In der Düsseldorfer Auslieferungshaft hat sich ein türkischer Häftling (62) erhängt. Es ist bereits der neunte Suizid in nordrhein-westfälischen Haftanstalten im Jahr 2019. Im Jahr zuvor waren es insgesamt elf, 2017 dreizehn Suizide von Inhaftierten. Jetzt soll eine neue Computersoftware Suizide in den NRW-Gefängnissen verhindern helfen. „Jeder Suizid ist eine Tragödie. Wir wollen alle Möglichkeit nutzen, Menschenleben zu retten”, sagt NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU).
Der Minister hat deshalb jetzt ein Entwicklungsprojekt in einer Software-Schmiede in Chemnitz in Auftrag gegeben. Künstliche Intelligenz soll den Justizvollzugsbeamten bei der Videoüberwachung von suizidgefährdeten Häftlingen künftig assistieren.
Videokamera löst Alarm aus
Projektleiter Kai-Uwe Kaden und Karsten Schwalbe vom Unternehmen FusionSystems GmbH, das den europaweit ausgeschriebenen Auftrag vom Justizministerium erhalten hat, erläuterten ihr 160.000 Euro teures Entwicklungsprojekt: In der sächsischen Firma, einer Unternehmensausgründung der Uni Chemnitz, soll ein Haftraum nach dem Muster der NRW-Gefängnisse aufgebaut werden. Für eine installierte Videokamera soll dann ein Programm entwickelt werden, das erkennt, wenn ein Häftling ein Messer, ein zum Strick geknotetes Seil, ein Feuerzeug oder eine Schere zur Hand nimmt oder eine andere Handlung vornimmt, die auf eine bevorstehende Selbsttötung schließen lässt. In diesem Fall springt die Videokamera an, überträgt die Szene aus der Zelle in den Überwachungsraum der JVA.
Gleichzeitig löst sie dort ein Alarmsignal aus, so dass die Vollzugsbeamten noch rechtzeitig einschreiten können, bevor der Suizid vollzogen ist. Im Grunde genommen ist die Software also eine Überwachungshilfe für die Vollzugsbeamten, die nicht ständig die Videoübertragung im Auge haben können. Akut suizid-gefährdete Häftlinge werden bislang, so erläuterte Justizminister Biesenbach, in „besonders gesicherten Hafträumen” (bgH) untergebracht. Es ist erlaubt, solche Häftlinge rund um die Uhr per Videokamera zu überwachen. „Leichte“ suizid-gefährdete Inhaftierte werden in so genannten „Schlichträumen” untergebracht. Sie müssen nicht zwingend videoüberwacht sein.
Künstliche Intelligenz statt Kontrolle
Als besonders problematisch und belastend für die Zelleninsassen gilt dabei die Praxis, alle 15 Minuten – auch nachts – nach dem Häftling zu schauen. Thomas Middelhoff beispielsweise, der Ex-Bertelsmann-Manager, der wegen Untreue eine Haftstrafe absitzen musste, wurde monatelang auf diese Weise kontrolliert. Heute ist er sich sicher, dass er sich dadurch eine unheilbare Autoimmunkrankheit zugezogen hat. Auch solche Häftlingen könnten künftig über die künstliche Intelligenz der neuen Software überwacht werden, so Biesenbach. Nach der Entwicklung der Software in Chemnitz soll sie in einem NRW-Gefängnis getestet werden. „In einem Jahr wollen wir sie einsetzen”, sagt der Justizminister. Trotz aller Präventionsbemühungen kommen Suizide unter Häftlingen immer wieder vor, nicht selten kurz vor der Entlassung eines langjährigen Gefangenen. Experten berichten außerdem, dass Selbsttötungen oft im ersten Jahr nach der Inhaftierung, beim Verlust eines nahen Angehörigen oder, wenn die Partnerin sich vom Häftling scheiden lässt, geschehen. Zuletzt hätten mehrfach Gefangene, die nur kurze Zeit in Haft sitzen, Suizid begangen. Jährlich töten sich in bundesweit zwischen 50 und 100 Häftlinge.
Lothar Schmalen | Mit freundlicher Genehmigung: Neue Westfälische
1 Rückmeldung
Ich glaube nicht, dass sich durch noch bessere Software und Kameratechnik Suizide in den Justizvollzugsanstalten verhindern lassen. Im besonders geschützten Haftraum (bgH) ist unter den Augen der Kameras unentdeckt ein jugendlicher Inhaftierter vor einigen Jahren gestorben. Es war kein Suizid, wie sich später herausstellte, aber trotz Überwachung konnte der Tod nicht verhindert werden. Viele Studien über Inhaftierte verweisen auf eine fatale Mischung aus Gefühlen von Hilflosigkeit und Angst, nicht erkennbarer Perspektive und beeinträchtigter Selbstachtung. Von daher wäre eine Investition in die Suizidprävention mit anderen Maßnahmen wie beispielsweise der Stärkung durch Gespräche und Freizeitangeboten in Haft besser, als auf die Absicherung mit technischen Mittel zu setzen. Im letzten Jahr konnte ein Suizid im Jugendvollzug nicht verhindert werden, obwohl der Gefangene alle 15 Minuten beobachtet wurde. Suizidalität ist nicht heute vorhanden und morgen bewältigt, sondern entsteht oder vergeht in einem prozesshaften Geschehen. Über längere Zeit kann man niemand mit noch so ausgeklügelter Software überwachen.