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MärchenHaft: Mit Inhaftierten Märchen lesen

10. April 2020

UntersuchungsHaft, EinzelHaft, StrafHaft, FabelHaft, ZauberHaft und MärchenHaft… Märchen sind mehr als Märchen. Denn viel Wahrheit steckt in ihnen – oft etwas versteckt. Wenn Sie Freude daran haben, mit anderen Inhaftierten Märchen zu lesen und zu hören, sind Sie herzlich zu diesem Gruppenangebot eingeladen. Denn beim Lesen oder Hören von Märchen können Sie erstaunliche Entdeckungen machen. Märchen erzählen nicht irgendetwas, sondern sie erzählen Lebensgeschichten – manchmal Ihre eigene. So wurde in der niedersächsischen JVA Meppen zu einem Projekt „MärchenHaft“ eingeladen. Mit Inhaftierten sollten gemeinsam Märchen gelesen werden – zunächst mit unbeschäftigten Inhaftierten, einer bewusst kleinen Gruppe.

„Lassen sie sich von denen nur keine Märchen erzählen“, warnen Bedienstete oder, „Märchen hören wir hier genug“. Aber: „Wieso sind wir so sicher, was ‚wirklich‘ ist?“, fragt zurecht der Theologe und Autor Eugen Drewermann. Ist denn nur wirklich und wahr, was empirisch nachweisbar ist? Was wir meinen, sicher und wirklich wahrzunehmen? Zunächst aber ist jede Wahrnehmung einmal eine subjektive, die in einem kommunikativen Prozess erst zu einer objektiven Wahrnehmung wird. Von welcher Wirklichkeit oder Wahrheit sprechen eigentlich Inhaftierte?

Märchen zeigen eine tiefe Wirklichkeit dahinter. Jaguar-Zeichnungen von Anne Stickel aus Kolumbien.

Deren Wahrnehmung im Gefängnis ist natürlich eine andere als die der Bediensteten – und eine andere als der SeelsorgerInnen. Sie haben einen anderen Blick auf die Welt (des Gefängnisses) und sie haben auch andere Interessen, die diesen Blick beeinflussen. Sie haben ebenso einen anderen Blick auf ihr eigenes Leben, das sie nicht auf ihre Akte oder ihre Tat reduzieren lassen wollen. Ihre Sicht auf ihr eigenes Leben mag in vielem konstruiert sein – aber wessen Lebensgeschichte ist das denn nicht? Diese ist aber deshalb noch lange keine Lügengeschichte – ebenso wenig wie Märchen. Es sind Geschichten, die dekonstruiert werden wollen, um sich der wirklichen Geschichte zu nähern, die tiefer liegt.

Im Märchen spielen Orte („hinter den Bergen“) oder Zeiten („vor langer Zeit…“) keine Rolle, „es kommt nicht auf die äußere, sondern mehr auf die innere Geographie an“. Die Geschichten spielen sich überall und zu jeder Zeit ab, es sind (arche-) typische Geschichten, Erfahrungen, Wahrnehmungen, die sich immer wieder bewahrheiten und zu Wahrheit werden. Diese Wahrheit ist hinter der vordergründigen (vermeintlichen) Wirklichkeit zu finden, die in einem langsamen und behutsamen Prozess erschlossen werden will. Denn „hinter der Wirklichkeit lauert die Wahrheit.“ Es ist wie die Betrachtung eines Gemäldes: „Kunst reproduziert nicht, was sichtbar ist; Kunst macht sichtbar.“ (Paul Klee) Die Bedeutung der Dinge ist in der Deutung zu finden, das kann auf einer psychologischen / psychoanalytischen, aber ebenso auf einer philosophischen oder religiösen Ebene sein.

Gefangenschaft

Gefangene erleben die Haft als eine Mangelsituation. Es mangelt an allem, insbesondere an Freiheit, der Möglichkeit zur Selbstbestimmung. Allenfalls entdecken sie Nischen mit ein bisschen Freiheit. Es liegt an ihnen, den Mangel zu gestalten, Freiräume zu entdecken – auch wenn nicht vieles und schon gar nicht alles zu erreichen ist. Mangelsituationen bestimmen auch praktisch alle Märchenanfänge. Da wird eine Krise erlebt, ein Konflikt ist zu bewältigen, Not wird erlitten. Schon darin ist eine Nähe der Märchen zur Situation von Inhaftierten gegeben.

Nicht selten sind es materielle Probleme oder Konflikte im Elternhaus – Konflikte mit einem Stiefvater oder (mehr noch) mit einer Stiefmutter. Probleme, die den Inhaftierten vertraut sind, die diese möglicherweise in die Kriminalität führten. Häufig sind sie Opfer – die TäterInnen. Märchen beschreiben diese Mangelsituationen sehr einfach, wenig differenziert und reflektiert. Da gibt es gut und böse, schuldig und unschuldig – ohne Zwischentöne. Das mag zunächst naiv sein, und deshalb sind Märchen möglicherweise für Kinder geeignet, und deshalb sind sie auch für Inhaftierte geeignet, die eher auch undifferenziert und unreflektiert nicht nur ihre momentane Situation beurteilen, sondern auch so Märchen lesen und darüber sprechen.

Inhaftierte sind dreifach gefangen: in einer Justizvollzugsanstalt, in ihrer Gefangenenpersonalakte und in ihrem eigenen, inneren Gefängnis. Dieses kann aber entdeckt und aufgebrochen werden. Man muss in dieses einbrechen (das ist zweideutig: versehentlich oder bewusst) und man muss aus ihm ausbrechen (wollen). Dies kann ganz im Sinne einer „Gewissenserforschung“ sein, wie wir sie aus der Feier der Versöhnung, dem Bußsakrament kennen. Der Ausbruch oder auch Aufbruch in die Freiheit – theologisch sprechen wir von Erlösung – ist zunächst ein Einbruch nach innen. Wunderbar erzählt das die Geschichte von den zwei Mönchen, die beschlossen, den Ort zu suchen, wo sich Himmel und Erde berührten. „Schließlich fanden sie, was sie suchten. Sie klopften an die Tür. Bebenden Herzens sahen sie, wie sie sich öffnete. Und als sie eintraten, standen sie zu Hause in ihrer Klosterzelle. Da begriffen sie: Der Ort, an dem Himmel und Erde sich berühren, befindet sich auf dieser Erde, an der Stelle, die uns Gott zugewiesen hat.“

Wahre Freiheit finde ich also nicht dadurch, dass ich alles um mich herum ändern möchte, die Probleme nur bei anderen zu finden meine, sondern zuerst in mir selbst. Es geht um den „Sprung in den Brunnen“ , den Sprung in die Tiefe, „der Zugang zu einer anderen Welt eröffnet, für die Tiefe der eigenen Gefühlswelt“. Dazu wollen Märchen letztlich ermutigen. Sie „halten unsere Sehnsucht offen, sie machen uns aber auch deutlich, daß wir nicht bleiben können, wie wir sind“.

Märchen sind ein Schlüssel zum Leben

Märchen helfen so einen Zugang zum eigenen Leben zu finden. Sie vermögen das eigene Leben zu entschlüsseln, Lebenssinn zu erschließen. So ist es auch kein Zufall, dass in vielen Märchen Schlüssel eine wichtige Rolle spielen: verlorene, verborgene oder verrostete wie beispielsweise bei Dornröschen. Schlüssel spielen ja auch im Gefängnis eine Rolle und in der Heiligen Schrift: „Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben…“ (Mt 16,19). Mit Märchen lassen sich Türen öffnen, Gründe und Abgründe. Sie lassen sich therapeutisch einsetzen, sie haben einen heilenden Charakter, sie sind „Landschaften der Seele“ (Eugen Drewermann).

Den Inhaftierten wird durch die Teilnahme an der Märchengruppe die Möglichkeit gegeben, zum einen die Tür des eigenen Haftraumes oder Haftflures zu öffnen und zu durchschreiten, zum anderen die des eigenen Horizontes: „Aufschluss“ in einem doppelten Sinn mit dem Ziel, die eigenen Perspektiven, zu erweitern, das eigene Innere neu zu entdecken, verborgene Schätze zu heben, Hoffnungspotenziale zu erschließen.

Dabei kann natürlich auch Schreckliches entdeckt werden, und deshalb ist es wichtig, sich behutsam den Märchen und ihren Botschaften zu nähern und Türen gegebenenfalls nicht oder nicht zu weit zu öffnen. Die Leitung der Gruppe muss sich der eigenen Verantwortung, Kompetenzen und Grenzen bewusst zu sein. Die teilnehmenden Inhaftierten entscheiden selbst, wie weit sie sich öffnen möchten, aufgeschlossen zu werden oder eben verschlossen zu bleiben.

Helden und Heldinnen

Die Inhaftierten sind meistens nicht gewohnt, über die wesentlichen und tiefgründigen Dinge des eigenen Lebens zu sprechen. Möglicherweise haben sie Angst auf Wunden und Verletzungen zu stoßen, auf das eigene Scheitern, auf Schuld… Über das Vordergründige zu sprechen, fällt oft leichter. Und vor allem über Sensationelles, große Taten, Erfolge. Da werden auch Biographien konstruiert, die mehr den Helden oder die Heldin aufscheinen lassen als den Gescheiterten oder die Gescheiterte. Vermutlich stecken beide Typen in jedem und jeder Inhaftierten. Und wir finden auch beide Typen als die entscheidenden Gestalten in den Märchen: die Helden und Heldinnen ebenso wie die „Dummen“.

Menschen brauchen Vorbilder, Heilige, Idole und Ideale. Gerade sie, die mehr sind als ich, sind dazu angetan, die eigene Enge zu überschreiten (zu transzendieren). Darauf weist auch Otto Betz hin: „Der suchende Mensch, der sich selbst noch nicht wirklich erkannt hat, sondern tastend nach der eigenen Wirklichkeit ausschaut, begegnet im Märchenhelden einem Wesen, das zwar leiden muss und sich ängstigt, aber letztlich doch in den entscheidenden Situationen das Richtige tut, das aus einer großen inneren Sicherheit seine Entscheidungen trifft und sein Ziel erreicht. Als verunsicherte Menschen brauchen wir Gestalten, die uns voraus sind, aus einer Instinktsicherheit handeln und von verborgenen Mächten geleitet werden. Wessen Ich noch schwach ausgebildet ist, der braucht noch den positiven Impuls, um ermutigt zu werden, den eigenen Weg zu entdecken und die eigenen Kräfte zu entfalten. Der Held ist also gerade nicht der Übermensch, aber in ihm ist konzentriert der Inbegriff der Erneuerung, der Rettung und Verjüngung der Menschheit. Meist ist die Rettergestalt ja ein junger Mensch, ein Junge oder ein Mädchen, sie sind zwar noch ungereift und unerfahren, aber sie haben die Unbekümmertheit derer, die noch nicht durch Enttäuschungen gegangen sind, ihre Kraft ist nicht verausgabt.“

Die Helden und Heldinnen sind nicht nur Kinder, sondern häufig auch Verlierer oder Verliererinnen, die zu Siegern oder Siegerinnen werden. Der Held oder die Heldin ist nicht unbedingt die oder der, „der mit scharfem Intellekt und unbekümmerter Selbstsicherheit seinen eigenen Kräften vertraut, sondern eher der ‚Dummling‘, der (…) einen unverstellten Blick hat, …“ Und das macht sie interessant für Inhaftierte, die trotz aller erzählten (konstruierten) Großtaten, doch zumeist eher auf der Verliererseite unserer Gesellschaft groß geworden sind.

„Diebe, Dummlinge, Faulpelze“ werden zu sympathischen Helden, zu Identifikationsfiguren: Der „scheinbar Dumme[n], der von anderen verachtet wird und erst allmählich anerkannt wird, weil er Gaben hat, die man zunächst einmal gar nicht wahrnehmen konnte“. Ihre Geschichten können zum Schlüssel werden, das „Heldenhafte“ in sich selbst zu entdecken. Für Inhaftierte, die eher über ihre Un-Taten, ihr Defizitäres (in der Gefangenenpersonalakte) definiert werden als über das, was an Fähigkeiten und Gutem in ihnen steckt, ist das tröstlich, ermutigend und kann helfen, die eigene zerbrochene Persönlichkeit zu stärken. „Heilende Märchen“ sind „Geschichten, die Kinder stark machen“ – und Erwachsene ebenso. Märchen helfen, Selbstbewusstsein zu fördern, Stärken zu entdecken und vor allem auch einen Blick in die Zukunft zu öffnen.

Aber: Der oder die Gefangene muss wie der Held oder die Heldin „aus seinem bisherigen Gehäuse ausziehen und muss die Sicherheit zurücklassen“ – nicht anders als das Volk Israel, das auf dem Weg in die Freiheit die Sicherheiten Ägyptens (die Fleischtöpfe) hinter sich lassen und sich der Gefahren des Durchzuges durch das Rote Meer und der Wüste aussetzen lassen musste. Nicht selten verlangen die Initiationsriten archaischer Völker die Aufnahme solcher Gefahren und selbst in der christlichen Taufe klingt solches noch im Gebet der Taufwasserweihe nach, wo sowohl an die Sintflut als auch an den Durchzug durch das Rote Meer erinnert wird.

Auf diesem Weg vollzieht sich der Prozess des Erwachsenwerdens und der Reifung. Die Botschaft der Märchen heißt, „resigniere nicht gegenüber den zugesperrten Türen. Geh auf die Suche, bis du eine Lücke im Dickicht findest, bis du einen Helfer entdeckst, der dir den Zugang zum anderen Bereich vermittelt, der dir einen Weg ins Geheimnishafte weist. Bleib nicht in der Stummheit und Blindheit stecken“. Denen, die sich nur um sich selbst drehen (und sich somit ihr eigenes Gefängnis um sich herum bauen), wird sich ein solcher Weg nicht erschließen; denen, die sich öffnen und sich von „Sinnerfahrungen“ treffen lassen, „wer sich auf den Weg macht und offene Augen und Ohren hat, dem erschließen sich Dinge und Geheimnisse von ihrer Innenseite“. Text mit Anmerkungen und Literaturhinweisen…

Simeon Reininger, JVA Meppen | Zeichnungen: Anne Stickel

Hinweise zur Arbeit mit Märchen

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Märchen mit Inhaftierten zu lesen, deren Botschaft zu entschlüsseln und einen Transfer in die Gegenwart und in die Erfahrungswelt der Inhaftierten vorzunehmen. Grundsätzlich eignen sich alle Methoden, wie sie auch zur Erschließung biblischer Texte angewandt werden. Hier eine kurze Auswahl.

  • W-Fragen: Gemeinsam wird erarbeitet und auf Karten geschrieben, wer kommt in dem Märchen vor, was geschieht, wo, wie, wann, warum?
  • Orte der Handlung, Gegenstände, Zahlen sind meist Symbole, die gedeutet werden können.
  • Die Inhaftierten können sich mit bestimmten Figuren identifizieren, sich in deren Rollen hineinversetzen. Sie können versuchen, die Geschichte aus deren Sicht zu erzählen.
  • Es lässt sich möglicherweise auch eine Gerichtsverhandlung mit verteilten Rollen spielen: Richter/in, Staatsanwalt/anwältin, Verteidiger/in, Angeklagte/r, Zeuge/Zeugin.
  • Häufig geht es um Schätze, die zu der Frage führen, welches denn meine Schätze sind, meine (Lebens-) Werte. Diese lassen sich auf Karten notieren. Mit diesen lässt sich eine Skala entwickeln, im besten Fall eine gemeinsame, auf die sich alle verständigen.

    • Lautes Denken. Leseverstehen leicht gemacht. 1. Vorhersagen (z.B. Überschrift, Textaufbau, neuer Absatz, etc.: „Ich glaube im folgenden Text/Absatz geht es um…“, „Ich wette, das wird sich im nächsten Absatz klären“), 2. Bilder im Kopf entwickeln („Ich stelle mir den … wie … vor.“ „Ich kann bildlich vor mir sehen, wie …“), 3. Verbindungen zu Bekanntem herstellen („Das erinnert mich an…“ „Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass …“), 4. Ein Problem erkennen („Ich wundere mich, dass …“ „Ich habe nicht verstanden, wie …“), 5. Probleme lösen („Ich lese den Abschnitt noch einmal, um zu verstehen.“ „Ich fasse das in eigenen Worten zusammen.“ „Ich schaue/frage einmal nach.“ „Jetzt verstehe ich, warum …“).
    • Märchen teilen in sieben Schritten – analog zum Bibel teilen. (Setzt allerdings Lesekompetenz bei den Inhaftierten voraus, die Inhaftierten müssten das Märchen mitlesen können, weshalb sich die Methode nur für sehr kurze Märchen eignet.)
    • Aufstellung: Szenen oder Konstellationen, Beziehungen von Akteuren und Akteurinnen können gestellt werden (vgl. auch Psychodrama, Bibliodrama). Eine Variante dazu ist „Doppeln“. (Setzt entsprechende Erfahrungen und Kompetenzen beim Leiter oder der Leiterin der Gruppe voraus.)

 

1 Rückmeldung

  1. Uwe Liermann sagt:

    Liebe VerfasserInnen,

    durch Zufall bin ich auf Ihren wundervollen Beitrag gestoßen; ich suchte etwas zum Thema „Stummheit und Märchen“ und freue mich, Ihre Zeilen gefunden zu haben. Gerade dachte ich, wie schade, dass die Grimmschen Märchen z.B. in Kindergärten oft kaum noch eine Rolle spielen, oder doch wenig von den ErzieherInnen ernst genommen werden. Es ist eine wunderbare Idee den Weggeschlossenen die Welt der Märchen, die Innenwelt zu, zu öffnen!

    Ich habe als Kunsttherapeut mein ganzes Leben mit Menschen mit Behinderung in Schulen und Erwachseneneinrichtungen gearbeitet und erfahren, wie Angebote zur Selbstwirksamkeit und -Akzeptanz und absichtsloses, freies Betätigen in einem wertschätzenden, freilassenden Umfeld viel Gutes bewirken kann. Herzlichen Dank und Gottes Segen für Ihre wundervolle Arbeit!

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