Der ehemalige Gefängnisseelsorger in der JVA Lenzkirch im Kanton Aargau, Fred Grob, protokolliert das Gehörte bei der 70. internationalen Alpenländertagung mit Cartoons und Schlag-Wörtern. Eigentlich passt das humorvolle „Mitschreiben“ nicht so recht zum Thema von Macht und Machtstrukturen im Justizvollzug. Rund 60 GefängnisseelsorgerInnen aus Österreich und Bayern sowie der deutschen und französischen Schweiz kommen im Dominikanerinnen-Kloster St. Bethanien zusammen, um sich darüber auszutauschen.

Von links nach rechts: Andreas Beerli, Gefängnisseelsorger in Zürich, Alfredo Diez, Präsident des Vereines, Bischof von Chur Joseph Maria Bonnemain, Catherine Berger, Vizepräsidentin der EKS, Alois Vogler Präsident des Kirchengemeindeverbandes Obwalden, Mario Kunz aus Bayern sowie Markus Fellinger als evangelischer Gefängnisseelsorger aus Österreich.

Im Gespräch mit Natalie Dorn, Direktorin der Untersuchungsgefängnisse in Zürich.

Dr. iur. can. Stefan Loppacher, Leiter der Dienststelle Missbrauch im kirchlichen Kontext in der Schweiz, ist zugleich Co-Leiter der Fachstelle „MachtRaum“.
Es sind evangelisch-reformierte und katholische sowie ein muslimischer Gefängnisseelsorger. Mit dabei sind MitarbeiterInnen der schweizerischen Heilsarmee. Sie alle treffen sich im Gästehaus der Dominikanerinnen von Bethanien und der Gemeinschaft Chemin Neuf, das sich in 20-minütiger Gehentfernung zum Flüeli-Ranft, dem Wirkungsort des heiligen Bruder Klaus, befindet. Organisiert wird die seit den 50er Jahren stattfindenden Alpenländertagung zum Jubiläum durch den Schweizerischen Verein für Gefängnisseelsorge.
Zum Auftakt der viertägigen Zusammenkunft gibt es Grußworte und Musik mit Cello und Handharmonika. Der aus dem Kanton Obwalden zuständige Präsident des Kirchengemeindeverbandes, Alois Vogler, zeigt den touristischen Werbefilm in örtlicher Mundart. Der seit 2021 amtierende Churer katholische Bischof, Joseph Maria Bonnemain, kennt die „Spezialseelsorge“ aus dem Spital und damit auch die der Gefängnisseelsorge. Catherine Berger, Juristin und Vizepräsidentin der evangelisch-reformierten Kirche in der Schweiz (EKS), fragt in ihrem Grußwort explizit nach einem möglichen spirituellen Machtmissbrauch. Mario Kunz, Vorsitzender der katholischen Gefängnisseelsorge in Bayern, verweist auf den Bruder Klaus, der Vorbild für den absoluten Machtverzicht im Heute sein kann.
Macht und Ohnmacht
Nicht nur der Gefängnisseelsorge im System Justizvollzug begegnet das Thema im Alltag. Bei Straftaten spielen Macht- und Ohnmachtserfahrungen für TäterInnen und Geschädigte ebenso eine Rolle. Prof. Dr. Reinhard Haller, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie Gerichtsgutachter aus Feldkirch meint, dass Kränkungen eine Vorstufe für „das Böse“ sind: „Beziehungstaten wie Frauenmorde sind oft Kränkungsdelikte, da geht es nicht immer um die großen Dinge wie Seitensprünge – sondern um die kleinen Stiche, die in ihrer Summe eine gewaltige Wirkung entfalten können“, so der Psychotherapeut.
Was Macht- und Ohnmachtsgefühle für den Justizvollzug heißen kann, erläutert die Direktorin der Untersuchungsgefängnisse in Zürich, Nathalie Dorn. Den Sketch von Loriot mit dem Gespräch eines Ehepaares, ob das Ei denn nun jetzt zu hart oder zu weich sein, ist für sie ein Sinnbild, wie im Justizvollzug Missverständnisse beim Justizpersonal und den Inhaftierten entstehen können. „Es ist wichtig sich über die eigene Macht und über die Ohnmacht bewusst zu sein und den Umgang damit zu reflektieren“, sagt die Sozialarbeiterin. Die Seelsorge sei ein machtfreier Raum, der unabhängig von der Hierarchie und Kontrolle sei.
Nicht bei Ohnmacht stehen bleiben
Dorn stellt das Projekt „Prisma“ vor. Es ist eine Möglichkeit Ohnmachtsgefühlen entgegenzuwirken. Dabei haben einige Untersuchungshäftlinge die Möglichkeit freiwillig online mit einem Coach von außerhalb zu sprechen. Das Programm zur Problem- und Stressbewältigung soll die psychische Situation von inhaftierten Personen in der Untersuchungshaft stärken. Speziell ausgebildete Trainerinnen und Trainer schulen inhaftierte Personen in ihrer jeweiligen Muttersprache mit Übungen und Inputs. „Ob es denn damit getan sei?“, fragt ein Teilnehmer die Referentin. Sicher nicht alleine, aber man wolle den Justizvollzug weiter entwickeln und Stress abbauen. Dass es im Vollzug subkulturelle Tätigkeiten gebe und dies ebenso Macht bei den Gefangenen untereinander ausübe, wisse man sehr gut.
Die Sozialarbeiterin, Ivana Mehr, stellt das Projekt für „infoBUS“ für Angehörige von Inhaftierten vor. Mit einem Bulli stehen sie vor dem Untersuchungshaftgefängnis in Zürich. Dort können BesucherInnen des Gefängnisses mit ehrenamtlichen MitarbeiterInnen Gespräche führen. Seit April 2023 ist dies ein Pilotprokelt, das in der interreligiösen Gefängnisseelsorge und der Beratungsstelle ExtraMural eingebettet ist. „Manches Mal bekommen wir die Nöte Angehöriger deutlich zu spüren. Die Polizei hat beispielsweise die Wohnung des Tatverdächtigen durchsucht. Die Familie ist da mit betroffen“, erzählt Mehr. Die unterschwelligen Gespräche können einiges auffangen und wird von der Justiz gefördert.
Macht-Missbrauch in den eigenen Reihen
Als GefängnisseelsorgerIn sich um seiner eigenen Macht bewusst sein ist das eine. Das andere ist, dass kirchliche MitarbeiterInnen ihre Macht missbrauchten. Dr. iur. can. Stefan Loppacher, Leiter der Dienststelle Missbrauch im kirchlichen Kontext in der Schweiz, ist zugleich Co-Leiter der Fachstelle „MachtRaum“, macht dies am Beispiel der Katholischen Kirche deutlich. „Verantwortliche der Kirche haben bis in die jüngste Zeit sexuellen Missbrauch in den meisten Fällen ignoriert, verschwiegen oder bagatellisiert. Wenn sie zum Handeln gezwungen waren, taten sie dies häufig nicht mit Blick auf die Betroffenen, sondern zum Schutz der TäterInnen und der Institution“, sagt klar der Kirchenrechtler. Es gäbe auch in anderen Bereichen Vorwürfe von Grenzverletzungen gegenüber der sexuellen Selbstbestimmtheit, so Lappacher. Doch der „Tunnelblick“ kirchlicher Sexualmoral begünstigen in der Katholischen Kirche die Tatsache, dass es Machtmissbrauch gab und immer noch gibt. Marginale Korrekturen und präventive Schulungen der MitarbeiterInnen genügen nicht. Die strukturell fest verankerte Verfasstheit wie die des klerikalen Amtsverständnisses und das hochgehaltene „Idealbild des keuschen Mannes als Priester ohne sexuelle Erfahrung“ sind Faktoren. Die Gefahren von Missbrauch sind allerdings multikausal und nicht alleine auf das Zölibat zurückzuführen.
Lappacher betont gleichfalls die Gefahr des spirituellen Missbrauchs in der geistlich-seelsorgerlichen Begleitung von Menschen. „Wenn man in seiner Seelsorge ausschließlich auf eine Form der Spiritualität fokussiert ist, ist das eine Vernachlässigung anderer Formen und führt zu einer Verengung. Wenn das, was der Seelsorgende sagt, als „gottgewollt“ dargestellt wird, ist das eine Anmaßung“, führt Lappacher aus. Dies könne im dritten Schritt in Gewalt enden, die subtil daherkommt. Merkmale von sektiererischen Tendenzen sind beispielsweise die hierarchische Struktur, ein Absolutheitsanspruch und gewisse Heilsversprechen. Die Klarheit, mit der der Referent spricht, bewirkt, dass die TeilnehmerInnen in Diskussion kommen. „Genau das sollte geschehen, dass wir Missbrauchsgefahren debattieren und nicht in eine „Null-Toleranz-Politik“ verfallen“, meint der in der katholischen Kirche Tätige. „Es braucht eine pädagogische Ethik, die sogenannte In-House-Lösungen unmöglich machen“, schließt der Referent seinen Vortrag.
JVA Grosshof
Im Rahmen der Alpenländertagung besucht eine Gruppe von Teilnehmenden die Justizvollzugsanstalt Grosshof in Luzern-Kriens. Das Gefängnis mit derzeit etwa 120 Inhaftierten ging im Jahr 1998 ans Netz. Die JVA dient dem Vollzug von strafprozessualer Haft (Untersuchungs- und Sicherheitshaft) und dem Vollzug von Freiheitsstrafen für Männer und Frauen im geschlossenen Vollzug. Das moderne Gefängnis ist mit Glasbausteinen und Beton im Sommer sehr heiß. Die Gruppe wird nach den üblichen Sicherheitschecks in die Wohngruppe der Frauen sowie einer Abteilung für Männer mit einer größeren Behandlungsdichte geführt. Der Spazierhof des geschützten Arrestbereiches mit bunten Zeichnungen eines Kolibri und Schmetterlings, aber mit vergittertem Himmelblick, zeigt den internationalen VollzugsbesucherInnen nochmals deutlich, was „Knast“ heißt. In einem leeren Arbeitsbereich ohne Inhaftierten zeigt ein Mitarbeiter, wie dort Schleifelemente in detaillierter Kleinarbeit für ein Unternehmen hergestellt werden. Die schmale Sicht auf den Berg des Pilatus durch das Arrestfenster täuscht nicht darüber hinweg, dass die Welt innerhalb des geschlossenen Systems eine andere ist.
Michael King
2 Rückmeldungen
Genau das, was Prof. Loppacher in seinem Vortrag beschrieben hat, existiert real: die Gefahr des Machtmissbrauchs als Gefängnisseelsorgende. Doch auch die staatlich Verantwortlichen der „totale Institution“ (Erving Goffman) eines Gefängnisses haben unter Umständen die Tendenz, so wie es die kath. Kirche über Jahrhunderte machte, dass das, was man sich nicht vorstellen will, dass es möglich ist, zu verleugnen oder zu verharmlosen.
Gefängnisseelsorgende können inhaftierte Menschen von sich radikal abhängig machen und diese Machtposition zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse ausnutzen. Wer weg schaut, wird zu Mitwisser*in oder Mittäter*in. Wer sich selbst als Gefängnisseelsorger*in und diese Gefahr nicht reflektiert kann Täter*in werden. Allein das Wissen um das in der Psychotherapie „Übertragung und Gegenübertragung“ bezeichnete Phänomen oder das Wissen um die Idealisierung im Selbst-und Fremdbild von „Geistlichen“ sind markante Reflexionsgrundlagen für die Arbeit im Abhängigkeitsverhältnissen von inhaftierten Menschen gegenüber Gefängnisseelsorgenden.
Auf domradio.de lese ich einen offiziellen Presseartikel (KNA) eines tschechischen Bischofs, der fortschrittlich sagt, er hebe die Sonntag-Pflicht des Besuches der sonntäglichen Eucharistiefeier auf. „Ich habe kein Personal mehr“, sagt der Würdenträger. Was so schön daherkommt, erschreckt mich zutiefst. Nicht in der Richtung, dass es keine Priester mehr zu geben scheint, sondern in der Überzeugung dieser Haltung. In welchem Jahrhundert lebt dieser Bischof, der den Menschen vorschreibt, am Sonntag die Heilige Messe pflichtbewusst zu „besuchen“? Man könne noch ausweichen auf eine Vorabend-Messe… Danke sehr, „Herr“ Bischof! Wie schön, dass es keine Amtsträger zu geben scheint, der dieses Ritual offiziell durchführen darf.
Ich kann die katholische Messe nicht mehr mitfeiern angesichts des sexuellen und spirituellen Missbrauchs durch keusch-lebende Kleriker. Das ist scheinheilig-göttlich. Das formalistische Vorschreiben ist weder jesuanisch noch hat es in der heutigen Zeit Auswirkungen. Es lässt sich niemand mehr mit gesunden Menschenverstand vorschreiben, was zu tun und zu lassen ist. Allerdings gibt es Menschen, die anfällig sind für diese Art von Spiritualität und Abhängigkeit einer frommen Heiligkeit. Das sehe ich als geistlichen Missbrauch an, in dem diese Pflicht direkt von Gott, wer immer das sein mag, hergeleitet wird.
Ich ertappe mich dabei solche Meldungen überhaupt zu lesen. Ich frage mich, warum ich mich eigentlich noch aufrege? Sollen sie (die erzkonservativen Kleriker und Fundamentalisten) doch machen, was sie wollen. Sollen Sie vorschreiben und den angeblichen Standpunkt und den „Willen“ der Göttlichkeit einnehmen. Es gibt keine Mehrheits-Resonanz darauf. Die angeblichen Machtstrukturen und die „Dispens“ davon greift im Heute nicht mehr. Die Haltung, die Wahrheit zu besitzen, widerspricht den zig Missbrauchsfällen innerhalb der katechismus-glaubenden Kirche. Gott sei Dank fühlt sich niemand davon angesprochen. Da kann der neue Papst Leo so lange winken, wie er will. Er nimmt keinen (anderen) klaren, sondern pseudo-neutralen Standpunkt ein. Das ist in der Politik nicht anders. Zu groß ist die Gefahr, dass sich die Katholische Kirche spaltet. Sie ist allerdings schon längst gespalten. Die Neokatechumenalen Gruppierungen freuen sich.
Ich mache mir noch die Mühe, einen Kommentar dazu zu schreiben! Ich vermute mal, die meisten LeserInnen, so es davon überhaupt welche gibt, finden es zu lächerlich, dazu etwas zu kommentieren.