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Den inneren Abgründen stellen und sie würdigen

16. Juni 2023

Ein herausfordernden Thema: Seelsorgliche Begleitung von Menschen, die sich in unerträglichem Leid selbst das Leben nehmen wollen. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gehört es im Sinne der Autonomie eines Menschen auch zu seinen Rechten, sich selbst das Leben zu nehmen – das kann im Falle einer durch Krankheit sehr eingeschränkten Bewegungsfreiheit auch durch den so genannten assistierten Suizid geschehen. Der Bundestag will bald eine Gesetzesvorlage dazu vorlegen.

Für uns Seelsorgende gilt die Frage: dürfen, oder müssen wir sogar Menschen begleiten, die etwas tun, was unseren christlichen Wertvorstellungen widerspricht? In den Kirchen gehen die Meinungen dazu weit auseinander und erscheinen manchmal auch in sich widersprüchlich – wenn zum Beispiel gesagt wird: ich könnte nicht dabei sein, wenn jemand sich das Leben nimmt, aber wenn ich selbst unerträglich leiden würde und sterben wollte, wäre ich froh, wenn jemand bei mir ist.

Das Bild im Speisesaal der Katholischen Landvolkshochschule in Hardehausen bei Warburg erweitert den alltäglichen Horizont. Jesus wäscht jemanden die Füße und bunte Handtücher stehen bereit. Der Künstler Thomas Jessen will wahrscheinlich damit sagen, dass es weit mehr bunte Dinge im Leben gibt, als die, die wir aktuell nutzen.

Kein dogamtisches Urteilen

Wie alle anderen Menschen in pflegenden und heilenden Berufen sind auch SeelsorgerInnen in ihrem Begleiten von Menschen stets in ihrem eigenen Inneren mit angerührt. Viele Emotionen wie Angst, Wut, Trauer, Freude, Aggression, Lust und andere innere Bewegungen der Menschen, die wir begleiten, finden dabei in uns selbst eine spürbare Resonanz. In der Auseinandersetzung mit dem assistierten Suizid taucht in mir die Frage auf: in welchen Situationen deines Lebens hast du selbst schon mal daran gedacht, dir das Leben zu nehmen? Erst wenn ich mich den eigenen inneren Abgründen stelle und sie würdige, bekomme ich eine Ahnung, was die Abgründe anderer in Leid und Not bedeuten können. Dann braucht es kein dogmatisches Urteilen, sondern gelebtes Mitgefühl.

Sorge um das Widersprüchliche

Aus dem Matthäusevangelium wird erzählt, dass es Jesus, als er die vielen Menschen sah, „weh um sie (ward), weil sie geschunden waren und preisgegeben“ (wörtlich übersetzt). Diese Resonanz menschlichen Leides in seinem Herzen galt Jesus als kräftiger Beweggrund für seine versöhnende, heilende, ermutigende und befreiende Kraft. Sein Evangelium ruft zur bedingungslosen Zuwendung, wo immer Menschen geschunden und preisgegeben werden. Das darf nicht sein, denn Gott ist die Liebe. So berichtet das Matthäusevangelium, wie Jesus ihm folgende Menschen aufrief weiterzuziehen, um anderen in Leid, Krankheit und Tod nahe zu kommen in der gelebten Gewissheit: Gott ist unmittelbar da. Das Rausgehen aus dem Gesicherten und dem Wissen, worum es zu gehen hat, aus den Gewohnheiten im Denken und Handeln und aus der Geborgenheit hin zu denen, die ausgesetzt sind, ausgegrenzt und abgeschoben, ist wesentlich Nachfolge Jesu. So gehören auch jene zu den Geschundenen und Preisgegebenen, die sich in unerträglichem Leid das Leben nehmen wollen und es womöglich tun. Seelsorge bedeutet schließlich die Sorge um all das Widersprüchliche in dem einen Menschen, der so kostbar ist.

Patriachale Denkgewohnheiten

Dass das Matthäusevangelium dabei nur 12 Männern nennt, die Jesus als Apostel ausgesandt hätte, ist den patriarchalen Denkgewohnheiten der Verfasser geschuldet und hat nichts mit dem Wesen der Nachfolge Jesu zu tun. Schon Paulus durchbrach einige Jahre später diese Einteilung, indem er sich selbst Apostel nannte und auch Frauen dazu beauftragte, das Evangelium zu verkünden und Gemeinden zu leiten. Der Umstand, dass die spätere Kirche bis heute nur Männer zulässt in diesen Aufgaben, gehört endlich überwunden; keine Einteilung nach Geschlecht oder in Ämter kann der bedingungslos wirkenden Lebendigkeit Gottes Herr werden – sie geht einfach durch alle Menschen!

Christoph Kunz | Matthäus 9,36 – 10,8

 

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