Seit Jahrhunderten besteht im christlich geprägten Europa eine untrennbare Verbindung zwischen weltlicher und geistlicher Obrigkeit. Beide Institutionen haben vor etwa 1.600 Jahren eine Art Ehe geschlossen — zum wechselseitigen Nutzen. Die weltlichen Machthaber statteten die Kirchenfürsten mit entsprechenden finanziellen Mitteln und Privilegien aus, und die kirchlichen Machthaber segneten quasi als Gegenleistung die staatlich verfügten, nicht selten heiklen, ja umstrittenen politischen Entscheidungen mit frommer Geste ab. Was im Namen Gottes gebilligt wurde, besaß eine Legitimität höherer Ordnung. Staat und Kirche stärkten so gegenseitig ihre Autorität.
Banaler ausgedrückt: Eine Hand wäscht die andere. Geschlossen wurde diese religionspolitische Zweckehe zwischen Thron und Altar infolge der Konstantinischen Wende. Nach Jahrhunderten der Verfolgung war das Christentum zur Staatsreligion geworden. Von nun an teilte man sich in den weltlichen Herrscherhäusern die Macht mit der Kirche. Das Volk war zum einen tiefgläubig, aber eben auch nicht selten skeptisch gegenüber den politischen Zielen der Monarchen. Der kirchliche Segen über allen wichtigen säkularen Entscheidungen ebnete die Bahn für jedes staatliche Vorhaben und sicherte die Gefolgschaft des Volkes. So konnte man die Untertanen willig überall hinführen, besonders in die opferreichste politische Situation — in den Krieg. Und so läuft es noch heute.
Gesellschaftliche Isolation im kirchlichen Raum
Vor zweieinhalb Jahren wurde von Staats wegen weltweit eine neue Form von Kriegszustand ausgerufen. Der französische Präsident Emanuel Macron hatte zu Beginn der sogenannten „Corona-Pandemie“ in seiner Fernsehansprache aus dem Élysée-Palast am 16. März 2020 mit großem Pathos unter mehrfacher Wiederholung in die weltweit zugeschalteten Kameras die Worte gesprochen: „Nous sommes en guerre!“ — „Wir sind im Krieg!“ — Die Regierungen der Welt marschierten fortan im Gleichschritt und verhängten überall strikte Kontaktbeschränkungen, um den Krieg gegen das Virus zu gewinnen. Social Distancing wurde als neue Tugend ausgerufen. Durch die Atomisierung der Gesellschaft gedachte man, den Krankheitserreger zu bekämpfen. In jedem Krieg ist es überall seit jeher Aufgabe der Kirchen gewesen, ihre Feldgeistlichen zu schicken. Die Regierenden erwarten dabei, dass sich alle, die für Beamtenbezüge im Namen der Kirche arbeiten, den staatlich befohlenen Entscheidungen unterwerfen. Bedingungslose Staatsräson wird unausgesprochen von allen Geistlichen gefordert. Und sobald sie ihre Stimme im Namen Gottes erheben, haben sie die Aufgabe, dem Volk gegenüber ihre unhinterfragte wie absolute Loyalität zu den Regierenden auszudrücken.
In der Corona-Krise hat die kirchliche Chefetage sich genau an dieses Verhaltensmuster gehalten. Minutiös wurden die staatlich angeordneten Maßnahmen zur gesellschaftlichen Isolation im kirchlichen Raum umgesetzt. Ja, man musste im März 2020 den Eindruck haben, dass da gerade ein epochaler Paradigmenwechsel stattfand: Hygienekonzepte standen in den Kirchengemeinden und den ihnen angeschlossenen Organisationen plötzlich über allem. Über Nacht entstand eine Art Gesundheitsreligion, in der die ursprüngliche Grundlage des christlichen Glaubens — die Botschaft des Zimmermanns Jesus aus Nazareth — allem weichen musste, was dem Hygiene-Imperativ entgegenstand.
Prophetische Dimension?
Auffallend in diesen ersten Monaten der sogenannten „Pandemie“ war: Die gerade für die protestantische Kirchen so essentielle kritisch-prophetische Dimension ihres Auftrages wurde komplett ausgeblendet. Das kirchliche Wächteramt gegenüber den Mächtigen wurde schlicht außer Kraft gesetzt. Seit den Zeiten der Propheten des Alten Testaments ist es die Aufgabe der religiösen Weisen, im Namen Gottes Einspruch zu erheben gegen die Entscheidungen der Mächtigen. Kritische Propheten begleiteten das Reden und Handeln der Könige. So hatte zum Beispiel der Prophet Jesaja versucht, Kriegsvorbereitungen zu verhindern. Als Prophet war es seine Pflicht, den König zu kritisieren, wenn dieser dem Volk nicht Gerechtigkeit widerfahren ließ. Dieses essentielle Wächteramt hat die Kirche mit Proklamation der sogenannten „Pandemie” komplett verraten. Da wurde also der Krieg gegen ein ominöses Virus ausgerufen und die Kirche segnete unterwürfig ohne Diskussion und ohne jeden Widerspruch alle staatlichen Maßnahmen ab.
Das ging so weit, dass sich die großen Religionsgemeinschaften im Frühjahr 2020 im Zuge des staatlich angeordneten Hausarrestes die im Grundgesetz niedergelegten unveräußerlichen Rechte der freien Religionsausübung nehmen ließen. Man beachte die Sprachregelung: Im schicken wie euphemistischen Anglizismen-Jargon wurde dieser Hausarrest von allen Leitmedien unisono fortan nur noch „Lockdown“ genannt — ein Begriff aus dem Strafvollzug mit der Bedeutung „Einschluss“, nämlich dem von Häftlingen in ihren Zellen. Für mehrere Wochen bestand in den Kirchen erstens ein Verbot von gottesdienstlichen Versammlungen — in den „Lockdown“ fiel auch Ostern, das bedeutendste christliche Hochfest — sowie zweitens das Verbot, Alte, Kranke und Sterbende zu besuchen und seelsorgerisch entsprechend zu begleiten.
Derartige staatliche Übergriffe auf das religiöse Leben hat es seit der vor 1.600 Jahren geschlossenen religionspolitischen Zweck-Ehe zwischen Thron und Altar im vielgepriesenen christlichen Abendland noch nie gegeben, nicht in Pestzeiten und nicht in den dunkelsten Diktaturen.
Statt der Osterpredigt in den Kirchen war am Abend des Ostersonntag, dem 12. April 2020, in den ARD-Tagesthemen die Verkündigung des neuen Impfevangeliums durch einen weder fachlich noch demokratisch legitimierten „Apostel“ zu hören. Der IT-Oligarch Bill Gates durfte nach den entsprechenden Stichwortfragen des Moderators Ingo Zamperoni neun Minuten lang seine Frohe Botschaft verbreiten, die in dem Satz gipfelte: „Wir werden den zu entwickelnden Impfstoff letztendlich sieben Milliarden Menschen verabreichen.“ Dabei blieb ungeklärt, wer sich hinter diesem generösen „Wir“ verbirgt.
Digitale religiöse Erfahrungen machen?
Es ist ein bisher nie dagewesener Skandal und ein Verrat an ihrem geistlichen Auftrag, dass die beiden großen Kirchen sich im Frühjahr 2020 widerspruchslos haben verbieten lassen, Gottesdienste zu halten und ihre schwächsten Gläubigen zu besuchen: die Alten, Kranken und Sterbenden. Auch wenn bis heute kein Vertreter der kirchlichen Eliten diesen Verrat an der Botschaft Jesu auch nur im Ansatz selbstkritisch hinterfragt hat, ist davon auszugehen, dass den Kirchenfürsten dieses skandalöse Verhalten bis zum Jüngsten Tag in ihrem Gewissen nachhängen wird. De facto hat für die Zeit des „Lockdowns“ im Frühjahr 2020 die protestantische Kirche gemäß ihrer nach wie vor gültigen Bekenntnisschrift aus dem Jahr 1530, der Confessio Augustana — alle Geistlichen werden in ihrer Ordination auf dieses historische Dokument verpflichtet —, aufgehört zu existieren. Dort heißt es in Artikel 7 zu der Frage, was Kirche ist: „Es wird auch gelehrt, daß allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muß, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden.“
Diese beiden essentiellen Kennzeichen von Kirche — „Live“-Versammlung der Gläubigen sowie leibhafter Empfang der Sakramente — waren im Frühjahr 2020 nicht mehr gegeben. Das konnten auch virtuelle Gottesdienste in digitaler Form nicht ersetzen. Hinsichtlich der Form der Gottesdienste verstieg sich Rainer Bayreuther, Musikwissenschaftler und Dozent an der Hochschule für Kirchenmusik in Bayreuth, in einem Artikel der Zeitschrift „Gottesdienst und Kirchenmusik“ (Nr. 3/2020, S.2 ff.) sogar zu der Behauptung, dass der Gottesdienst im Gefolge der Corona-Krise keine physische Vollversammlung an einem Ort benötige, um religiöse Erfahrung zu ermöglichen. Auch im weiteren Fortgang der Corona-Krise machten sich die Vertreter des kirchlichen Establishments als eilfertige wie gehorsame Partner der religionspolitischen Zweck-Ehe zum verlängerten Arm der staatlich verordneten, einzig legitim erscheinenden Rhetorik. Im Zuge der seit Ende 2020 auf allen Nachrichtenkanälen ausgestrahlten regierungsamtlichen Impfpropaganda betonten einflussreiche Mitglieder der kirchlichen Obrigkeit unermüdlich, den staatlichen Impfappell zur solidarischen Christenpflicht zu erheben. So sieht etwa der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende und Sozialethiker Wolfgang Huber eine „moralische Pflicht“ zur Impfung. Er sprach von der „Impfbereitschaft als einem klassischen Fall gelebter Liebe zu sich selbst, gelebter Liebe zum Nächsten und damit auch gelebter Liebe zu Gott.“
Impfen ist Nächstenliebe
Rochus Leonhard, Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, kritisierte als einer von ganz wenigen theologischen Wissenschaftlern die Tendenz zur Sakralisierung der Impfung gegen das Corona-Virus in den Kirchen in seinem Artikel „Demokratieunfähigkeit reloaded? — Wider die aufdringliche ‚Impffrömmigkeit‘ in den Landeskirchen der EKD“, erschienen in der Zeitschrift „Zeitzeichen — Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft“, Februar 2022. Darin schreibt er: „Insgesamt gilt: Es ist in den meisten Gegenden Deutschlands kaum möglich, eine evangelische Kirche oder ein evangelisches Pfarrhaus zu besuchen, ohne mit dem plakatierten Motto „Impfen ist Nächstenliebe“ konfrontiert zu werden. Es ist klar, dass angesichts des hier hergestellten direkten Zusammenhangs zwischen wahrhaft gelebtem Christentum und Impfbereitschaft die Impfskeptiker bestenfalls als Christen zweiter Klasse und schlimmstenfalls als Sünder zu stehen kommen.“
Fazit
„Die Predigt sowie die Sakramente der Taufe und des Abendmahls bilden das Fundament des kirchlichen Protestantismus. Die Predigt ist durch die Kanzel, beide Sakramente sind durch das kelchförmige Taufbecken repräsentiert. Allerdings: Es wird weder gepredigt noch getauft. Das Eigentliche spielt sich vielmehr zwischen Taufbecken und Kanzel ab: die Spendung des „Impfsakraments“, also der Vollzug desjenigen Initiationsritus, der die Bekehrung zur heilbringenden Mehrheitsmeinung signalisiert und ins gelobte Land zu führen verspricht. — Mehr Impffrömmigkeit ist schwerlich denkbar.“ Festzuhalten ist: Die Mitglieder der diversen kirchlichen Chefetagen oberhalb der Ebene der einzelnen Kirchengemeinden tragen die Hauptverantwortung für die rigorose Umsetzung der staatlichen Maßnahmen sowie für die Impfpropaganda an der kirchlichen Basis. Auch wenn es nicht bewiesen werden kann, sei hier die Hypothese aufgestellt: “Hätten die großen christlichen Kirchen sich nicht derartig unterwürfig zu Steigbügelhaltern der Regierung machen lassen, wäre die Corona-Krise anders verlaufen.” Wagte es auch nur ein Geistlicher, der offiziell verordneten Rhetorik zu widersprechen und die beiden genannten Verbote während des Lockdowns im Frühjahr 2020 als skandalträchtig auch nur zu benennen, gab es Konsequenzen, bis dahin, dass man aus dem Amt gemobbt wurde. Genau das ist dem Autor dieser Zeilen widerfahren.
Im Magazin „Chrismon“ (11/2020, S.10) schreibt der Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern, Dr. Heinrich Bedford-Strohm, über eine wünschenswerte Kommunikationskultur in kontroversen Zeiten. Unter anderem verweist er darin auf den regierungskritischen Propheten Nathan. Der Artikel wird eingeleitet mit den wohlfeilen Worten: „Wer sich öffentlich zu strittigen Themen äußert, muss mit Hass und Beleidigung rechnen. Daran sollten wir uns nicht gewöhnen.“ Der tatsächliche Umgang mit Kritikern in den eigenen Reihen zeigt, was diese Worte aktuell wert sind: Nichts! Zweieinhalb Jahre nach Beginn der durch die Corona-Krise bedingten Umwälzungen in Politik und Gesellschaft verzeichnen die beiden großen christlichen Kirchen nach wie vor einen starken Schwund ihrer Mitglieder, der sich zu einer wachsenden Erosion auswachsen könnte. Nach den aufmerksamen Beobachtungen des Autors wenden sich viele Menschen angesichts der staatlichen Corona-Hörigkeit ihrer Kirche von den kirchlichen Institutionen ab. Sie lehnen sich auf, indem sie abwandern, und zwar nicht einfach in ein atheistisches oder esoterisches Milieu.
Zunehmend treffen sich die Gläubigen im überschaubaren Umfeld privater Häuser, um dort die Botschaft des Zimmermanns Jesus aus Nazareth zu hören und zu feiern, der den Menschen seiner Zeit ohne Berührungsängste, Abstandsgebote oder Gesichtsmasken auf Augenhöhe begegnet ist, um ihnen zuzuhören, um ihnen zu predigen, um sie zu trösten und zu heilen. Viele Menschen, die früher in den geistigen wie architektonischen Räumen ihrer Kirchengemeinde zu Hause waren, ziehen sich dorthin zurück, wo der christliche Glaube seinen Ursprung hat: im kleinen Kreis. Die unselige Verbindung zwischen Staat und Kirche hat nicht erst in den vergangenen zweieinhalb Jahren zum Vertrauensverlust in die religiösen Großorganisationen geführt.
Zukunft einer Illusion?
Sigmund Freund, Entwickler der Psychoanalyse und kein besonders frommer Mensch, hat es vor fast 100 Jahren bereits auf den Punkt gebracht. In „Die Zukunft einer Illusion“ (1927) beschreibt er die Religion als zeitgenössisches soziales Phänomen und resümiert: „Es braucht nicht gesagt zu werden, daß eine Kultur, welche eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt läßt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich zu erhalten, noch es verdient.“ (Sigmund Freud, Studienausgabe, Bd. IX, S. 146 Bd IX, Frankfurt a. M. 2000). Die jahrhundertelange Blutspur, die das Christentum in Gestalt von Kreuzzügen, Hexenjagden, Ketzerverfolgungen und Waffensegnungen in seiner Zweck-Ehe mit dem Staat hinterlassen hat, sollte Anlass genug sein, endlich eine strikte Trennung von Staat und Kirche zu vollziehen. Die Botschaft des Jesus aus Nazareth ist zu wichtig und zu revolutionär, als dass man sie einem kirchlichen Establishment mit seinen regierungshörigen Vasallen überlässt, die sie um der Staatsräson willen verraten hat. Diese einmalige Botschaft braucht einen in jeder Hinsicht neuen, freien, geistigen Horizont, damit sie sich wahrhaft entfalten kann.
Ein Kommentar von: Hanns-Martin Hager
Hanns-Martin Hager, Jahrgang 1959, war Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und ist seit 2021 im Ruhestand. Zuletzt war er Gemeindepfarrer in Grainau in der Kirchengemeinde Garmisch-Partenkirchen. Von 1990 bis 2018 war er als Seelsorger in verschiedenen klinischen Einrichtungen und Heilpraktiker für Psychotherapie tätig. Von 1999 bis 2017 hielt er Vorträge zu medizinethischen Themen an der Evangelischen Akademie Tutzing.
2 Rückmeldungen
“Wer sich impfen lässt, wird nicht sterben!” sagte die Schlange aus dem Garten Eden zum Menschen.
Treffend, mutig und auf hohem Niveau formuliert, ein Beitrag, wie ich ihn über zweieinhalb Jahre lang vermisst habe. Die Ironie dabei: Ausgerechnet dieser Beitrag lässt mich meinen Entschluss zum Kirchenaustritt noch einmal überdenken. Aber um der verhängnisvollen selbstverordneten Gleichschaltung zu entkommen, müsste es solche Statements auch von denen kommen, die in Amt und Würden sind. Nein, mir scheint, dieser vollständige aktuelle Sündenfall unserer evangelischen Landeskirchen war für mich der letzte.