafe; ausgenommen die Straftäter, die nach dem 18.3.1990 verurteilt wurden, sowie Mordstrafen, die eine besondere Schwere aufweisen (Mehrfachmörder).
  2. Straferlass für jeden Gefangenen um drei bis fünf Jahre.
  3. Wegfall der Reststrafen von der Amnestie 1987 und Einbeziehung aller, die unbegründet von dem Amnestiebeschluss ausgeschlossen wurden.

Ebenfalls erwarten wir die schnellstmögliche Schaffung einer gesamtdeutschen Expertenkommission zur Prüfung aller Urteile auf der Grundlage der bundesdeutschen Gesetzgebung und Rechtsprechungspraxis. Jedem Strafgefangenen, der dies wünscht, sollte das Recht auf eine Neuaufnahme des Verfahrens gewährt werden. Diese beiden Forderungen begründen sich darin, dass alle Rechtsanwälte und Staatsanwälte zum 30.9.1990 abgesetzt werden. Folglich können auch deren Urteile, die im alten Unrechtssystem gesprochen wurden, nicht übernommen werden. Weiterhin sind zu beachten das überhöhte Strafmaß, der menschenunwürdige Strafvollzug und die vergleichsweise mit der Bundesrepublik häufige Aussprache von Urteilen mit Freiheitsentzug. In der DDR wurden von 100 Urteilen etwa 40, in der Bundesrepublik 6 mit Freiheitsentzug ausgesprochen. Die gesamte Rechtsprechung in der DDR stand unter dem Einfluss des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) von den Ermittlungen über erzwungene Geständnisse bis hin zum Urteilsspruch. ln vielen Fällen sind die Akten nicht einmal der Strafvollzugsleitung einsichtig gewesen und jetzt nicht mehr vorhanden. Dem Angeklagten wurde das Recht auf Mitwirkung im Strafverfahren durch einen Rechtsanwalt nicht gewährt. Rechtsberatung wurde erst im Urteilsverfahren zugestanden. Bei einer Wiederaufnahme des Verfahrens müsste der Schuldbeweis neu geführt werden.

Hier gilt der Rechtsgrundsatz, dass im Zweifelsfall für den Angeklagten zu entscheiden ist. Deshalb sind die Forderungen nach einer modifizierten Amnestie und einer Wiederaufnahme des Verfahrens nach den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit für jeden voll berechtigt. Die Befürchtung, dass jetzt alle Gefangenen auf die Bevölkerung losgelassen werden, kann ich dahingehend entkräften, dass für die StvE Brandenburg bei derzeit 1015 Inhaftierten, von denen 230 zu einer lebenslänglichen Haftzeit verurteilt worden sind, bis Ende 1990 fünfzehn Strafgefangene 15 Jahre und mehr abgesessen haben, und bei einem Straferlass von 3 Jahren 48 Strafgefangene entlassen würden. Also keine Massenentlassung, sondern für Brandenburg von 1015 Gefangenen nur 93. Bei einer solchen modifizierten Amnestie würde jeder Gefangene einen Straferlass bekommen und wäre gleichzeitig dem berechtigten Schutz des Gemeinwesens Rechnung getragen, indem nicht sofort alle noch einsitzenden Strafgefangenen entlassen würden. Eine langfristige Vorbereitung der Wiedereingliederung bei der Mehrzahl der Strafgefangenen wäre ebenfalls gewährleistet. Bitte bedenken Sie diese Erwartungen sehr wohlwollend. Es geht nicht um Parteipolitik, sondern um das Leben von Menschen. Eine Wiedergutmachung von Rechtsbeugung und unmenschlichem Strafvollzug kann nicht geschehen. Gewähren Sie wenigstens Recht und Gerechtigkeit. Wir erwarten noch heute ein Signal, dass vor dem 3. Oktober 1990 eine Lösung gefunden und rechtskräftig wird.

Überprüfung nach rechtstaatlichen Prinzipen

Das Volkskammerpräsidium hat trotz “Empörung über die mangelnde bzw. fehlerhafte Information seitens des Justiz und Innenministeriums” (Präsidentin Bergmann-Pohl am 24.9.1990) sein Recht, eine Amnestie zu erlassen, versäumt diese in Anspruch zu nehmen. Die Volkskammer hat sich mit ihrem Gesetz vom 28.9.1990 den Erarbeitungen der Rechtskommission zu einem teilweisen Straferlass unter selbstverschuldetem Zeitdruck und ohne Debatte angeschlossen. Die Rechtskommission war wesentlich von BRD Juristen bestimmt, die weder mit den Härten des Strafvollzugs vor der Wende noch mit dem Ausmaß der Unrechtsjustiz vertraut waren, und von DDR Juristen, die die alte Praxis mitverantwortet haben.

Deshalb msten für diese Kommission die eigenen Anliegen und nicht die der Gefangenen und der Leitungen der Strafvollzugseinrichtungen bestimmend sein. Enttäuscht über die in jeder Hinsicht unbefriedigende Lösung, das Versagen der Regierung, richten sich alle Erwartungen der Gefangenen auf eine Urteilsüberprüfung nach rechtsstaatlichen Grundsätzen. Ein weiteres Problem stellt sich mit der Länderbildung und der damit verbundenen Verlegung der Gefangenen. Es soll keine Zwangsverlegung geben. Ausgeschlossen werden müsste die Mitwirkung von alten SED Richtern und Staatsanwälte. Wichtig wäre, dass neben der Aktenüberprüfung jeder Gefangene, der es wünscht, zu seinem Fall gehört wird. Selbstverständlich muss der alte Rechtsgrundsatz lauten: lm Zweifel für den Angeklagten.

Johannes Drews | Premitz, 17. Oktober 1990

 

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