Seelsorge hinter Gittern ist da, wenn sich ein Mensch im Dickicht des Lebens verfangen und Schuld auf sich geladen hat. Mit ihrem Dienst leistet die Gefängnisseelsorge einen wichtigen Beitrag – für die Gefangenen, die Justizvollzugsanstalten und für die Gesellschaft. Mario Kunz ist einer dieser „Agenten der Hoffnung“. Ein Einblick in sein Wirken an der bayerischen Justizvollzugsanstalt Ebrach.
Sie sitzen im Halbkreis um ein schlichtes Holzkreuz auf dem Boden. Darauf sind Kerzen. Angezündet von den jungen Männern, die jeden Sonntagvormittag zusammenkommen, um gemeinsam Gottesdienst zu feiern. Die leuchtenden Flammen sind ihr Gebet für sich selbst und für andere. Oft sind sie auch ein stummer Hilferuf, weil sie keine Worte finden. Überhaupt wird nur wenig gesprochen in der guten halben Stunde. Fürbittgebete, ein kurzer Bibeltext, dazu eine ebenso kurz gehaltene Deutung. Ansonsten Stille. Durchbrochen nur von einer Klangschale. Dazu Weihrauch, der den Raum erfüllt. Er soll alle Sinne ansprechen, dieser besondere Gottesdienst für besondere Menschen, ihnen Raum für Reflexion und Erfahrungen geben, die ihnen sonst im Leben meist verwehrt geblieben sind. Denn so still und friedlich der Ort auch wirken mag, ein Blick aus den Fenstern holt einen unvermittelt zurück in die andere, harte Realität. Die Fenster, sie sind vergittert. Der Blick hindurch fällt auf einen Sportplatz, umgeben von hohen grauen Mauern. Die Realität, das ist die Justizvollzugsanstalt (JVA) Ebrach. Das ehemalige Zisterzienserkloster im Landkreis Bamberg dient seit 1958 als Jugendstrafanstalt. Sie ist die größte in Bayern. Männliche Jugendstrafgefangene aus dem gesamten Freistaat im Alter von 17 bis 24 Jahren müssen hier zum Teil langjährige Haftstrafen verbüßen. Rund 160 junge Männer sind es derzeit. Die meisten von ihnen sind wegen Gewaltdelikten bis hin zu Mord verurteilt.
Wir erleben und leben den Ernstfall des Glaubens
Es sind junge Menschen, die Dinge getan haben, die für die meisten nur schwer vorstellbar sind. Doch das zählt nicht, wenn sie im Kapitelsaal zum Gottesdienst zusammenkommen. Seelsorge im wahrsten Wortsinn Für Mario Kunz ist etwas anderes wichtig: „Die begangenen Straftaten sind nur ein Ausschnitt des Lebens.“ Der Pastoralreferent ist katholischer Gefängnisseelsorger in der JVA Ebrach. Für ihn sind die jungen Männer mehr als die begangene Tat. Er nimmt sie unabhängig von Aktenlage und Straftat als Menschen wahr und an. Die Menschenwürde geht auch nicht verloren, wenn sich ein Mensch im selbst- und fremdverschuldeten Dickicht des Lebens verfangen und Schuld auf sich geladen hat. Nach diesem Leitbild handelt die Gefängnisseelsorge im Erzbistum Bamberg. In allen acht Justizvollzugsanstalten auf dessen Gebiet – in Ansbach, Bamberg, Bayreuth, Ebrach, Erlangen, Hof, Kronach und Nürnberg – leisten neun Pastoral- sowie Gemeindereferentinnen und -referenten, Domvikare und Pfarrer ihren schwierigen und mit Grenzerfahrungen verbundenen Dienst hinter Gefängnismauern. Sie arbeiten mit ökumenischer, interreligiöser und interkultureller Offenheit und sind da für alle Gefangenen, unabhängig von Religionszugehörigkeit und Kultur. Die Grundlage für ihre Arbeit ist das Grundgesetz. Artikel vier gewährleistet die uneingeschränkte Religionsausübung. Auch im Gefängnis. „Wir erleben und leben den Ernstfall des Glaubens“, unterstreicht Mario Kunz. Es ist Seelsorge im wahrsten Wortsinn. Auch für diejenigen, die nicht im Glauben verwurzelt sind. In der JVA Ebrach ist gerade einmal noch rund die Hälfte der Gefangenen christlichen Glaubens, zumindest auf dem Papier. Seinem Stellenwert unter allen Inhaftierten tut dies keinen Abbruch.
Keine frommen Heilswahrheiten
Denn der Seelsorger holt sie mit niedrigschwelligen Angeboten in ihrer Lebensrealität ab. Er geht auf sie zu. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Die Tür seines Büros, mitten im Hauptbau der JVA zwischen den Zellen, steht immer offen. Für alle. Manche kommen nur auf einen kurzen Kaffee vorbei. Nicht selten entwickelt sich daraus aber auch ein tiefgründiges Gespräch. „Dabei geht es nicht darum, ihnen mit frommen Heilswahrheiten zu kommen, sondern darum sie mit ihren Anliegen dort abzuholen, wo sie stehen“, wie der 57-jährige Pastoralreferent betont. Nach Abschluss seines Theologiestudiums in Regensburg und München und der Zeit als Pastoralassistent zur Ausbildung in der Gemeinde ist der gebürtige Oberpfälzer als Seelsorger ausschließlich hinter Gefängnismauern tätig. 26 Jahre in der JVA Nürnberg und seit 2021 nun in der JVA Ebrach. Gerade der ehrliche Dialog und die ungeschminkte Nähe zu den Menschen ist das, was Mario Kunz an seiner Arbeit so schätzt.
Kleine Insel, um sich frei zu fühlen
Zugutekommt ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen dabei die Tatsache, dass die Gespräche durch die Schweigepflicht, das Seelsorge- bzw. Beichtgeheimnis sowie das Zeugnisverweigerungsrecht für Geistliche geschützt sind. Ein Umstand, der einen Freiraum des Vertrauens ermöglicht, der gerade hinter Gittern sonst selten zu finden und doch so nötig ist. An einem Ort, wo Gewissensnot, Schulderfahrung, Druck und existenzielle Bedrängnis herrschen. Immer wieder sind es auch die Bediensteten, die diesen Raum suchen. Auch sie haben Fragen, Sorgen, Ängste und Nöte. Mal sind diese beruflicher, mal sind sie privater Natur. Gerade dieser geschützte vertrauensvolle Rahmen macht die Gefängnisseelsorge auch für Gerhard Weigand, Leiter der JVA Ebrach, so wertvoll: „Obwohl dabei Religion wohl an sich nicht immer eine zentrale Rolle spielt, existiert aufgrund der Schweigepflicht eine kleine ‚Insel‘, auf die man sich begeben kann, um sich dort in einem geschützten Rahmen ‚frei‘ zu fühlen.“ Diese Kombination aus Schutz einerseits und Freiheit andererseits könne keine andere Instanz innerhalb des Gefängnisses bieten. In persönlichen Krisen beistehen. Zuhören, wo es hakt, und erkennen, welchen Redebedarf es gibt. In einer Sprache, die die jungen Gefangenen verstehen. „Wenn man aufgeschlossen ist, erreicht man Menschen, die man in unserem Umfeld Kirche nicht erwartet und die dort von selbst auch nicht auftauchen würden“, so Mario Kunz. Dabei geht es für ihn vor allem um eines: da zu sein und Halt zu geben. Psychisch und physisch. Rosenkränze etwa sind in der JVA Ebrach sehr gefragt. Nicht in erster Linie zum Beten, sondern zum Festhalten. „Für manch einen“, sagt er, „interessiert sich sonst niemand, weder draußen noch im Gefängnis.“
Leitgedanken der Gefängnisseelsorge
Ich kann deine Ängste nicht tragen,
von deinem Schmerz dich nicht befreien,
dir die Last der Vergangenheit und deine Schuldhaftigkeit
nicht nehmen,
die Trauer und Sorge aus deinem Herzen nicht verbannen,
von deiner Einsamkeit dich nicht erlösen –
doch ich gehe gerne an deiner Seite,
reiche dir meine Hand und schenke dir mein Ohr,
damit Angst und Schmerz dich nicht überwältigen;
gebe dir meine Achtung und Wertschätzung deiner Würde.
Keine Schuld wird zu schwer sein,
als du sie vor deinem Gott nicht zeigen dürftest.
Ich bin dein Wegbegleiter, so du magst,
und die Achtung deiner Würde –
auch als schuldbeladener Mensch –
ist das Band, das uns verbindet.
Gefängnisseelsorge hat gesellschaftlichen Auftrag
Die Gefangenen begleiten, Interesse an ihnen und ihren (Lebens-)Geschichten zeigen, ihnen den Glauben als mögliche Quelle der Kraft und des Trosts anbieten, ihre Entwicklung fördern, sie zur Auseinandersetzung mit ihrer Tat ermutigen und vor allem ihnen Perspektiven aufzeigen – so verstehen die Gefängnisseelsorgerinnen und -seelsorger im Erzbistum Bamberg ihre Aufgabe. „Wir sind Agenten der Hoffnung, die an die Zukunft glauben“, unterstreicht Mario Kunz. Die Kirche hat für den Seelsorger in dieser Hinsicht viel zu bieten. Angefangen von der Strukturierung des Tages durch das Gebet bis zu Ideen, wie man einen Konflikt auch mal anders lösen kann als mit Gewalt. Letzteres unterstreicht den wichtigen gesellschaftlichen Auftrag, den die Gefängnisseelsorge hat. Sie trägt durch ihre Arbeit zur Resozialisierung der Gefangenen bei und fördert somit den sozialen Frieden. Wichtig ist Mario Kunz bei alledem: „Wir wollen Geschädigte und Opfer nicht aus dem Blick nehmen. Arbeit mit Täterinnen und Tätern bedeutet immer auch Opferschutz. Denn inhaftierte Menschen werden unweigerlich wieder in unserer Nachbarschaft leben.“ Deshalb fördern er und seine Kolleginnen und Kollegen auch den Familien- und Außenkontakt der Gefangenen und begleiten sie bei Ausgängen.
Etwas im Raum, was es sonst nicht gibt
Ebenso organisiert die Gefängnisseelsorge regelmäßig Projekte und Gruppenangebote – Ausstellungen genauso wie Gesprächsrunden, Theater, Musikveranstaltungen oder Fortbildungen für die JVA-Bediensteten. Mario Kunz hat gemeinsam mit der Katholischen Hochschulgemeinde (KHG) Würzburg einen Spieleabend initiiert. Alle zwei Wochen kommen Studierende in die JVA Ebrach und bringen ein wenig normalen Alltag ins Gefängnis. „Auch das ist Seelsorge, nur eben weiter gefasst“, unterstreicht er. „Wenn man mitten im Spiel ist, bleibt man zwar räumlich noch im Gefängnis, gedanklich ist man es aber nicht mehr.“ Ähnlich wie bei den Gottesdiensten. Wenn die jungen Männer im Kapitelsaal sitzen, in aller Stille ihre Kerzen anzünden, ihren Gedanken freien Lauf lassen, dann ist da etwas im Raum, das es sonst selten im Gefängnis gibt. Eine gute Stille. Eine emotionale Wärme. Eine Gemeinschaft. Ganz in der langen Gebetstradition des einstigen Zisterzienserklosters. Wegbegleiter, Trostspender, Kraftgeber, Überlebenshelfer, Fürsprecher und Grenzgänger – all das ist sie, die Gefängnisseelsorge.
Michael Kniess | Magazin „Leben im Erzbistum Bamberg“