„Hier kommen Menschen zusammen, die mit Leidenschaft und in aller Unterschiedlichkeit an derselben Aufgabe arbeiten. Hier suchen Menschen unterschiedlichster Herkunft und Biografie danach, auf ihre jeweils eigene Weise dem Auftrag Jesu zu folgen: ‚Ich war im Gefängnis, und ihr habt mich besucht.‘“ So das Resümee der Gefängnisseelsorgerin Beate Josten von der JVA Remscheid nach der jüngsten Fachtagung „Kirche im Justizvollzug“, die in Wiesbaden-Naurod mit 39 TeilnehmerInnen stattfand. Siehe AndersOrt 2024 I.
Ohne eigenen Festakt, fast routiniert, so scheint es, wurde ein Modul des in der katholischen Gefängnisseelsorge fest verankerten vierjährigen Ausbildungskurses, abgearbeitet. Einem von derzeit vier Angeboten im deutschsprachigen Raum, wie sie im fast (zufällig) zeitgleich erschienenen Heft 4 von „Seelsorge & Strafvollzug“ [1] nachzusehen sind. Die Fachtagung, bis zur Einführung der an der Klinische Seelsorgeausbildung orientierten Evangelischen Weiterbildung 1992, ökumenisch organisiert und ausgerichtet, ist ein fast rein katholisches Angebot, das inzwischen nur noch von wenigen evangelischen KollegInnen angenommen wird. Ein neu etabliertes, unter katholischen KollegInnen nicht ganz unumstrittenes Ausbildungsangebot der Evangelischen Hochschule wird daran wohl nichts ändern – eher im Gegenteil. Es bleibt zu hoffen, dass die „Leidenschaft“ bleibt, und dass der enger werdende finanzielle Spielraum der Diözesen diese nicht abwürgt. Denn – so ergab eine im Frühjahr durchgeführte Umfrage – in der einen oder anderen Diözese wird nur noch eine der vier Ausbildungswochen finanziert. Umgekehrt sind die Kosten der Tagung teurer geworden – aus dem gleichen Grund, weil sich immer mehr Diözesen aus den Finanzierungen ihrer eigenen Bildungseinrichtungen herausziehen.
Anfang im Jahr 1973
Die Fachtagung – immer noch unter dem Namen „Mainzer Tagung“ bekannt – nahm ihren Anfang 1973 in Würzburg, bevor sie nach Mainz und dann aus Kostengründen 2014 nach Georgsmarienhütte und 2015 nach Wiesbaden-Naurod und ab 2025 nach Hünfeld verlegt wurde. Noch in Mainz waren immer bis zu 60 TeilnehmerInnen zu verzeichnen, inzwischen nur noch um die 40. Der Einbruch kam nach dem Weggang aus Mainz, einem mit seiner Altstadt und den typischen Weinkneipen sowie einer besseren Bahnanbindung vermutlich attraktiveren Tagungsort als Wiesbaden-Naurod, zwar direkt an der Autobahn und einer nahe gelegenen S-Bahn gelegen, ansonsten aber ein am Waldrand zum Taunus eher abgelegener Ort. Allerdings hatte auch das dortige Bildungshaus durchaus seine architektonischen Reize und Vorteile gegenüber Mainz. Wie der neue Ort Hünfeld angenommen wird, bleibt abzuwarten.
Die Anfänge der Fachtagung in Würzburg lassen sich eher durch die Festansprache zum 20-jährigen Jubiläum eines der Gründerväter, Balthasar Gareis (1929-2000), als durch Akten, die es gar nicht mehr gibt, rekonstruieren. [2] Gareis wurde 1966 Seelsorger in der Jugendstrafanstalt Erbrach in der Nähe von Bamberg – ohne jegliche Vorkenntnisse. Diese Erfahrung war entscheidend: „Ich mußte mich mit grundsätzlichen Themen auseinandersetzen, wie Schuld, Strafe. Sühne. Vergeltung, Gesprächsführung, Gottesdienstgestaltung, menschliche Begleitung und Beratung.“ [3] Bei den jährlichen Versammlungen der (damals nur männlichen) Gefängnisseelsorger entstand die Idee zu einer Ausbildung, die der damalige Vorsitzende, Pfarrer Anton Huber daraufhin initiierte. Dieser Initiative schlossen sich die evangelischen Kollegen an und fanden in Rolf Zerfaß (1934-1922 [4]) einem der bedeutendsten Pastoraltheologen nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil einen interessierten Kooperationspartner. Gareis meinte später: „Die mehr oder minder ausgesprochenen Hintergedanken dieser Einführungstagungen waren von unserer Seite: 1. eine solide theologische Ausbildung in Gefängnisseelsorge, 2. eine akademische Zusatzausbildung für qualifizierte Seelsorgearbeit, 3. ein Kurs über vier Einführungstagungen mit den Schwerpunktthemen: a) Institution Gefängnis, b) Schuld und Sühne. c) Der Gefangene und seine Probleme, d) der Seelsorger, 4. frühzeitig interessierte Kapläne und Priester für die Gefängnisseelsorge zu gewinnen, 5. nebenamtliche Geistliche für ihren Dienst zu schulen, 6. bereits Theologiestudenten und andere interessierte Studenten der verschiedensten Fachrichtungen in die seelsorgerliche Gefängnisarbeit einzuführen. (Durch die sogenannte „68er Generation“ herrschte damals ein großes Interesse an den Gefangenen und am Strafvollzug).“ [5]
Inhalte
Damit waren bereits die vier Module benannt, die bis heute die Fachtagung prägen. Das Thema „Schuld“ allerdings verschwand im Laufe der Zeit aus dem Curriculum und wurde durch das Thema „Liturgie“ ersetzt, das aber auch noch nicht so lange regelmäßiger Kursteil ist. Schaut man sich die Tagungsthemen näher an, fällt auf, dass mit 20 Tagungen die Gefängnisseelsorge bzw. die Seelsorgenden selbst das häufigste Thema waren (40,8%), was darauf schließend lässt, dass das eigene Berufs- bzw. Seelsorgeverständnis stark hinterfragt war. Wenn man die innerkirchlichen Entwicklungen nach dem Konzil beobachtet, dürfte das nicht verwundern. Ebenso wie die Vernachlässigung des Thema Schuld, das nur 2mal (4,1%) auf der Tagesordnung stand. Man tat sich mit der Thematik insgesamt schwer – möglicherweise bedingt durch die wachsende Bedeutung psychologischer Erkenntnisse und damit verbundener Verunsicherungen. Allerdings waren die Themen nicht immer eindeutig abgegrenzt und hätten teilweise auch anders systematisiert werden können. An der Tendenz insgesamt dürfte sich allerdings kaum ändern. Die Gefangenen wurden 12-mal (24,5%) das Gefängnis 8-mal (16,3%) thematisiert. In den 25 Tagungen seit 1998 wurde Liturgie 5-mal (20%) Gegenstand.
Das anfängliche Kooperation mit der Universität Würzburg geschah nicht ohne Hintergedanken, wie Gareis bei der 20-Jahrfeier sagte: „Die unausgesprochenen Hintergedanken und die Bereitschaft der Theologischen Fakultät der Universität Würzburg für diese Zusatzausbildung waren: 1. Die Exklusivität der Ausbildung in Gefängnisseelsorge dieser Uni als Zentrale dieser Ausbildung, 2. Die Attraktivität der Thematik für sozial interessierte Studenten aus der ganzen Bundesrepublik, 3. Die Qualität der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Thematik als Neuland der Pastoral.“ [6] Mit Gareis bildeten der leider zu früh verstorbene Jesuit Eugen Wiesnet (1941-1983) [7], der seit 1982 an der Hochschule der Bundeswehr in München lehrte, der evangelische Gefängnisseelsorger Peter Rassow (1928-2010), der vor allem durch seine „Bibliographie Gefängnisseelsorge“ [8] und unzählige Veröffentlichungen zur Gefängnisseelsorge [9] bekannt wurde, und die evangelische Kollegin Ellen Stubbe (1949-), die 1978 mit einer Arbeit zu „Seelsorge im Strafvollzug“ [10] promivierte und von 1997 bis 2003 an der Universität Zürich Praktische Theologie lehrte, ein Team. Den vieren ging es um mehr als einen wissenschaftlichen Anspruch. Es war den – auch innerkirchlichen – Umbrüchen der ausgehenden 1960er und beginnenden 1970er Jahren geschuldet, katholischerseits mit einem neuen pastoralen Verständnis, wie es das Zweite Vatikanische Konzil (1963-1965) und dann die Würzburger Synode (1975) formulierten, seitens der Gesellschaftlichen Umbrüche, die auch in der ersten sozialliberalen Regierung unter Willy Brand (1969-1974) und der zweiten unter Helmut Schmidt (1974-1982). In diese Zeit fiel die Strafvollzugsreform mit der Verabschiedung des Strafvollzugsgesetztes von 1977 und die Neuausrichtung auf den Resozialisierungsgedanken.
Umbrüche
Die gesellschaftlichen Umbrüche fanden auch ihren Niederschlag in der praktischen Theologie und deren Rezeption der Humanwissenschaften. Die Gefängnisseelsorge, die sich seit dem 19. Jahrhundert zu einem eher disziplinarischen Instrument des Staates entwickelte, stand vor der Herausforderung sich gewissermaßen neu zu erfinden und zu profilieren, nicht zuletzt gegenüber den stärker werdenden psychologischen und sozialen Diensten in den Gefängnissen. Wer hätte dies besser vermocht als die Kursleiterin und die drei Kursleiter. Bei der 20-Jahrfeier war die Universität Würzburg bereits ausgestiegen – „aus welchem Grund auch immer“, wie es Gareis formulierte. Der Zeitpunkt lässt sich nicht rekonstruieren, weder das Universitätsarchiv Würzburg noch das Archiv der Gefängnisseelsorge – soweit es besteht – geben darüber Auskunft. Der finanzielle Spielraum wurde jedenfalls enger, die Suche nach ReferentInnen dadurch auch schwerer. Der Blick in die Programme bzw. Tagungsberichte verrät allerdings, dass sehr viel stärker als heute auf eigenes Personal zurückgegriffen wurde. Spätestens mit Wechsel nach Mainz fielen die Studierenden und allmählich auch die SozialarbeiterInnen unter den Teilnehmenden weg und gaben der Tagung eine andere Dynamik. Diese veränderte sich noch einmal, als 1991 fand die Tagung erstmals mit Kollegen aus der ehemaligen DDR stattfand.
Im Gegensatz zu den sich an der stark KSA orientierten Angeboten der Evangelischen Seelsorge ist die Fachtagung stärker inhaltlich ausgerichtet, wenngleich immer wieder versucht wurde persönlichkeitsorientierte Workshops anzubieten. Diese berühren viel stärker die eigene Motivation und das eigene Selbstverständnis als SeelsorgerIn und können durchaus auch „unter die Haut“. Sie sind deshalb nicht eines:r jeden:r Sache. Deutlich wurde dies beispielsweise in einem Tagungsbericht von 2001 und der Antwort des damaligen Tagungsverantwortlichen, Axel Wiesbrock (siehe Dokumentation). Nun orientiert sich auch das Curriculum von 2019 an den Inhalten der KSA-Ausbildung, wenngleich in abgeschwächter Form – ausgehend davon, dass Fragen zur eigenen Motivation und Persönlichkeit in den diözesanen Ausbildungsgängen zu den einzelnen Berufsgruppen feste Bestandteile sind.
Umfrage
Die Ausbildungen sind diözesane Angelegenheiten – und dass erleichtert die Implementierung eines Curriculums, das seit 2019 mehr umfasst als die vier Module, von denen nicht einmal alle besucht werden müssen, bzw. das Interesse an oder Wissen von diesem nicht unbedingt. Auf eine Umfrage in der ersten Jahreshälfte 2024 zur Ausbildung der GefängisseelsorgerInnen antworteten von 27 Diözesen 16, das entspricht knapp 60%. Dass mit 11 der Diözesen fast ein Drittel auf die Umfrage nicht reagierten, kann bedeuten, dass sie keine Zeit hatten bzw. der Umfrage oder im schlimmsten Fall, der Ausbildung selbst nicht genügend Bedeutung zumessen. Möglicherweise sind viele Diözesen derzeit einfach mit anderen Fragen beschäftigt. Die Rücklaufquote lässt nicht unbedingt belastbare Rückschlüsse auf die Gesamtsituation zu, zumal sich das pastorale Feld Gefängnis in unterschiedlichen Diözesen schon aufgrund der Haftplätze, in einem Fall nur 80, auch als nicht vergleichbare Herausforderung und Bedeutung darstellt.
Angeschrieben wurden direkt die Diözesanverantwortlichen bzw. die Diözesanbeauftragten, soweit solche auf den Internetseiten ausgewiesen waren. In den anderen Fällen wurden direkt GefängnisseelsorgerInnen angeschrieben. Von den 16 Antworten kamen fünf von AbteilungsleiterInnen bzw. deren StellvertreterInnen, vier von den Diözesanbeauftragten (auch GefängnisseelsorgerInnen) und sieben GefägnisseelsorgerInnen. Möglicherweise lässt dies Rückschlüsse auf den Stellenwert von Gefängnisseelsorge in den einzelnen Diözesen bzw. auf den Kenntnisstand der verantwortlichen AbteilungsleiterInnen. Nun ist es in der Praxis so, dass die Verantwortung für die Gefängnisseelsorge in den einzelnen Diözesen unterschiedlich geregelt ist. Zum Teil gibt es Diözesanbeauftragte, die wiederum AnsprechpartnerInnen in den entsprechenden diözesanen Referaten haben, zum Teil gibt es hier wiederum Verantwortliche, die unterschiedlich intensiv in die Gefängnisseelsorge involviert und auch interessiert sind. Dies spiegelt sich letztlich auch in Kenntnis des und im Umgang mit dem Curriculum wider.
Fazit
Wenn die Katholische Gefängnisseelsorge in Deutschland e.V. ein Interesse daran hat, das Curriculum in den einzelnen Diözesen wirklich zu implementieren, dann wäre hier eine Vernetzung sinnvoll – trotz bestehendem Vorstand und Beirat, der die einzelnen Regionalgruppen, aber nicht die Diözesen repräsentiert. Nun sind bei den gegenwärtigen Problemen in den einzelnen Diözesen die Gefängnisseelsorge und eine qualifizierte Ausbildung für diese vermutlich kein vorrangiges Thema, sollte aber ein gleichwertiges neben anderen sein bzw. werden. Und das könnte sich sicher positiv auf die Fachtagung auswirken.
Dokumentation als Download… Zu den Ergebnissen der Umfrage…
[1] Stüfen, Frank; Kayales, Christina; Müller-Monning, Tobias (Hg.) (2023), Paradigmenwechsel in der deutschsprachigen Gefängnisseelsorgeausbildung (Seelsorge & Strafvollzug, Heft 12), Zürich: Verlag für Gefängnisseelsorge.
[2] Gareis konnte offensichtlich noch auf sie zurückgreifen: „Sehr herzlich möchte ich hier unserem Altvorsitzenden Anton Huber danken. lch habe mittlerweile die von ihm „gesammelten Werke der Konferenz“ abgeholt. Toni hatte eine „blitzsaubere“ Ordnung in den Geschäftsunterlagen, eine hervorragende Sammlung der wichtigsten Sparten und Gebiete des Strafvollzugs angelegt und eine peinlich genaue Übersicht der bisherigen Geschäftsführung hinterlassen.“ (Balthasar Gareis anlässlich seiner Übernahme des Vorsitzes der Konferenz, in: Seelsorge im Strafvollzug 1980/1, 5f).
[3] Gareis, Balthasar (1994), Erinnerungen – Analysen – Perspektiven eines Oldtimers zur Einführung und Ausbildung in „Seelsorge im Strafvollzug“, in: Seelsorge im Strafvollzug. Materialien – Fortbildungen – Erfahrungen, Bd. 11, Münzenberg: Konferenz der katholischen Seelsorge bei den Justizvollzugsanstalten in der Bundesrepublik Deutschland, 69-74, hier: 69.
[4] 1972-1999 Professor für Pastoraltheologie an der Universität Würzburg.
[5] AaO., 70.
[6] Ebd., 70f. – Gareis promovierte 1971 bei Zerfaß und lehrte ab 1975 Patoraltheologie an der Theologischen Hochschule in Fulda; einige seiner Veröffentlichungen befassten sich mit Themen der Gefängnisseelsorge: (1971), Psychagogik im Strafvollzug. Die Effektivität einer religiös-psychagogischen Beeinflussung Jugendlicher im Strafvollzug. Eine empirische Untersuchung an Jugendlichen einer bayerischen Justizvollzugsanstalt. München: Goldmann; mit Eugen Wiesnet (1973), Gefängniskarrieren. Selbstzeugnisse junger Rechtsbrecher. Innsbruck/Wien/München: Tyrolia-Verlag; als Herausgeber mit Eugen Wiesnet (1974), Hat Strafe Sinn? Aus juristischer, psychologischer, ethischer und pastoraler Sicht Stellung nehmen. Freiburg/Basel/Wien: Herder; mit Eugen Wiesnet (1975), Frühkindheit und Jugendkriminalität. Vorgeburtliche Einflüsse, Frühkindheit und Erziehungsstile, Berichte junger Strafgefangener. Mit 13 Tabellen. München Goldmann; mit Eugen Wiesnet (1976), Schuld und Gewissen bei jugendlichen Rechtsbrechern. Eine pastoraltheologische Untersuchung über Schuldfähigkeit, Gewissen und Schuldverarbeitung. Düsseldorf: Patmos-Verlag; mit Ernst Heinrich Bottenberg: Straffällige Jugendliche. Ihre psychische und soziale Situation. Düsseldorf: Verlag.
[7] Siehe auch Eugen Wiesnet (1980), Die verratene Versöhnung. Zum Verhältnis von Christentum u. Strafe, Düsseldorf: Patmos-Verlag.
[8] Rassow, Peter (1998), Bibliographie Gefängnisseelsorge. Pfaffenweiler.
[9] Siehe ebd.
[10] Stubbe, Ellen (1979), Seelsorge im Strafvollzug. Historische, psychoanalytische und theologische Ansätze einer Theoriebildung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.