Kirchen und Andachtsräume sind immer kontextuell. Sie stehen in Bezug zu einer Stadt oder zu einem Ort und sie sind ein Spiegel ihrer Zeit und deren Themen und Fragen. Diese Kontextspezifität gewinnt im Strafvollzug besondere Prägnanz. Kirchen und Andachtsräume sind gewissermaßen ein Tor zur Freiheit, während der Strafvollzug für Unfreiheit steht. Der Andachtsraum ist ein hybrider Raum. Einerseits Teil der Anstaltsarchitektur, andererseits Raum religiöser Praxis. Der Andachtsraum ist eine Heterotopie zweiter Ordnung.
Man könnte mit Michel Foucault sagen, es handelt sich bei der Kirche im Gefängnis um eine Heterotopie zweiter Ordnung, um eine Gegenwelt in einer Gegenwelt, um einen Ort religiöser Freiheit an einem Ort des weitgehenden Freiheitsentzuges. Wir erfahren etwas über religiöse Praxis, wenn wir auf Räume und Materialitäten blicken. Die besondere Spannung zwischen Andachtsraum und JVA wird insbesondere deutlich im Hinblick auf die spezifische Organisation von formeller und informeller Nutzung. Man kann nicht über das Gefängnis nachdenken ohne über Raum nachzudenken. Wesentlich sind diese Räume konstituiert durch die gesellschaftlichen Diskurse über Kriminalität. Gefängnisse sind räumlicher Ausdruck dessen, was eine Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit über Kriminalität denkt. Die Diskurse bilden systematisch die Gegenstände ab, von denen sie sprechen. Gefängnisbauten sind sinnliche Manifestation geistiger Ideen. An den Architekturen lässt sich die Vorstellung vom produktiven Umgang mit Delinquenz zu einer bestimmten Zeit ablesen. Sie hat eine symbolische Funktion. Der Strafvollzug als öffentliche Inszenierung von Recht, deren Medium die Architektur ist. Die Gefängnisfassade wird zum Verdichtungssymbol, insofern sie zum Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Gestimmtheiten (Sicherheitsbedürfnisse etc.) wird.
Knastkirchen und liturgische Räume in Justizvollzugsanstalten der Länder
Ein sozial produzierter Raum
Der Gefängnisraum ist nicht nur eine architektonische Hülle, sondern wird konstituiert durch zwischenmenschliche Beziehungen der handelnden AkteurInnen. Soziale Raumproduktion wird konfiguriert durch die sozialen Dynamiken des Gefängnisses im Sinne einer Totalen Institution (Goffman). Das besondere Spezifikum ist: Totalität der Rollen und fehlende Möglichkeit von Rollendistanz. Der Raum hat im Gefängnis eine machtproduktive Kraft und dient dabei wesentlich der Steuerung von Individuen. Er ist strukturiert in verbotene und kontrollierte Räume Raum und Freiräumen. Hier sucht sich vor allem die fehlende Möglichkeit von Rollendistanzierung ihre Räume). Es entstehen versteckte sowie institutionalisierte Räume der Widerstandkultur. Mit dem Gottesdienstraum als institutionalisiertem Raum der Widerstandkultur integriert die Totale Institution ihr ausgeschlossenes Anderes, weil sie sonst an ihrer eigenen Hermetik zugrunde gehen würde.
Der Andachtsraum als Hinterbühne
Der Begriff der „Hinterbühne“ stammt aus der Interaktionstheorie des Soziologen Erving Goffman und findet sich in seinem Buch „Wir alle spielen Theater“. Hinterbühnen sind Orte, die, wie der Name schon sagt, als Hinterbühne für eine jeweilige Vorderbühne der Interaktion fungieren. Goffmans plastisches Beispiel ist dabei der Hinterraum eines Restaurants. Wenn der Kellner im Restaurant (Hauptbühne) Gäste bewirtet lächelt er, spielt gleichsam seine Rolle. Wenn er allerdings die Tür passiert raus aus dem Gästeraum in den Bereich, den nur das Personal begehen darf, fällt diese Rolle für einen Moment von ihm ab. Hinterbühnen sind in diesem Sinne Orte, die wir brauchen zur temporären Rollendistanz. Mir scheint das eben ein ganz interessantes Theorem zu sein, um das spannungsvolle Verhältnis zwischen dem Raum des Gefängnisses und dem Andachtsraum zu beschreiben. Hier findet eine flüchtige Unterbrechung der hermetischen Interaktionsordnung der Totalen Institution statt, eine temporäre Rollendistanzierung.
Gleichwohl gibt es auch eine Spannung zwischen der Situation im Strafvollzug und dem Gedanken der Hinterbühne. Denn in gewisser Weise bleiben die Interaktionsordnungen der Totalen Institution (bspw. durch das Gegenüber von Bediensteten und Inhaftierten) ebenso präsent im Andachtsraum. Für eine gewisse Zeit überlagern sich hybride Interaktionsordnungen. Zudem hat der Andachtsraum ja selbst eigene Interaktionsordnungen und Rollen im liturgischen Vollzug. Man könnte sagen, für den Moment des Gottesdienstes kehrt sich die Logik um und der Andachtsraum wird gleichsam zur Hauptbühne. Der Andachtsraum ist die räumliche Materialisierung religiöser Praxis am Ort des Strafvollzuges. Der Andachtsraum ist in das komplexe Setting räumlich codierter Machtstrukturen der Totalen Institution verwoben. Er ist der Ort ständiger Aushandlungsprozesse von Freiheit im Strafvollzug. Der Raum rückt in der Gefängnisseelsorge in den Fokus, weil hier Leiblichkeit von besonderer Relevanz ist. Er wird in der Gefängnisseelsorge relevant als ästhetisch erfahrbarer Raum, als Körperraum und als sozial produzierter Raum.
Die unterschiedlichen Räume wirken durch ihre spezifische Atmosphäre und die je besonderen Kommunikationsbedingungen, die sie bieten, auf die Seelsorgebegegnung ein. Nicht alles ist überall möglich. Räume haben ihre Chancen und setzen anderem Grenzen. Zugleich verändern sich Räume auch selbst durch die seelsorgerliche Kommunikation. Die intensive Begegnung von Menschen schafft einen Interaktionsraum, einen Zwischenraum, in dem anderes geschieht, als wenn jeder und jede für sich bliebe. Den Raum vor einem Gespräch nehme ich anders wahr als den Raum nach einem Gespräch. Auch das Empfinden des Körperraums kann sich in der Seelsorge verwandeln. Durch die Expression von Gefühlen, die man lange in sich eingeschlossen hat, öffnet sich Raum zum Atmen. Indem Ängste auftauchen, wird auch das Körperempfinden eng, wenn die Angst kleiner wird, entsteht seelische Weite, ein Spielraum, in dem Neues werden kann. Verschiebungen in Beziehungskonstellationen, wie sie nicht selten durch ein Seelsorgegespräch ausgelöst werden, verändern soziale Räume. Die Verhältnisse zwischen Menschen ändern sich.
Ein phänomenologischer Blick
Der Besuch eines Knastgottesdienstes beginnt mit Gang zur Anstaltskirche bzw. zum Andachtsraum. In der konkreten Situation des Gottesdienstes, in der Beamter, GottesdienstleiterIn und Inhaftierter im Feiern, Beten, Hören und Singen verbunden sind, vollzieht sich etwas von dem, was im alltäglichen Umgang nur abstrakte Forderung ist: dem Gefangenen – und dem Bediensteten – wird zugemutet, sich auf eine Form des Miteinanders einzulassen, die die Teilnehmer nun gerade nicht mit ihren Verfehlungen, mit ihrer Asozialität behaftet – und sie damit auf Vergangenes festlegt -, sondern ihnen Neues zutraut, ja schon Neues einzuüben versucht, nämlich die Freiheit. Wie und ob sich diese Sozialgestalt niederschlägt, hängt an der Ordnung. Stehen Bedienstete seitlich beobachtend an der Wand oder sitzen sie mit in den Bänken? Ist es eine offene Form im Stuhlkreis oder einer Elipse?
Bänke beispielsweise ordnen und regulieren, wo durch eine diffuse Masse von Menschen Chaos drohen könnte. Sie zwingen zur Ausrichtung. Sie erlauben halbwegs entspannte Formen des Zuhörens und Schauens in Bezug auf Präsentationen aller Art. Sie regulieren den Empfang und domestizieren Initiative. Das kann der Konzentration auf ein Sicherheitsbedürfnis dienen. Gläubige und Neugierige können auf Zeit in Bänken wohnen wie in Glaubensboxen. Man wird abgelenkt vom Streunen und “ins Sitzen gewiesen”. Auf der anderen Seite kann eine Nebenwelt entstehen, wenn das feiern frontal gestaltet wird. Der Andachtsraum ist räumliche Manifestation einer Sozialgestalt, die auf Egalität hin angelegt ist inmitten der Machtstrukturen der Totalen Institution. Er ist so die materialisierte Form einer Widerstandskultur im Sinne einer Hinterbühne.
Katharina Scholl | Repetentin der Hessischen Stipendienanstalt in Marburg
1 Rückmeldung
Die besondere Monstranz… die Symbole unterschiedlicher Religionen… ein super Beispiel, wie religiöse Vielfalt nebeneinander zum Miteinander werden könnte, auch außerhalb des Knastes!