Der Bewohner Mario, Anna und die Sportjournalistin Tabitha machen sich auf den Laufweg.
Der Jugendstrafvollzug ist in den Medien oft kein Thema. Nur wenn sich ein außergewöhnliches Geschehnis im Jugendknast ereignet, berichten Medien ausführlich. Einzelne Straftaten von jugendlichen Tätern erregen große Aufmerksamkeit. Interviewanfragen bei der JVA-Leitung nehmen in solch einem Fall zu. Anders ist dies bei der Reportage, die im “Running-Magazin” veröffentlicht wurde. Die Sportjournalistin, Tabitha Bühne, schreibt über den 21-jährigen Mario, der im alternativen Strafvollzug im Seehaus bei Leipzig in ein neues Leben “rennt”. Sport als Zugang, um Strafvollzug ins Gespräch zu bringen und mögliche Wege zur Resozialisierung aufzuzeigen.
Wenn er läuft, fühlt er sich frei. Das war nicht immer so. Früher ist Mario höchstens gerannt, wenn er spät dran war. Laufen gehörte nicht zu seinem Leben, das früh auf eine schiefe Bahn geriet. Schon in der zweiten Klasse wird Mario auffällig, schwänzt immer wieder die Schule. Sein Elternhaus ist zerrüttet, die Mutter kümmert sich nicht um ihn, hat mit sich selbst bereits genug Probleme. Mit acht Jahren zieht Mario zu seinem Vater, einem Polizisten. Auch der hat kaum Zeit, arbeitet viel und ist selten zu Hause. Mario landet im Internat. Mit 14 Jahren wird er alkoholabhängig, bald greift er regelmäßig zu Cannabis, was ihm irgendwann auch nicht mehr reicht. Kurz vor seinem 21. Lebensjahr, kommt es zu der Tat, die ihn hinter Gitter bringt: ein bewaffneter Raubüberfall. […]
Anna ist 35 Jahre alt, Mutter von zwei Töchtern und arbeitet als Krankenschwester in der Dialyse. Sie hat das Seehaus durch eine Lesung und das Adventscafé kennengelernt. „Anfänglich war mir der Gedanke sehr befremdlich, junge straffällig gewordene Männer in den Kreis der Familie aufzunehmen. Mittlerweile bin ich fest davon überzeugt, dass nur das zur Resozialisierung beitragen kann.“ Marios Art und sein Ehrgeiz, einen Halbmarathon absolvieren zu wollen, hat sie begeistert. Deshalb hat sie sich auch bereit erklärt, ihn auf diesem Weg zu begleiten „Er wird das meistern. Das Joggen ist ein guter Ausgleich. Und die Glückshormone nach einem guten Lauf sind ja auch ein deutlich besserer Ersatz für die Drogen!“ Sie selbst ist in einer sportlichen und naturverbundenen Familie aufgewachsen und könnte sich ein Leben ohne Laufen gar nicht mehr vorstellen: „Es ist die schönste Zeit für mich zum Auftanken. Ich genieße jeden Kilometer!“ Anna hofft, dass Mario auch nach seiner Entlassung den neu gewonnenen Ehrgeiz beibehalten kann und das Laufen ihm als Konstante im Leben helfen wird. „Er ist eine ganz tolle Person und er kann es schaffen! Gesamte Reportage lesen… [Running Magazin]
Interview mit der Autorin
Sie erzählten, dass Ihre Familie jugendliche Straftäter aufgenommen hat. Welche Erfahrungen haben Sie in diesem Zusammenhang gemacht?. War dies auch ein Grund den alternativen Strafvollzug im Seehaus bei Leipzig anzufragen?
Ich komme aus einer Großfamilie, habe 6 Geschwister (von denselben Eltern, muss man ja heute dazu sagen… ;-)…) und bin schon früh mit Menschen in Kontakt gekommen, die auf die eine oder andere Weise aus der Lebensbahn geworfen worden waren. Meine Eltern haben einige Jahre lang Pflegekinder, ehemalige Straftäter und Drogensüchtige bei uns aufgenommen. Damals war das alles noch weniger bürokratisch als heute. Ich wollte als Teenager Kriminalpsychologin oder Profilerin werden, weil mich diese Themen sehr faszinierten. Aber dann habe ich mich doch für Medienwissenschaften und Sport entschieden. Einige Jahre später habe ich bei der Telefonseelsorge (in Recklinghausen) angefangen, und als ich dann nach Indien zog und dort drei Jahre lebte, habe ich die Arbeit von „Prison Fellowship“ kennenlernen dürfen. Die straffälligen Eltern, die furchtbaren Zustände in den Gefängnissen, all die Not der Kinder und die Arbeit der Seelsorger hat mich sehr beeindruckt und die Eindrücke nachhaltig begleitet. Darüber habe ich in meinem Buch berichtet und in einem Blog.
Als ich dann wieder nach Deutschland zog (Leipzig) lernte ich die Arbeit vom Seehaus kennen und hörte, dass die jungen Männer einen Halbmarathon/10 km-Lauf absolvieren möchten. Ich habe mich dann gern bereit erklärt, mal ein kleines Lauftraining mit ihnen zu machen und sie etwas kennenzulernen. So kam es dann auch dazu, dass ich Mario kennenlernte, seine Geschichte hörte und entschied, darüber eine Reportage zu schreiben. Wir sind in Kontakt geblieben, ich bin seine „Patin“ geworden. Und er hat soeben seine Haftzeit beendet und startet in ein neues Leben. Ich hoffe, dass er einen guten Weg einschlägt und nicht davon abirren wird.
Welchen Eindruck hatten Sie von dieser Art des „Vollzuges“?
Der offene Vollzug ist kein Kinderspiel. Ich hatte mir ehrlich gesagt vorgestellt, dass es dort viel bequemer zugeht als im Gefängnis, aber das ist nicht der Fall. Mich hat beeindruckt, wie die jungen Männer dort mit einem straffen Tagesablauf (von 5.45 bis 22 Uhr!), knallharten Regeln an sich arbeiten müssen und gleichzeitig in einer Familie leben wo sie oft zum ersten Mal einen respektvollen, liebevollen Umgang lernen, sich aufgefangen und wertgeschätzt fühlen und die Chance kriegen, ihrem Leben eine neue Struktur und Richtung zu geben. Sie werden unterrichtet, stellen handwerklich wahnsinnig tolle Dinge auf die Beine. Sie lernen, wie Leben gelingen kann, Verantwortung zu übernehmen und Verhaltensmuster miteinander zu ändern.
Besonders spannend fand ich die „Feedback-Runde“. Von der konnte ich mir auch was abschauen: Hilfreich und konstruktiv Kritik zu äußern und anzunehmen kann im Alltag viele Situationen entschärfen… Ich glaube, dass die Straftäter in diesem offenen Vollzug einfacher wieder in ein normales Leben nach der Haftzeit führen können, ohne rückfällig zu werden. Natürlich kriegen nicht alle Insassen die Kurve. Aber ihre Chance auf ein gelingendes Leben als gesetzestreue Bürger halte ich für größer, als wenn sie im Gefängnis ihre Haftzeit abbüßen müssen und danach ins kalte Wasser geschmissen werden.
Strafvollzug ist für Sie als Sportjournalistin eigentlich kein Thema. Gibt es Rückmeldungen aus Ihrer Leserschaft zu Ihrer Reportage?
Ja allerdings – das war für mich sehr spannend. Es gab verschiedene Rückmeldungen: Leser, die diese Geschichte berührt hat und die sie ganz toll fanden und mir schrieben, dass sie selbst durch das Laufen ihre Aggressionen reduzieren konnten und verstehen, dass es für straffällige junge Männer bestimmt ein guter Weg ist, durch Ausdauersport Dampf abzulassen und seelisch aufzutanken. Für viele war es auch ganz neu, dass es einen solchen offenen Vollzug gibt. Aber es gab auch Rückmeldungen von Lesern, die sich geärgert haben, dass man sich um solche Leute kümmert und sie fördert und sie als „ehrbare Bürger“ kommen nirgends vor.
Die Fragen stellte Michael King
Ich nenne sie die Knastkinder – obwohl sie selbst gar nicht im Gefängnis sitzen, sondern ihre Väter oder Mütter. Lebenslänglich, in Indien heißt das 14 Jahre. Ich durfte mehrere Tage mit „Bruder Matthias“ von der Organisation „Prison Fellowship“ in abgelegene Dörfer im Süden Indiens reisen, um Familien von Gefangenen zu besuchen. Als ich ihre Geschichten hörte, wollte ich oft am liebsten die Kinder packen und mit ihnen weglaufen – irgendwo hin, wo es noch Hoffnung gibt.
Es hat geregnet und wir stapfen etwas ungeschickt auf einem schlammigen Pfad durch ein ärmliches Dorf auf ein kleines Haus zu. Es ist heiß, Fliegen schwirren um uns herum. Ich werde gebeten, auf einem Plastikstuhl Platz zu nehmen, eine ältere Dame sitzt auf dem Boden, zwei Frauen lehnen an der Wand. Ein Junge gibt mir freundlich und etwas schüchtern die Hand...
1 Rückmeldung
Das Projekt Seehaus e.V. ist ein hoffnungsvolles und zukunftsweisendes Vorbild für einen alternativen Strafvollzug. Allerdings frage ich mich, wie die Verantwortlichen mit Delinquenten anderer Religionen und Weltanschauungen oder Bekenntnisfreien umgehen. Es gibt das Bibellesen und Gebetszeiten. Dem ist nichts einzuwenden. Es sollte aber nicht um Mission und Bekehrung zum christlichen Glauben gehen, sondern darum, dass die jugendlichen Menschen den Weg ins Leben finden. Von daher ist eine bewusste oder unbewusste Beeinflussung fehl am Platz. Es kann nicht sein, dass Suchtverhalten mit „Jesus“ eingewechselt wird. Ich hoffe und wünsche mir, dass die Verantwortlichen des Seehaus e.V. gut damit umgehen.