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Gefängnisseelsorge als Beitrag zur Gesundheit

17. April 2020

Ausgehend von der These: „Seelsorgende sind unterschätzte Ressourcen“, beleuchtete Andreas Beerli – Leiter der Katholischen Gefängnisseelsorge des Kantons Zürich, wie Seelsorgende die Gesundheit von Gefangenen positiv beeinflussen können. Wie gesund ist Justizvollzug? Was kann die Gefängnisseelsorge für die Gesundheit von Gefangenen und Mitarbeitenden beitragen? Sind Religiosität und Glaube wichtige Resilienzfaktoren und tragen diese wesentlich zur Erhaltung der Gesundheit bei?

Gespräch mit einem Gefangenen in der Justizvollzugsanstalt Essen. Foto: Achim Pohl

Massen wir Seelsorgenden uns da zu viel zu – schätzen wir unsere Position und unseren Auftrag falsch ein? Wir meinen, dem ist nicht so. Denn unser Bild eines gesunden Menschen geht weit über das physische Wohlergehen hinaus. Den ganzen Menschen wollen wir in den Blick nehmen – Körper, Seele und Geist. Als Einstieg berichte ich von einem ganz normalen Geschehen, das jedes Jahr zig-fach in den Schweizer Gefängnissen praktiziert wird. Gegen Ende Jahr ist es wieder soweit. Es stehen die emotionsbeladenen Feiertage an. Im letzten Jahr – ich wirkte gerade im Frauengefängnis in Dielsdorf – wurde bereits Wochen vor der Gefängnisweihnachtsfeier intensiv diskutiert. Wie wird es sein, die ersten Weihnachten ohne Familie, Mann und Kinder, wird es einen Baum haben, werden wir Lieder singen und die Geschichte aus der Bibel hören? Eine Vorfreude war spürbar und das Datum rückte näher.

Unheilvolle Elemente und heilvolle

Die Inhaftierten backten im Vorfeld Weihnachtsguetli, sie kleideten sich so schön es ging, schminkten sich und frisierten sich gegenseitig die Haare. Es kam tatsächlich eine feierliche Stimmung auf. Die Weihnachtsgeschichte wurde in diversen Sprachen gelesen, man erzählte sich von den Ritualen in ihren Herkunftsländern und ihren Familien. Eine Inhaftierte fragte mich die Woche davor, ob sie etwas singen dürfe und als sie dann das Halleluja von Leonard Cohen sang, standen wir tief bewegt da und hörten ihr andächtig zu. Auch die, die nicht an der Feier teilnahmen, öffneten die Fenster und lauschten dieser wunderschönen Stimme in diesem besonderen Moment. Führen wir Seelsorgenden diese Feiern einfach aus, weil es Tradition ist, weil es sich so gehört und wir die Spezialisten dafür sind? Nein. Solche Feiern sind nur ein ganz kleines Puzzleteil unserer Arbeit. Vieles passiert davor und danach. Wir tragen ganz wesentlich dazu bei, dass Inhaftierte gesund bleiben – ja ich benütze bewusst den religiösen Begriff – dass sie in dieser Umgebung heil bleiben – manchmal sogar heilen.

Was sind dann die unheilvollen Elemente in den Gefängnissen? Da wäre zuerst einmal das Getrennt-sein von den Menschen, die einem viel bedeuten, es fehlt die vertraute Umgebung, die Berührungen, die ganz alltäglichen Rituale, ihre Kultur, die ihnen Halt und Heimat schenkt, da ist eine Unsicherheit – wie geht es weiter, die Wertefrage wird gestellt– was bin ich noch – was zählt? Vieles ist auf die Tat gerichtet – Risikoorientierung, da ist eine eingeschränkte Entscheidungsfähigkeit – sie belastet das Selbstwertgefühl, Bewegung ist eingeschränkt, Abwechslung und Inspiration fehlen. Menschen in der besonderen Umgebung der Gefängniswelt leiden – sie leiden an Körper, Seele und Geist. Und wie zeigt sich dieses Leiden – dieses Unheil sein? Schlechtes schlafen, kreisende Gedanken, Energielosigkeit, kein Hunger, Spannungen untereinander, Depression, Zukunftsangst, aufbrechende Emotionen, körperliche Symptome etc.

Es betrifft alle im Gefängnis

Wir würden unserer umfassenden Aufgabe zu wenig gerecht, wenn wir nur auf die Insassinnen und Insassen blicken würden – die unheilvolle Umgebung betrifft oft auch die Mitarbeitenden. Als Gefängnisseelsorgende sind wir auch für sie da. Auch von ihnen hören wir ihre Leiden – andere Leiden, aber auf die Dauer auch sehr belastend. Immer die gleichen Abläufe, Personalmangel, die Außenwelt, die kein Verständnis aufbringt, spöttische Bemerkungen, Eigeninitiative ist wenig gefragt, die Mitarbeitenden sind einer permanenten Anspannung ausgesetzt, manchmal ist eine Kultur des Misstrauens (den Gefangenen gegenüber) vorhanden. Spannungen unter den Mitarbeitenden werden selten offen ausgetragen, viele haben sich einen Schutzschild zugelegt.

Um die Situation zu verbessern gibt es zwei Hauptzugänge: Der eine befasst sich mit den Rahmenbedingungen, die optimiert werden könnten. Hier haben wir nur wenig Einfluss, da wir größtenteils nur in kleinen Pensen arbeiten und somit Außenstehende sind und nicht Teil des Mitarbeiterstabes. Unser Fokus richtet sich auf einen zweiten Zugang. Es beleuchtet die Frage: Welche Faktoren tragen dazu bei, dass die Inhaftierte, wie auch die Mitarbeitenden in dieser besonderen Lebenswelt möglichst wenig Schaden nehmen? Oder anders gefragt: Welche Resilienzfaktoren sind wichtig, um in dieser besonderen Lebenswelt gesund zu bleiben? Was können wir als Seelsorgende beitragen, damit der Insasse möglichst gesund bleibt und eine Wiedereingliederung gelingen kann? Zwei Resilienzfaktoren greife ich auf.

1. Ein Stück Würde zurückgeben

Seelsorge heißt zuhören. Wir hören zu, fragen nach, suchen mit den Insassen nach dem, was in seinem Leben wertvoll ist. Die Ressourcenfrage ist zentral – was gibt ihm Kraft und Hoffnung – welche Träume und Visionen schlummern in ihm, welche neuen Wege könnte er sich vorstellen? In unseren Gesprächen sind wir ganz präsent. Das Gegenüber ist in diesem Moment die wichtigste Person – mit dieser Haltung des Interesses, der Aufmerksamkeit und auch mit der Zeit, die wir dem Insassen schenken, geben wir ihm ein Stück Würde zurück. Denn es ist diese Würde, die ihm oft abhandengekommen ist. Es ist diese Würde, die ihn aus seinem Gebeugt-sein aufrichtet – die ihn als einen Menschen anspricht, der zwar eine üble Tat vollbracht hat, der aber erfährt, ich bin mehr als diese Tat. In dieser ehrlichen und nicht wertenden Zuwendung darf der/die Inhaftierte all das aussprechen, was ihn/sie beschäftigt.

All die Zweifel, all die eigenen Enttäuschung und die Enttäuschungen, die er verursacht hat, alle den Schmerz, die Trauer, die Wut, aber auch die Hoffnungen und Träume dürfen zu Sprache kommen. Darüber reden befreit. Die wirren Gedanken bekommen eine Struktur, man wirft Schweres ab und im Sprechen entsteht Neues. Seelsorge ermöglicht solche Prozesse, schenkt Raum und Zeit, tut gut, heilt. Woche für Woche führen wir hunderte von Gesprächen – ein kleines Rädchen in einer großen Maschine oder vielleicht auch das Öl, das dazu beiträgt, dass das Räderwerk weiterhin funktioniert. Der zweite Resilienzfaktor bezieht sich auf die vorher erwähnte Feier.

2. Faktor „Glaube“ ist ein unterstützendes Element

Seelsorge gründet in einer Beheimatung im Glauben – in einer Religion. Und jeder Glaube – jede Religion ist beheimatet in einer Kultur, geprägt von Ritualen, Erinnerungen und Zugehörigkeiten.  Anthropologen bezeichnen die Religiosität als ein „evolutionäres Nebenprodukt“. In der somatischen Medizin wurde der Faktor „Glaube“ schon in viele Studien als ein wichtiges unterstützendes Element entdeckt. In der Psychiatrie – gemäß dem Chefarzt der ZIP Rheinau, Dr. Vetter, wird die religiöse Prägung und Beheimatung bewusst im Heilungsprozess eingebaut. Es zeigt sich, dass Menschen, die die Ressource Glauben anzapfen können, positiver und lösungsorientierter mit schwierigen Situationen umgehen können. Dazu kommt noch der stärkende Faktor einer Gruppe anzugehören – im Kollektiv fühlt man sich mehr getragen.

Auf unsere Feier bezogen sind es zahlreiche Aspekte, die hier hineingespielt haben. Es ist die Gruppe, die sich in einem Ritual findet, das ihnen vertraut ist. Erinnerungen tauchen auf und enthalten eine Kraft, die stärkend wirkt. Diese Feier weist über sie hinaus auf eine Hoffnung hin, die grösser und umfassender ist. Es zeigt auf, es gibt noch andere Geschichten, andere schwierige Situationen, die auch durchlebt wurden. Und dann gibt es solch dichte Momente – wie Cohens Halleluja – wo der Mensch in seinem tiefsten Sein berührt wird und echte Verbundenheit spürt. Aus diesen Momenten leben wir und schöpfen Kraft für die schwierigen Stunden des Lebens. Zuhören und miteinander Rituale feiern sind nur zwei Beispiele in unserer Arbeit, die die Widerstandsfähigkeit – sprich die Resilienz der Inhaftierten positiv beeinflussen. Unser Fazit: Religiosität und Glaube sind wichtige Resilienzfaktoren und tragen wesentlich zur Erhaltung der Gesundheit bei.

Andreas Beerli | Stellenleiter Katholische Gefängnisseelsorge des Kantos Zürich
Impuls beim 2. Forum des Schweizerischen Kompetenzzentrum für den Justizvollzug (SKJV) am 28.11.2019 in Bern

 

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