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Friedliche Revolution und Wendezeit im Gefängnis

2. Oktober 2019

Als ich meinen Dienst in der Stravfvollzugseinrichtung (StVE) Brandenburg 1988 antrat, bestand meine seelsorgerische Tätigkeit nur darin, alle vier Wochen einen Gottesdienst zu halten. Ich wurde bewacht, durfte keinen Kontakt zu den Gefangenen haben. Ich suchte ihn dennoch, begrüßte sie mit Handschlag, bat sie, mir ihre Vornamen zu nennen. Anfangs kamen fünf oder sechs Gefangene zum Gottesdienst, nach einem halben Jahr waren es 30 – und es wurden mehr. Ich begann, am Ende der Gottesdienste von den aufkommenden Bürgerbewegungen zu erzählen, den Friedensgebeten – und die Gefangenen von den Unruhen im Gefängnis, dem Begehren, nicht vergessen zu werden.

Als mir ein Gefangener nach einem Gottesdienst die Bibel zurückgab, aus der er vorgelesen hatte, lagen drei, vier Briefe darin – Briefe, in denen sie von ihren Nöten und den Missständen im Gefängnis erzählten, Bitten, Kontakt mit Verwandten aufzunehmen. Ich hatte Angst, dass sie mir vor den Beamten herausfallen würden und ließ sie, als ich mich umzog, in meine Unterhose wandern. Das passierte dann häufiger – und weil ich wusste, wie heikel die Situation war, bat ich Freunde, den Bischof zu informieren, falls ich mich nach dem Gottesdienst nicht bis 15 Uhr bei ihnen gemeldet hatte. Ich verwahrte die Briefe in einem Tresor. 1990 wurde bei mir eingebrochen. Gestohlen wurde nichts – nur die Briefe waren weg.

Im Laufe der Friedlichen Revolution wurde die Stimmung in der StVE angespannter. Die Gefangenen traten in Hunger- und Arbeitsstreiks – und erpressten damit nach dem Mauerfall eine Pressekonferenz, die am 5. Dezember 1989 stattfand. Etwa 30 Journalisten waren gekommen und stellten der Anstaltsleitung Fragen. Anschließend wurden sie durch die Hafträume geführt – von Sprechern der damals noch 2000 Häftlinge selbst, die mittlerweile Gefangenenvertretungen gebildet hatten. Auch ich bekam einen Einblick, der mir bis dahin verwehrt geblieben war, in die Arbeitsbedingungen, die Hafträume: viel zu klein für die vielen Gefangenen, die Betten dreistöckig, drei Stühle, ein Tisch, in der Ecke eine Toilette ohne Vorhang. Die Gefangenen trugen Forderungen vor: bessere Haftbedingungen, aber auch die Überprüfung der oft viel zu hohen, politisch gefärbten Urteile, die laut Einigungsvertrag von der BRD als rechtskräftig anerkannt werden sollten.

Als Vermittler während des Gefängnisaustandes in der JVA Brandenburg 1990. Drews zwischen DDR Innenminister Peter-Michael Diestel und Manfred Stolpe. Foto: Hubert Link, Bundesarchiv, Bild 183-1990-0920-025, 20. September 1990

Der Tag der Pressekonferenz war ein entscheidender Wendepunkt – auch für meine Arbeit. Fortan durfte ich Einzel- und Gruppengespräche führen. Wir begannen, Angebote für die Gefangenen zu machen, konnten sogar den Kantatenkreis des Doms für ein Adventskonzert gewinnen. Auch kamen durch viele kleine Amnestien zahlreiche politische Gefangene und Kurzstrafer frei. Abgesehen davon passierte allerdings erst einmal wenig. Die Stimmung unter den Gefangenen blieb gereizt. Ab Frühjahr 1990 boten wir Gesprächskreise zu offenen Themen an, zu denen nicht selten bis zu 60 Gefangene kamen. An einem dieser Abende – es war der 19. September – wurde es nach einer halben Stunde sehr unruhig im Raum, als jemand bekannt gab, dass sich vier Gefangene während des Toilettengangs Zugang zum Dach des Haupthauses verschafft hatten, um ihre Forderungen endlich durchzusetzen. Es war ein Hilfeschrei. Sie wollten nicht vergessen werden im Prozess der Wende.

Ich muss zugeben, dass ich Angst hatte – ebenso wie die anderen Gefangenen: Was würde nun passieren? Ich verließ die Anstalt gegen 22 Uhr. Erst nachts bemerkten die Wachen die Gefangenen auf dem Dach, die zu springen drohten, sollte man nicht auf ihre Forderungen eingehen. Um 1.30 Uhr wurde ich in die Anstalt gerufen, um zu vermitteln. Die Gefangenen zogen mich ins Vertrauen, machten mich zu ihrem Sprecher. Die Anstaltsleitung half uns, Seile hinaufzubringen, damit die Dachbesetzer sich auf dem hohen steilen Dach sichern konnten. Wir schafften Decken auf den Dachboden, einen Tisch und ein paar Stühle. Schon am nächsten Morgen kamen Manfred Stolpe, der damalige SPD-Spitzenkandidat für das Amt des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg, und sein CDU-Kontrahent Peter-Michael Diestel, um mit den Gefangenen zu sprechen. Sie gingen mit dem Versprechen, die Forderungen zur Kenntnis zu nehmen. Zufriedengestellt hat das die Gefangenen nicht – sie blieben auf dem Dach.

Der Anstaltsleiter, Udo Jahn, hatte an die Volkskammer geschrieben, die Forderungen der Gefangenen seien gerechtfertigt – er bitte darum, dem nachzugehen. Und so waren wir am 24. September 1990 zu einem Gespräch ins Präsidium der Volkskammer geladen. Ich habe dort unsere Probleme vorgetragen – auch die Androhung von Suizid durch die Gefangenen. Anschließend gab die Vorsitzender der Volkskammer Sabine Bergmann-Pohl eine Presseerklärung: Man stelle mit Empörung fest, dass die Volkskammer vom Ministerium des Inneren, der Justiz und der Staatsanwaltschaft mangelhaft und teilweise falsch unterrichtet worden sei. Am 2. Oktober wurde die Einzelfallüberprüfung gesetzlich beschlossen – das war das Ende der Dachbesetzung.

Ein Jurist aus den alten Bundesländern sollte ein Gespräch mit dem Gefangenen führen, die einen Antrag auf Überprüfung gestellt hatten, Akte und Urteil lesen und eine Einschätzung nach westdeutschem Recht geben. Auf dieser Grundlage sollten er, ein Rechtsanwalt aus der DDR und ich entscheiden – zehn, zwölf Fälle in zwei Stunden – und Empfehlungen an das Justizministerium geben, das auf dem Weg des Gnadengesuchs entschied. 593 der damals noch etwa 1000 Gefangenen hatten einen Antrag gestellt, nur 135 Empfehlungen für eine Strafminderung wurden ausgegeben.

218 hatten ihren Antrag nach dem Gespräch mit dem Jurist wieder zurückgezogen. Es war ein unfaires Verfahren – auch, weil ich durch meine Arbeit als Vertrauensperson wusste, dass es einige Menschen gab, die mit hoher Wahrscheinlichkeit unschuldig einsaßen. Mit meiner Unterschrift sollte ich nun auch solche Urteile bestätigen? Ich forderte eine Veränderung des Überprüfungprozesses – und wurde aus der Kommission ausgeschlossen. Jemand anders hat dann die Empfehlungen unterschrieben. Das hat die Stimmung nicht verbessert – aber die Einheit war da, die Vollzugsbedingungen wurden besser, man fand sich mit der Situation ab. In dieser Zeit entwickelte sich in der Bevölkerung eine unwahrscheinliche Solidarisierung mit den Gefangenen. Die Menschen sahen weniger die Straftat als den politisch Unterdrückten. Sie gaben mir Tabak und Schokolade als Geschenke für die Gefangenen mit, nahmen Briefkontakt mit ihnen auf. Auch wenn diese Welle bald wieder weitgehend verebbte, war es eine positive Erfahrung. Im Allgemeinen aber interessiert sich die Gesellschaft nicht für das, was hinter Gittern geschieht.

Dann kehrte bundesrepublikanischer Knastalltag ein. Der Strafvollzug wurde gemäß Strafvollzugsgesetz der BRD umgestaltet – mit Vollzugslockerungen, Freigang, Urlaub aus der Haft und vorzeitigen Entlassungen. Ab 1994 konnte ich sogar freizeitpädagogische Maßnahmen anbieten, bin mit bis zu neun Gefangenen ins Elbsandsteingebirge zum Klettern gefahren – ohne Begleitung von JVA-Beamten. Ab Mitte der 90er ging diese Entwicklung wieder drastisch zurück. Da hieß das Motto im Strafvollzug: Es darf nichts passieren. Trotz aller Restriktionen für die Gefangenen können wir heute als Gefängnisseelsorger relativ frei arbeiten, haben einen ungestörten Zugang zu den Menschen, deren Biographie oft kaputt ist. Für mich als Gefängnisseelsorger war die Zeit der Friedlichen Revolution eine spannende, wenngleich anstrengende – auch eine Zeit des Lernens: Wie liest man einen Gesetzestext? Wie verfasst man politische Stellungnahmen zum Thema Haftverschärfung? Das wurde ein wichtiger Teil zusätzlich zu meiner nun ganz anderen Arbeit vor Ort. Ich habe mich diesen Herausforderungen gestellt – und bin froh, dass ich es erleben durfte.

Johannes Drews wurde 1948 in Potsdam geboren und wuchs in Werder auf. Nach dem Theologie-Studium wurde er 1975 zum Priester geweiht. Mit Antritt der katholischen Pfarrstelle in Premnitz 1988 übernahm er zusätzlich die Aufgabe des Gefängnisseelsorgers in der Strafvollzugseinrichtung (StVE) Brandenburg. Schon als Kaplan hatten Angehörige Gefangener das vertrauliche Gespräch mit ihm gesucht, weil sie offiziell nicht über ihre Besuche im Gefängnis sprechen durften.

Während der Friedlichen Revolution war Johannes Drews in der StVE Brandenburg einer der wichtigsten Vermittler zwischen Häftlingen, Anstaltsleitung und Politik. Seit Februar 2019 ist er im Ruhestand, steht seinem Nachfolger aber weiterhin beratend zur Seite.

 

2 Rückmeldungen

  1. Mario sagt:

    Ja was soll ich sagen, hab ihn auch 1990 kennengelernt, da ging so einiges ab bei den Gespächsrunden. Schon alleine, weil Sie gekommen sind. Seelenhascherei, weil früher kam keiner. Aber es hat uns dann wieder etwas menschlicher gemacht. Deshalb und jetzt mit dem Wissen, weiß ich, es ist wichtig. Ich werd mal vorbei schauen an der Gedenkstätte, obwohl es mir sehr schwer fallen wird, weil es war nicht schön.

  2. C. sagt:

    Liebe Seelsorger*,

    vergessen habe ich ihn nie, aber eine aktuelle Dokumentation erinnert an diesen freundlichen, sich sorgenden und liebevollen Menschen. Ich lernte ihn während der Wendezeit kennen (JVA Brandenburg, Dachbesetzung, Gefangenenrat).
    Und egal, ob Sie und Ihre Mitstreiter nur nebenhergehen oder vorangehen, Sie tun den Insassen gut.
    Straffällig wurde ich einmalig und nimmermehr, er darf sich getrost auf die Schulter klopfen – er geht einen guten Weg!
    Nun wünsche ich Ihnen weiterhin Standvermögen, Gelassenheit und Humor, um Ihre Berufung auszuleben.
    Er hat dies alles 🙂

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