Nach dem 2. Weltkrieg konnten Menschen, die aufgrund ihrer gegen den Nationalsozialismus gerichteten politischen Überzeugung Gewalt erfahren haben, einen Antrag auf finanzielle Entschädigung stellen. Die Rückerstattung war in den Jahren 1947 bis 1949 für das Gebiet der späteren Bundesrepublik Deutschland durch Gesetze der damaligen Militärregierungen geregelt. Einer der Anerkannten ist der Dachdecker-Hilfsarbeiter Karl Steingrube. Er wurde am 10. Juli 1904 in Schötmar (Bad Salzufeln) geboren. Im Jahr 1934 verurteilte ihn das Oberlandesgericht Hamm zu 3 Jahren Haft wegen “Vorbereitung zum Hochverrat”. Diese verbrachte Steingrube im Zuchthaus Herford sowie den Rest seiner Strafe ab 4. November 1936 bis Juni 1937 in Werl und Münster.
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Mit 18 Jahren ist Karl aufgrund von schwerem Diebstahl aufgefallen. Deshalb wurde er im Jahr 1922 für 3 Monate und das weitere Mal zu 8 Monaten durch das Schöffengericht Herford rechtmäßig verurteilt. Es folgte ein Urteil gegen Widerstand gegen die Staatsgewalt mit einer Geldstrafe von 60 Reichsmark, die er in drei Tagen Haft abgegolten hat. Das Unrecht begann im Februar 1933, als Karl Steingrube in Schutzhaft genommen und im Zelletrakt des Rathauses Herford festgehalten wird. Danach wurde er bis 20. April 1933 für die Polizeihaft ins Zuchthaus Herford eingeliefert. Dies bestätigt eine Bescheinigung vom “Vorstand des Jugendgefängnisses” am 9. August 1949. Der Grund der Inhaftierung dürfte seine Sympathie für die Arbeiterbewegung und sein Dienst als “Zeitungsträger” gewesen sein. Vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten übernahm Steingrube Kurierdienste für die Kommunistische Partei (KPD) und war deren Kassierer in Herford.
“Aufgrund eines Funkspruchs vom 28. Februar 1933 des höheren Polizeiführers im Westen, Sonderkommissar des Preußischen Innenministeriums, sind heute folgende führende Persönlichkeiten auf Grund des § 22 der Verordnung vom 4. Februar 1933 in polizeiliche Haft genommen worden”, führt die Gefangenenliste von 17 Personen im Zellentrakt Herford auf. Darauf steht Steingrube an 2. Stelle. Die “Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes” vom 4. Februar 1933 war eine strafbewehrte Notverordnung des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg aufgrund des Artikels 48 Abs. 2 der Weimarer Verfassung, mit der die verfassungsmäßigen Grundrechte der Versammlungs- und Pressefreiheit weitgehend außer Kraft gesetzt wurden. Sie diente im beginnenden Wahlkampf zur Reichstagswahl am 5. März 1933 der Bekämpfung linker Parteien und deren Personen als politische Hauptgegner der NSDAP.
Im Herforder Rathaus arbeiteten die gleichgeschaltete Verwaltung und vor allem die Polizei seit der Machtübernahme Hitlers im Januar 1933 der gewollten Ausgrenzung und Verfolgung von Minderheiten zu. Mit den Verhaftungswellen durch die Hilfspolizei und der geheimen Staatspolizei (Gestapo) Anfang 1933, wurde der Zellentrakt im Herforder Rathaus zum Dreh- und Angelpunkt. Nach der Schutzhaft-Entlassung schloss Steingrube sich trotz allem der Widerstandsbewegung an und wird erneut am 26. April 1934 inhaftiert. Das Oberlandesgericht Hamm verurteilte ihn schließlich am 9. November 1934 zu 3 Jahren Haft wegen “Vorbereitung zum Hochverrat”, die er größtenteils im Zuchthaus Herford verbringen muss.
Zuchthaus
Wie die Haftzeit im Zuchthaus Herford in den Jahren 1934 bis 4. November 1936 verlief, ist nicht bekannt. Ebenso wenig über die Haftbedingungen. Aus seiner Krankenakte geht hervor, dass er in dieser Zeit Kopfverletzungen durch stumpfe Gewalteinwirkung erlitten haben muss. Zuständig für das wieder umbenannte Zellengefängnis Herford in ein Zuchthaus war der Generalstaatsanwalt vor Ort. Der damals neue Gebäudekomplex am Stadtrand ist vom Land Preußen in den Jahren 1881 bis 1882 in Kreuzform als panoptische Bauweise errichtet und seit 1939 bis heute als Jugendgefängnis in Betrieb. Seine Reststrafe bis zum 26. Juni 1937 verbrachte Steingrube im Zuchthaus Werl und anschließend in Münster. Aufgrund seiner “Straffälligkeit” war Steingrube gemäß des damaligen § 13 des Wehrgesetzes “wehrunwürdig”. Der Ausschließungsschein wurde 3 Jahre nach seiner Entlassung wegen “Vorbereitung zum Hochverrat” am 7. Mai 1940 gefertigt. Er arbeitete nach dem Zuchthaus wieder als Dachdecker ohne abgeschlossene Lehre von 1938 bis 28. Juni 1944 im Herforder Asphaltierungs-Geschäft Heinrich Mühlenforth. Dort erhielt er nach seinen Angaben einen Wochenarbeitslohn von 40 Reichsmark. Seine Frau bezog Wohlfahrtsunterstützung von 1934 bis 1937 in Höhe von 7,50 Reichsmark wöchentlich.
Bewährungsbataillon 999
Das Wehrdienstkommando hat 1944 einen Antrag auf “Wiederverleihung der Wehrwürdigkeit” gestellt. Die Kreisleitung der NSDAP und die Kreispolizeibehörde haben sich günstig dafür ausgesprochen. So wurde Steingrube mit 40 Jahren zum “Bewährungsbataillon 999” in Baumholder/Eifel eingezogen. Solch eine “Bewährungstruppe” wurde aus Zivilisten gebildet, die als Gefängnis- oder Zuchthaushäftlinge nicht einberufen worden waren. Viele politische Häftlinge, die nach Strafverbüßung vom Zuchthaus Herford oder einer anderen Strafanstalt aus nach Hause entlassen worden waren, wurden im Laufe des Zweiten Weltkriegs – vor allem, als sich die militärische Lage des Deutschen Reiches verschlechtert hatte – zu „Bewährungseinheiten“ eingezogen.
Ihnen wurde in Aussicht gestellt, durch „vorbildlich tapferen Einsatz vor dem Feinde… den Schandfleck auf ihrer Ehre zu tilgen und dadurch wieder vollwertige Soldaten und Staatsbürger zu werden.“ Ein Drittel dieser 28.000 Soldaten bestand aus „Politischen“. Die Einheiten der 999er wurden anfangs im Frühjahr 1943 in Tunesien, Anfang 1944 kurzzeitig an der Ostfront und ab Mitte 1943 hauptsächlich als Besatzungstruppe in Griechenland sowie beim Rückzug 1944/45 auf dem Balkan gegen Partisanen eingesetzt. Einige hundert Angehörige dieser Truppe liefen zum Gegner über und leisteten Widerstand gegen die deutschen Besatzer. Viele politische Häftlinge, die nach Strafverbüßung vom Zuchthaus Herford oder einer anderen Strafanstalt aus nach Hause entlassen worden waren, wurden im Laufe des Zweiten Weltkriegs – vor allem, als sich die militärische Lage des Deutschen Reiches verschlechtert hatte – zu regulären Wehrmachtseinheiten oder zu „Bewährungseinheiten“ eingezogen.
Bemühung um Wiedergutmachung
Bis zu seiner Gefangennahme am 24. März 1945 als Kriegsgefangener gehört Karl Steingrube unfreiwillig diesem Bewährungsbataillon an. Erst am 26. April 1947 kehrt Steingrube aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Herford zu seiner Frau Lina zurück. An welchem Ort er in Gefangenschaft war, ist nicht bekannt. Im Jahr 1949 wird Steingrube die Anerkennung als politisch Verfolgter zugesprochen. Ihm wird eine 70 % Erwerbsbeschränkung zuerkannt und er genießt den Schutz als Schwerbeschädigter. Eine Bekleidungsbeihilfe für das Erholungsheim wird Steingrube allerdings nicht gewährt. “Bei der Unterredung wurde angegeben, daß er nur einen Anzug hat”, so in einem Schreiben des Gesundheitsamtes der Stadt Herford 1955. Im Bescheid des Regierungspräsidiums Detmold von 1958 kann Steingrube keinen Anspruch nach dem Bundesentschädigungsgesetz auf eine Rente anstelle der “Kapitalsentschädigung für Schaden im beruflichen Fortkommen” zuerkannt werden. Als einer der Gründe wird genannt, dass Steingrube “lediglich als Dachdecker-Hilfsarbeiter beschäftigt gewesen ist”.
Medikamente bis 1978
Eine Haftentschädigung bekam Steingrube im Jahr 1949 für 47 Monate in Höhe von 7050 DM. Die verordneten Medikamente für seine stetigen Kopfschmerzen und einer Lungenerkrankung sind im Zusammenhang mit dem Verfolgungsleiden und Heilverfahren bis 6. Juli 1978 über das Sozialamt Herford auf die immer neu zu stellenden Anträge übernommen worden. Diese belaufen sich allerdings auf Kleinstbeträge von 34 DM bis 80 DM. Wie er sein Lebensunterhalt bis zu seinem Tod bestritt ist nicht bekannt. Die Kreisverwaltung bescheinigt, dass Steingrube seit 16. März 1955 schwer krank und durch längere Arbeitslosigkeit in wirtschaftliche Notlage geraten sei. Für die britische Militärregierung konnte Steingrube anfangs mit seinen Erfahrungen tätig sein. Laut dem Geburtenregister des Standesamtes Schötmar (Bad Salzufeln) ist Karl Steingrube am 12. Juli 1978 kurz nach seinem 74. Geburtstag in Herford verstorben (Nr. 685/1978). Er hinterließ keine Kinder.
Michael King
Quellen und Literatur
- Recker, Marie-Luise: Vom Revisionismus zur Großmachtstellung. Deutsche Außenpolitik 1933 bis 1939, in: Karl Dietrich Bracher, Manfred Funke und Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.): Deutschland 1933 – 1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, 2. Auflage, Bonn 1993, S. 319
- Schätzle, Julius: Stationen zur Hölle. Konzentrationslager in Baden und Württemberg 1933 – 1945, Frankfurt/M. 1974, S. 67
- Wiedergutmachungsakte im Kommunalarchiv des Kreises Herford: KAH K KSHA 68.05
- Stadtarchiv Bad Salzuflen
1 Rückmeldung
Es freut mich sehr, dass Sie umgehend das Kreisarchiv aufgesucht haben, um die Wiedergutmachungsakte von Karl Steingrube auszuwerten. An diesem Fallbeispiel können Sie gut sehen, wie spannend, aber auch wie zeitaufwendig eine derartige Recherche sein kann. Und möglicherweise kann sie auch ergebnislos verlaufen, in dem Fall gilt dann leider: außer Spesen nichts gewesen. Forscher-Pech!
Hier einige Infos zu den Bewährungsbataillonen:
Nach dem Wehrgesetz vom 16. März 1935, mit dem unter Bruch des Versailler Friedensvertrages die allgemeine Wehrpflicht im Deutschen Reich wieder eingeführt worden war, gab es eine Gruppe deutscher Staatsbürger, die für „wehrunwürdig“ erklärt worden waren: Männer, die wegen krimineller oder politisch motivierter Straftaten zu Gefängnis- oder Zuchthausstrafen verurteilt worden waren, erhielten keinen Wehrpass, sondern einen blauen „Ausschließungsschein“ als amtliches Dokument für ihre nur „bedingte Wehrwürdigkeit“. Im Laufe des Zweiten Weltkriegs wurden jedoch auch „bedingt Wehrwürdige“ zu „Bewährungseinheiten“ oder regulären Wehrmachtseinheiten eingezogen; dies konnte noch während ihrer Haft bzw. „Schutzhaft“ geschehen oder erst Jahre nach ihrer Entlassung aus dem KZ bzw. aus einer Strafanstalt.
Viele politische Häftlinge, die nach Strafverbüßung vom Zuchthaus Herford oder einer anderen Strafanstalt aus nach Hause entlassen worden waren, wurden im Laufe des Zweiten Weltkriegs – vor allem, als sich die militärische Lage des Deutschen Reiches verschlechtert hatte – zu regulären Wehrmachtseinheiten oder zu „Bewährungseinheiten“ eingezogen. Ich habe mittlerweile eine ganze Reihe ehemaliger Herford-Häftlinge ermitteln können, die im Krieg in einem Bewährungsbataillon kämpfen mussten und teilweise dabei umgekommen sind. Vielleicht können wir ja in einer späteren Folge uns auch dieser Gruppe annehmen.