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Handlungsempfehlungen für den Gefängnisalltag

28. April 2020

Dr. Karlheinz Keppler und Prof. Dr. Heino Stöver von der „Europäischen Konferenz zur Gesundheitsförderung in Haft“ haben Empfehlungen formuliert, wie sich der Strafvollzug auf die aktuelle Pandemie einstellen sollte. Dabei werden insbesondere die drogenkonsumierenden Inhaftierten in den Blick genommen. Das Regionalbüro Europa der WHO hat unter der Mitwirkung des deutschen Experten Dr. Marc Lehmann einen Leitfaden entwickelt, der sich dem Thema Corona-Pandemie und den Auswirkungen auf die Gefängnisse widmet. Dieser Leitfaden bietet eine umfassende Darstellung des gegenwärtigen Wissenstandes zu SARS-CoV-2 und COVID-19. Dazu sollen die folgenden Ergänzungen zu den WHO-Leitlinien für die konkreten Probleme des Vollzugs dienen.

Die Forderungen an den Justizvollzug sind allerdings derzeit beim generellen Mangel an Schutzausrüstung kaum zu erfüllen. Auch darüberhinausgehende Forderungen, beispielsweise die Forderung nach dokumentierten und nachvollziehbaren Bewegungsprofilen der Gefangenen, sind zumindest in größeren Einrichtungen mit mehreren Hafthäusern im Grunde nicht umsetzbar.

Genuin vollzugstypische Belange fehlen

  • Es fehlen Hinweise zum speziellen Umgang mit drogenkonsumierenden Gefangenen. Außer allgemeinen Hinweisen zur Reduktion der Gefangenenmobilität fehlen konkrete Vorschläge zum Umgang mit substituierten Gefangenen, die in aller Regel durch die tägliche Vorstellung in der Krankenabteilung für einen ganz erheblichen Anteil an Gefangenenbewegungen sorgen, neben den Bewegungen im Zusammenhang mit den Arbeitsbetrieben und den der allgemeinen Versorgung wie z. B. Essenausteilen.
  • Reduktion der Gefangenenzahl und Zugängen
  • Hinweise auf Impfungen gegen Influenza und Pneumokokken
  • Konkrete Maßnahmen, die geeignet sind, die Versorgung weiter sicherzustellen, auch wenn sich bei einzelnen Bediensteten Infektionen nachweisen lassen.
  • Einfache Möglichkeiten der Virus-Minimierung
  • Schnelltest-Möglichkeiten und ihr Sinn für den Vollzug

Drogenkonsumierende Gefangene

Diese Patientengruppe stellt einen bedeutenden Anteil an den Inhaftiertenzahlen. Diese Patienten sind chronisch krank, der Großteil ist männlich, so gut wie alle rauchen. Das Robert-Koch-Institut hat Raucher als Risikogruppe eingestuft. Mittlerweile gibt es Hinweise darauf, dass Raucher ein erhöhtes Risiko für schwere Verläufe von COVID-19 haben. Eine chronische Bronchitis bzw. eine COPD liegt bei vielen rauchenden Gefangenen vor Sie stellen daher eine besonders vulnerable Gruppe für Lungenerkrankungen dar. Aus diesem Grund sollte diese Gruppe in den Empfehlungen ganz besonders in den Blick genommen werden.

Substituierte Gefangene

Die tägliche Vorstellung zur Substitution sorgt für einen ganz erheblichen Anteil an Gefangenenbewegungen, den es zu vermeiden gilt. Schwierig ist es zudem, die Zahl der zur Substitution gebrachten Gefangenen jeweils so zu organisieren, dass sich nur eine begrenzte Anzahl von Gefangenen im Wartebereich aufhält. Auch den empfohlenen Abstand von 1,5 bis 2 Metern einzuhalten, ist unter den Bedingungen im Gefängnis sicher besonders schwierig. Zumal der Wartebereich und diese Situation im Gefängnis typischerweise für eine einem Umschluss ähnliche Situation sorgt.

Für dieses Dilemma der täglichen Vergabe bei gleichzeitig hohem Kontakt- und Übertragungsrisiko haben sowohl die Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin als auch die Vorsitzenden der Qualitätssicherungskommissionen der Kassenärztlichen Vereinigung Handlungsempfehlungen erstellt, die auch im Vollzug berücksichtigt werden sollten. Diese beinhalten neben den üblichen Empfehlungen vor allem die verstärkte Nutzung von Take-Home-Vergaben und bei Patienten mit dem Substitutionsmittel Buprenorphin die verstärkte Nutzung der verfügbaren Wochen- oder Monats-Depot-Applikationen.

Durch beide Maßnahmen könnten sieben Kontakte pro Woche auf zumindest einen Kontakt pro Woche reduziert werden, bei Nutzung der jetzt möglichen 30-Tage-Take-Home-Vergabe und dem bereits erwähnten Monatsdepot möglicherweise sogar von 30 Tagen im Monat auf einen Tag im Monat. Eine Maßnahme, die sicher im Interesse der von der Bundesregierung getroffenen Maßnahmen ist und das Übertragungsrisiko erheblich reduziert. Vollzugliche Einwände gegen eine Take-Home-Vergabe auch in Haft dürfen bei dem übergeordneten Ziel der Infektionsvermeidung gerade auch bei bisher zuverlässigen und von Beikonsum freien PatientInnen keine Rolle spielen.

Reduktion der Gefangenenzahl und Zugängen

Leider fehlen im WHO-Leitfaden auch konkrete Hinweise zur Reduktion der Gefangenenzahlen als grundsätzliche Vermeidung von Übertragungen des Corona-Virus. Aus vielen (Bundes-)Ländern werden solche Bemühungen jetzt berichtet. Je niedriger die Gefangenenzahlen, desto weniger Kontakte und damit Infektionsmöglichkeiten im Gefängnis. Begrenzungen der Gefangenenzahlen sind auf mindestens zwei Wegen möglich. Zum Beispiel alle zur Vollstreckung ausstehenden Haftbefehle sollten außer Vollzug gesetzt und nicht vollstreckt werden.

Weitere Maßnahmen zur Reduktion der Gefangenenzahlen sind erfreulicherweise in den letzten Wochen durch die Bundesländer weitgehend umgesetzt worden: Das Aussetzen des Vollzuges der Ersatzfreiheitsstrafen, keine Gefangenensammeltransporte, Lockerungen, Ausführungen sowie keine Besuche durch externe BeraterInnen. Einige Bundesländer verzichten auf den Vollzug des Jugendarrestes, von Neuzugängen im Offenen Vollzug und von von Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten. Dazu kommen in einigen Bundesländern Maßnahmen, die sozialen Abstand erlauben. Neuzugänge werden in den meisten Haftanstalten in den ersten zwei Wochen nun separat untergebracht. Alle Inhaftierten, bei denen es unter Sicherungsaspekten vertretbar ist, sollten entweder im Rahmen einer Haftunterbrechung vorübergehend (siehe Nordrhein-Westfalen) oder im Rahmen einer Amnestie in möglichst ‚sichere‘ Umgebungen entlassen werden. Was im Rahmen einer Weihnachtsamnestie gang und gäbe ist, sollte in Zeiten von Corona ebenfalls nicht auf wesentliche vollzugliche oder justizielle Widerstände stoßen.

Impfbewusstsein

Obwohl die Ständige Impfkommission (STIKO) einschlägige Impf-Empfehlungen gerade auch für Strafgefangene bereits erstellt hat, sind viele Anstalten (Ausnahmen bestätigen die Regel) noch weit davon entfernt, diese Impf-Empfehlungen auch mit dem erforderlichen Engagement umzusetzen. Ist eine Situation wie jetzt durch Corona eingetreten, entsteht naturgemäß wieder so etwas wie ein aktuelles „Impfbewusstsein“. Eine große Zahl unserer vorerkrankten und teilweise massiv chronisch Erkrankten (Leber, Lunge etc.) würde von einer Impfung gegen Influenza und Pneumokokken deutlich profitieren. Da sie bisher trotz bestehender Indikation nicht geimpft sind, entsteht in der aktuellen Situation nachvollziehbar ein erhöhter Bedarf. Das führt dazu, dass auch über die zentralen Lieferapotheken bspw. Pneumokokken-Impfungen derzeit nicht lieferbar sind. Die Konsequenz daraus für die Zukunft muss sein: Die Gefangenen rechtzeitig und breit entsprechend den STIKO-Empfehlungen zu impfen und in diesem Zusammenhang eine sinnvolle Vorratshaltung zu betreiben.

Versorgung sicherstellen bei Infektionen Bediensteter

Dienstpläne wurden verständlicherweise bisher nicht unter den Gesichtspunkten einer Corona-Pandemie erstellt. Ist ein Bediensteter von einer Infektion betroffen und hat er in Unkenntnis seines Infektionsstatus weitergearbeitet, hatte er möglicherweise dienstplanbedingt Kontakt zu einer Vielzahl von KollegInnen, die danach alle für den Dienst ausfallen. Die Alternative ist die Bildung kleiner Teams.

Ein Beispiel: Stehen für einen Arbeitsbereich z. B. in der Medizin 12 Bedienstete zur Verfügung, werden Teams von jeweils beispielsweise vier MitarbeiterInnen gebildet, die eine Woche im Einsatz sind. Die beiden anderen Teams bleiben zuhause. In Woche zwei arbeitet dann Team 2, in Woche drei Team 3, in Woche vier wieder Team 1 usw. Wird einer der Bediensteten aus einem Team infiziert, so stehen immer noch zwei komplette Teams zur Verfügung. Diese Überlegungen lassen sich natürlich auch auf andere Teamgrößen herunterbrechen.

Hygienemaßnahmen und Schulungen

Auch wenn davon ausgegangen werden muss, dass SARS-CoV-2 hauptsächlich über Tröpfcheninfektion übertragen wird, können auch Schmierinfektionen, etwa durch kontaminierte Oberflächen (Türklinken, Schränke etc.) eine Rolle spielen. Welche Bedeutung dieser Transmissionsweg hat, ist jedoch noch unklar. Zur Prophylaxe müssen einfache Möglichkeiten der Desinfektion im Vollzug überprüft werden, die für die Gefangenen tatsächlich zugänglich sind.

Zum Beispiel die breite Ausgabe von mit nicht-alkoholischen Desinfektionsmitteln getränkten Tüchern sog. „wipes“, die gegen umhüllte Viren wirksam sind. Mit diesen kann zwar keine hygienisch einwandfreie Flächendesinfektion erreicht werden, aber eine regelmäßige Keimminimierung durch Abwischen z. B. von Türklinken sehr wohl. Gleich wichtig sind Demonstrationen von korrektem Händewaschen. Weiterhin müssen Kurzschulungen für die Reinigungskräfte (d.h. in der Regel Gefangene) durchgeführt werden. Sie müssen instruiert werden, worauf derzeit besonders zu achten ist. Ähnliche Kurzschulungen müssten für Bedienstete durchgeführt werden.

Einsatz von Schnelltests

Bisher sind Schnelltests noch nicht in ausreichendem und bezahlbarem Umfang vorhanden. Die Firma Cepheid hat in den USA eine Zulassung für Schnelltests (Ergebnis in ca. 45 Minuten), für die allerdings spezielle Geräte (GeneXpert Maschinen) erforderlich sind. Dieses Verfahren hat den Nachteil, dass es sehr teuer ist und dass immer nur einzelne Personen getestet werden können. In Deutschland entwickelt das Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig derzeit einen Schnelltest, der auf einer anderen Methode als dem Cepheid-Verfahren beruht.

Sobald Schnelltests in entsprechender Anzahl und Qualität vorliegen, sollten sie breit und früh als Screening-Instrument im Justizvollzug bei Bediensteten und Zugängen eingesetzt werden. Auch außerhalb des Justizvollzuges gibt es derzeit Überlegungen, durch breite Testung eine Besserung der Situation zu erreichen.

Dr. Karlheinz Keppler, Prof. Dr. Heino Stöver | Europäische Konferenz zur Gesundheitsförderung in Haft

 

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